Romanen ist meist die Zeit eingeschrieben, in der sie entstanden sind. Die guten Autor/-innen fangen die Atmosphäre ihrer Zeit ein, sind aufmerksam auf die Tragödien und Geschichten ihrer Zeitgenossen. Das ist auch so bei Abdulai Silas Roman „Die letzte Tragödie“, den der Leipziger Literaturverlag jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlicht hat.
Erschienen ist er erstmals 1995 auf Portugiesisch. Denn Silas Heimatland Guinea-Bissau war bis 1974 portugiesische Kolonie. Sein Roman handelt noch in der Kolonialzeit. Geschrieben hat er ihn 1984, darauf weist der abschließende Eintrag hin: Dresden, Februar 1984. Da studierte Abdulai Sila Elektrotechnik in der damaligen DDR. Später studierte er auch noch in den USA. Heute ist er Geschäftsführer eines Kommunikationsunternehmens in Guinea-Bissau, einem Land, dem man eigentlich gewünscht hätte, dass es nach dem Abzug der Portugiesen seinen Weg in eine friedliche Zukunft finden würde.
Aber immer wieder erschüttern Putsche und Machtkämpfe das Land. Das Durchschnittseinkommen liegt weit unter dem Europas. Und das Gefühl trügt wohl nicht, wenn man darin noch immer die (Nach-)Wehen des Kolonialzeitalters sieht. Denn die Besatzer sind zwar abgezogen – die Ausbeutung aber geht weiter. Sie steckt in dem schönen Wort „Globalisierung“, mit dem sich die Bewohner des reichen Nordens eine Weltwirtschaftsordnung schönreden, in der sie immer noch auf Kosten der ärmeren Länder leben.
Und die kommen auch deshalb nicht zur Ruhe, weil hinter allen Machtkämpfen auch immer ökonomische Ungleichgewichte stecken. All das, was schon in dieser Geschichte angelegt ist, die einige Jahre vor dem Ende der portugiesischen Besetzung spielt. Nur erzählt sie Sila nicht aus der Perspektive der weißen Amtsverwalter und Administratoren, auch wenn einige von ihnen darin vorkommen. Er nimmt die Perspektive dreier Menschen ein, die jeder für sich für den Umbruch stehen, der sich schon lange vor dem Ende der Kolonialzeit andeutete und der nicht nur das Ende der Besetzung einläutete, sondern auch das Aufbrechen der alten Stammesvorstellungen.
Denn indem Sila tief eintaucht in die Denkweise seiner schwarzen Protagonist/-innen, macht er auch deutlich, wie diese überlebten Vorstellungen vom richtigen Leben und Verhalten in der Dorfgemeinschaft es den Weißen in Afrika erst möglich gemacht haben, einen ganzen Kontinent zu besetzen und ihre Macht auszuüben mit Hinterlist, drakonischer Gewalt und dem Säen von Angst und Misstrauen.
Nicht ohne Grund beschäftigt sich der Régulo in Silas Geschichte die ganze Zeit mit der „Macht des Denkens“. Ein Régulo ist so etwas wie der Dorfvorsteher, gleichzeitig auch der Steuereintreiber für die Weißen, ein Bindeglied zur Macht und selber der Macht ausgeliefert. Mehrere Kapitel im Buch beschäftigen sich mit seinem zähen Kräftemessen mit dem neu eingesetzten Verwalter der Portugiesen. Ein Kräftemessen, das für ihn auch tödlich hätte enden können.
Beispiele für die blutigen Bestrafungsmaßnahmen der Besatzer gab es genug, auch wenn Sila alle erzählerischen Mittel nutzt, die Leser in den riesigen Raum des Zweifels mitzunehmen. Denn was ist eigentlich belegbar und glaubwürdig, wenn die Unterdrückten keine eigenen Medien besitzen und nur auf Hörensagen angewiesen sind? Welche Erzählung stimmt nun? Denn die Machthaber nutzen genauso ihre Möglichkeiten, das Erzählte zu denunzieren, die Geschichte auf ihre Weise zu verfälschen.
Da sind sie sich alle gleich, egal wo diese Typen herrschen: Sie wissen, wie man die Medien okkupiert oder diskreditiert und mit Lügen und Verschleierungen Macht generiert. Und das nicht nur in Diktaturen. Dass das auch in einer scheinbar funktionierenden Demokratie geht, haben wir ja gerade vier Jahre lang in den USA erlebt. Die Welt ist eben nicht – auch das so ein mächtiges Märchen – in Gut und Böse geteilt.
