Im Angesicht der aktuellen Weltprobleme sind die deutsch-deutschen Befindlichkeiten natรผrlich eher nur eine Fuรnote, ein winziger Nebenschauplatz mit viel Gekrรคnktheit. Aber das (teilweise) Misslingen der Deutschen Einheit erzรคhlt eben auch vom Misslingen der europรคischen Einheit. Und das wird sogar sichtbar, wenn Michael Hametner nur die zwei Felder untersucht, auf denen er journalistisch tรคtig ist: Literatur und bildende Kunst.
Die europรคische Ebene berรผhrt er nur an wenigen Stellen, an denen er fast beilรคufig bemerkt, wie sehr das vereinigte Deutschland davon profitiert hat, dass mit seinem รถstlichen Teil eine Menge Ost-Kompetenz, auch in Bezug auf den gesamten europรคischen Osten, in die Einheit kam, im politischen genauso wie im wirtschaftlichen Sinn.
Weshalb Deutschland bis heute auch fast der einzige Kommunikator ist, der รผberhaupt noch einigermaรen vermittelt zwischen den renitenten osteuropรคischen Staaten und dem Westen der EU. Und dasselbe mit Russland.
Das groรe Schweigen nach dem Streit der Neunziger
Aber wie gesagt: Das ist nur ein kleiner Aspekt, den Hametner nur erwรคhnt, der seit den frรผhen 1990er Jahren das Ressort Literatur bei MDR Hรถrfunk betreute und sich nach seinem Ausscheiden intensiver mit der ostdeutschen Kunst beschรคftigt hat. Im Mitteldeutschen Verlag hat er ja mittlerweile ein halbes Dutzend Bรผcher verรถffentlicht, in denen er sich vor allem mit markanten Leipziger Malern รผber das Kunstschaffen, die Kreativitรคt, aber auch den Kunstmarkt und die Probleme beschรคftigt, die es heute immer noch im deutsch-deutschen Kunst-Diskurs gibt.
Der eigentlich kein Diskurs ist, sondern eher ein groรes Schweigen nach dem Riesenrabatz der 1990er Jahre, als das groรe deutsche Feuilleton im Grunde die bissige Haltung von Georg Baselitz รผbernahm, der die Kunst in der ehemaligen DDR nicht nur als Staatsmalerei verdammte, sondern ostdeutschen Malern รผberhaupt die Fรคhigkeit zum Malen absprach.
Kunstschaffende in der DDR: Es gibt nicht nur schwarz und weiร
Wobei ein Georg Baselitz nicht das Problem war. In seiner Haltung kรถnnen durchaus alte Verletzungen eine Rolle spielen, stellt Hametner fest. Denn 1990 war ja nicht nur der west-ostdeutsche Dialog รผberfรคllig, der vorher 40 Jahre lang nicht stattfinden konnte, sondern auch der ostdeutsch-ostdeutsche Dialog (der genauso wenig hatte stattfinden dรผrfen). Denn die Kunst des Ostens war ja noch viel stรคrker zerrissen als die zwischen Ost und West. Und es gab sie ja tatsรคchlich, die Kรผnstler, die der alleinseligmachenden Partei die Propagandakunst anfertigten, die diese sich wรผnschte.
Es gab freilich auch die Kรผnstler, die bei aller Abhรคngigkeit von Amt und Ehren trotzdem eine eigene Kunst- und Bildsprache suchten und fanden. Dafรผr steht zum Beispiel die Leipziger Schule um Tรผbke, Heisig, Mattheuer und ihre Schรผler. Dann waren da aber auch die vielen marginalisierten Kรผnstler/-innen im Land, die die ganze Breite der Kunststile der Moderne (und Vormoderne) pflegten und deshalb nicht ins Schema der Parteioberen passten und deshalb nicht nur bei Staatspreisen, Auftrรคgen und Posten ignoriert wurden, sondern auch bei Ausstellungen und in Besprechungen.
Hunderte anregender Kรผnstler/-innen, die mit dem propagierten โsozialistischen Realismusโ nichts am Hut hatten, die aber 1990 noch einmal erlebten, was sowieso schon ihre Lebenserfahrung war: Denn da sie keine Preise und Titel hatten, waren sie im Westen erst recht nicht bekannt und wurden ignoriert โ oft bis heute.