Und ganz am Ende seiner Geschichte stellt auch Sila all das, was er erzählt hat, noch einmal infrage nach dem Motto „Die einen sagen …“ und „Die anderen sagen …“ Und wer sächsische Regionalzeitungen kennt, weiß, wie dieses Prinzip bestens dazu geeignet ist, alle Vorgänge zu vernebeln, die Wahrheit zur Verhandlungssache zu machen und die Leser für dumm zu verkaufen. Ein Prinzip, das Corona- und Klimaleugner bestens zu nutzen wissen. Irgendeiner erzählt immer eine ganz andere Geschichte.
Aber Silas Roman ist keine Reportage. Seine Held/-innen sind in gewisser Weise auch Stellvertreter für all die lebendigen Bewohner des Landes, für die Régulos, die Dienstboten, die weisen alten Männer (die in gewisser Weise das Stammesgewissen darstellen), die Priester und die zum Widerstand Getriebenen. Und auch für den alten Aberglauben, der in diesem Fall dem Mädchen Ndani das Leben schwermacht, denn gegen die Behauptung eines solchen Zauberers, in ihr stecke ein böser Geist, kann sie nichts machen.
Das ganze Dorf nimmt es für bare Münze. Sie kann nur versuchen fortzugehen, sich bei den Weißen verdingen und hoffen, dass das Gerücht nicht auch ihr künftiges Leben zerstört.
Am Ende ist ihr Leben zerstört. Aber nicht durch den alten Bannspruch, sondern durch eben jenen weißen Chef, mit dem sich schon der Régulo angelegt hat, wohl wissend, dass man sich gegen die Übergriffe der Weißen nur durch kluge Pläne wehren kann. Andererseits hat gerade der Régulo Ndani erst ihre große Liebe ermöglicht, genauso, wie er trickreich die erste Schule im Dorf bauen ließ und den jungen Lehrer holte, in den sich dann Ndani verliebte.
Ihm hatte er auch seinen „Plan“ diktiert, seinen vorsichtig in Sätze gefassten Traum, wie man die Portugiesen loswerden könnte. Hier steckt jener andere Widerstand, den man fast immer übersieht, wenn es um das Ende des Kolonialismus geht – ein Widerstand aus Wissen, die „Macht der Gedanken“. Denn das haben ja auch die Leipziger erlebt, wie hilflos die Mächtigen sind, wenn sich die Unterdrückten nicht mehr ducken und ihnen das Vertrauen und die Untertänigkeit entziehen. Denken lernen, ist die Devise.Und dass es ausgerechnet Dona Lindas Projekt ist, das dabei hilft, gehört natürlich ebenso zu den Widersprüchlichkeiten dieser Entwicklung. Denn eigentlich sah sie die Gründung von Schulen für die Schwarzen als den richtigen Weg, die Bewohner der Kolonie endgültig zu kolonisieren, indem man ihnen den christlichen Glauben beibrachte. Also bildeten die Priester die ersten Lehrer aus in der Überzeugung, man könnte die Eingeborenen von ihren alten Glaubensvorstellungen abbringen, indem man sie die Bibel auswendig lernen ließ.
Dass das am Ende nicht genügt, die alten Traditionen zu verdrängen und das Schicksal der Menschen zu verbessern, darüber schrieben ja Joachim Oelßner und Faida Tshimwanga in ihrem Buch „Großfamilien-Bande“. Das handelt zwar einige Jahrzehnte nach Silas Geschichte und dazu noch im Kongo. Aber gerade das zeigt, wie schwer es Afrika fällt mit dieser doppelten Geschichte in die Zukunft zu kommen, sich aus den im Kolonialismus geschürten Konflikten zu lösen und gleichzeitig noch mit der überfälligen Emanzipation umzugehen, für die ja Ndani und der junge Lehrer stehen, die ihre Liebe leben, obwohl das von den alten Stammessitten so nicht vorgesehen ist.
Und dass ausgerechnet ihr Geliebter nun zum Opfer der rachsüchtigen Weißen wird, ist auch kein Zufall. Denn gerade mit diesem Selbstbewusstsein können die subalternen Machthaber nie umgehen. Auch das ist überall in der Welt gleich, auch weil eben nicht die Klugen und Sensiblen zur Macht streben, sondern eher die Gefühllosen und in ihrer Persönlichkeit Hilflosen. Für sie ist Macht immer eine Krücke und ein Surrogat. In jeder Gesellschaft.