Die Kunst und der Markt
Und nicht zu vergessen die streitbarste Gruppe: die Kรผnstler aus dem Osten, die in den Westen gegangen waren โ von Penck รผber Baselitz bis zu Grimmling. Und zu Recht geht Hametner auf die letztlich fragwรผrdige Rolle des groรen (west-)deutschen Feuilletons ein, das diesen Streit nur zu gern aufgriff und fortan als Keule benutzte. Vielleicht auch aus Unwissen und Ignoranz. Die Frage muss auch Hametner offen lassen.
Denn wenn die entsprechenden Redakteure in den groรen westdeutschen Magazinen und Sendern allesamt nur im Westen sozialisiert sind und auch nur westdeutsche Hochschulen besucht haben, kann man nicht unbedingt damit rechnen, dass sie die Kunst aus dem Osten รผberhaupt kennen. Wobei Hametner durchaus auch anmerkt, dass Kunstkritik auch blind werden kann, wenn sie seit Jahrzehnten gewohnt ist, dass eigentlich der Markt Kรผnstler โmachtโ und jene Kรผnstler doch die ausschlaggebenden sein mรผssen, die die hรถchsten Preise am Kunstmarkt erzielen.
Kรผnstlich aufgebaute Unzugรคnglichkeit
Da fehlt nicht nur Hametner der professionelle Blick dieser Wortfรผhrer auf Marktmechanismen. Und auf die nur leise diskutierte Tatsache, dass sich die westdeutsche Moderne schon kurz nach Beuys totgelaufen hatte. Sozusagen totvermarktet. Es kam nichts mehr nach, was irgendwie spannend gewesen wรคre. Anders als im Osten, an dem sich das westdeutsche Feuilleton auch deshalb so rieb, weil dort bis heute jede Menge gegenstรคndlicher Kunst geschaffen wird.
Das, was im Westen als erledigt und von vorgestern betrachtet wurde. Was Ausstellungsbesucher meist anders sehen. Denn wenn Kunstwerke erst noch einen langen Erklรคrtext brauchen, damit man รผbehaupt was damit anfangen kann, darf man das mit gutem Recht eine Barriere nennen. Eine kรผnstlich aufgebaute Unzugรคnglichkeit von Kunst.
Professionalitรคt und Offenheit sind kein Widerspruch
Davon erzรคhlt ja bekanntlich auch der Erfolg der Neuen Leipziger Schule, die eine hohe handwerkliche Professionalitรคt mit dem Willen zur Lesbarkeit verband. Und verbindet. Man sollte Kunstkritikern niemals glauben, die irgendeine Stilrichtung fรผr tot erklรคren. Das ist selten mehr als die Eitelkeit eines Mannes, der glaubt, richten zu kรถnnen wie ein Kรถnig.
Das tun etliche nach wie vor. Und haben es auch als Museumsdirektoren und Kuratoren immer wieder getan in den vergangenen Jahren. Woraus sich dann auch schon ein veritabler Kampf um die Deutungshoheit auf Wikipedia entwickeln kann. Denn als Hametner den Wikipedia-Artikel zu Achim Preiร aufrief, war dort mal wieder kein Wort zu der von ihm kuratierten Ausstellung โAufstieg und Fall der Moderneโ 1999 in Weimar zu finden.
Inzwischen findet man den Hinweis wieder samt einer Verlinkung zum โWeimarer Bilderstreitโ, der zumindest ahnen lรคsst, welche Grรคben diese Ausstellung damals aufriss. Dafรผr fehlt der Hinweis heute im Artikel zu โGauforum Weimarโ, wo diese kunstwissenschaftlich vรถllig missratene Gleichsetzung von NS-Kunst und ostdeutscher Kunst stattfand.
Es war nicht alles Staatskunst
Hametner nennt noch mehrere Ausstellungen in diesen vergangenen 30 Jahren, in denen der Spagat grรผndlich misslang, weil sich die zumeist westdeutschen Kuratoren in der Kunst Ostdeutschlands einfach nicht auskannten und immer wieder die primitiven Schablonen des westdeutschen Feuilletons รผbernahmen, die letztlich auch der Versuch einer Marktbereinigung waren, wie Hametner feststellt.