Deswegen kommt einem Silas Geschichte auch nicht wirklich fremd vor, denn auch in unserer ganz und gar nicht so heilen Welt begegnet man diesen Typen immer wieder. Sie lieben Hierarchien und sie lieben es, Menschen zu zeigen, wer die Macht hat. Sie lieben Rache und Missgunst. Und gerade dieser eigentlich kaum greifbare Régulo ist einem gerade darin vertraut, wie er nach Wegen sucht, diese übergriffigen Portugiesen loszuwerden, ohne dass sie wieder einen Grund finden, sich mit blutiger Gewalt zu rächen.
Denn wie man sich rächt, das wissen diese Leute. Sie lassen den Lehrer nach gekauften Zeugenaussagen einfach auf der Zuchthausinsel verschwinden und schaffen Ndani jenes Leid, das sie Jahr um Jahr zum Hafen fahren lässt in der Hoffnung, den Geliebten noch einmal wiederzusehen. Am Ende löst sich Ndani selbst in den Elementen auf, wird ihre Geschichte infrage gestellt. War das nicht alles ganz anders? Gab es Ndani und den Lehrer überhaupt?
Das Ende liest sich, als würde Abdulai Sila seinen eigenen Roman und dessen Berechtigung bezweifeln. Denn wer hat eigentlich ein Recht, die Geschichte zu erzählen? Aber eigentlich ist dieses Infragestellen noch doppelbödiger, denn damit stellt Sila auch die offizielle Deutung der Ereignisse infrage. Denn den Tätern ist es ja immer recht, wenn die Geschichten im Nebel bleiben und die Menschen bezweifeln, was ihren Leidensgenossen alles angetan wurde.
Und wir leben ja auch in Deutschland gerade in einer Zeit, in der gerade mühsam die Verbrechen des deutschen Kolonialismus aufgearbeitet werden und gleichzeitig die üblichen Geschichtsdeuter tönen, das könne man doch nicht mit dem Holocaust vergleichen.
Doch. Kann man. Es sind dieselben Übergriffigkeiten der Macht, dieselben Brutalitäten an Wehrlosen. Und es ist derselbe Herren-Geist, auch wenn die Dimension des Holocaust in seiner Brutalität nicht mehr fassbar ist. Aber auch die deutschen Kolonialherren haben sich kein Deut besser benommen als die englischen, portugiesischen oder belgischen. Es ist überall diese falsche Überlegenheit von rachsüchtigen Europäern, die das Recht auf ihrer Seite glaubten, weil sie die unterdrückten Völker einfach für primitiv und rückständig erklärten.
So langsam wächst auch das Bewusstsein dafür, dass sich diese Übergriffigkeit mit dem Ende der Kolonialzeit nur verwandelt hat, hinter einem Schleier der scheinbar ökonomischen Logik versteckt, obwohl die Brutalität meist genau dieselbe ist. Weshalb die Jahreszahl 1984 auch wie ein Eichmaß ist. Denn die Geschichte selbst liest sich so nah und gegenwärtig, dass man schon im Lexikon nachschauen muss, wann denn die Portugiesen tatsächlich abgezogen sind.
Der Verlag hat das Buch in seiner Portugiesischen Reihe veröffentlicht, obwohl es eigentlich das erste Buch mit einem Autor aus Guinea-Bissau ist. Und damit eine echte Entdeckung, denn wirklich präsent sind die Literaturen Afrikas in Deutschland noch lange nicht. Afrika ist in der Beziehung noch immer weitgehend terra incognita. Obwohl – wie man bei Abdulai Sila lesen kann – uns vieles erstaunlich vertraut ist.
Bis in die Verdrängungen hinein, wie Sila im Epilog schreibt: „Einige verbringen ihre Zeit mit intellektueller Masturbation und behaupten, dass der Kolonialismus nie existiert hat. Weil wenn die geschilderten Tragödien und Morde und die Folter und das Elend und die Korruption und der Machtmissbrauch den sogenannten Kolonialismus charakterisieren, dann ist der Kolonialismus nicht vorbei. Entweder das eine oder das andere … Das muss man sich mal vorstellen!“
Eine ganz hinterlistige Behauptung, die Sila da hinschreibt, einfach so. Und mit der er auch die Erzählungen der Gegenwart infrage stellt. Welche ist nun die richtige? Oder kann es sein, dass das eine genauso stimmt wie das andere – eben weil das, was den Wesenskern des Kolonialismus ausmacht, nie verschwunden ist?
Darauf müssten auch die Wohlhabenden im Norden antworten. Wenn sie sich trauen, der eigenen Geschichte ins Gesicht zu schauen.
Abdulai Sila Die letzte Tragödie, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2021, 19,95 Euro.
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