Wer alles, was im Osten entstanden war, in die Mรผlltonne โStaatskunstโ stecken kann, muss sich mit der lebendigen Kunstszene zwischen Ostsee und Erzgebirge nicht beschรคftigen, nicht mit ihrer Vielfalt und auch nicht mit den vielen Kรผnstler/-innen, die vorher schon keine Lobby hatten.
Wo ist sie, die deutsch-deutsche Kunstgeschichte?
Und das hat den Effekt, den Hametner im zweiten Teil des Buches sehr genau herausarbeitet, dass es bis heute nicht mal den Versuch gibt, die Kunstentwicklungen in beiden deutschen Teilen in einer groรen, gemeinsamen Kunstgeschichte zu vereinen und das Gemeinsame und Parallele sichtbar zu machen. Was ja auch voraussetzen wรผrde, dass man ostdeutschen Kรผnstler/-innen zugesteht, eigenstรคndig und selbstbewusst Kunst geschaffen zu haben.
Denn genau darum geht es. Und Hametner nennt es auch beim Namen: Bis heute dominiert nicht die Kunstkritik, sondern die Gesinnungskritik. Obwohl die so wertenden Autoren meistens gar nichts wissen รผber die Kรผnstler, รผber die sie urteilen.
Die Demontage ostdeutscher Literaten
Und dasselbe gilt โ so sieht es Hametner โ auch in der Literatur, wo er nach 1990 gleich mehrere Kampagnen aufzรคhlen kann, in denen bislang gefeierte und geachtete ostdeutsche Autor/-innen regelrecht desavouiert und demontiert wurden. Natรผrlich ging es da von Anfang an um Deutungshoheit. โSie klammerten sich an die Deutungshoheit รผber das literarische Erbe der DDR.
Die Feuilletonisten der Leitmedien wollten es sich um keinen Preis entgehen lassen. Das hatte einen einleuchtenden Grund. Ulrich Greiners Meinung ist vollkommen zuzustimmen: โWer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird. Der Streit um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft.โโ
Das hat Folgen bis heute. Und warum das so ist, steckt fรผr Hametner in einer Ansage, die der wirkmรคchtigste westdeutsche Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki, schon am 30. November 1989 im Literarischen Quartett gemacht hatte: โIn Deutschland hat eine Revolution stattgefunden. Und wann immer auf dieser Erde eine Revolution stattfindet, erzรคhlen die Schriftsteller gern, sie, die Schriftsteller, hรคtten dazu wesentlich beigetragen. Wie ist das, haben eigentlich in der DDR die Schriftsteller gesiegt oder versagt?โ
Breites Desinteresse fรผr ostdeutsche Autoren
Das war schon damals gequirlter Kรคse und erzรคhlte eigentlich damals auch schon davon, dass selbst ein MRR die Rolle von Literatur nicht verstanden hat. Und auch nicht die der Wirksamkeit der Bรผcher in der DDR. Denn auch dort musste man sich die hohen Auflagen erst einmal erschreiben und das Herz der Leser/-innen erobern. Die Auflagen gab es nicht geschenkt und schon gar nicht den Ruf, dass Titel von Hein, Heym oder Wolf nur โunterm Ladentischโ zu bekommen waren.
Doch die Macht, den Ruf von Autoren zu zerstรถren, hatten damals und haben heute ausschlieรlich die groรen westdeutschen Medien. Darรผber haben wir uns ja im Mรคrz sogar mit einem freundlichen Leipziger Kollegen zerstritten, der unsere Analyse seiner fรผr die Otto-Brenner-Stiftung erstellten Studie โ30 Jahre staatliche Einheit โ 30 Jahre mediale Spaltungโ fรผr vรถllig daneben hielt.
Aber Michael Hametner hat selbst beim MDR dieselben Erfahrungen gemacht wie wir mit der Leipziger Internet Zeitung: Das, was bei uns geschrieben steht oder gesendet wird, selbst beim scheinbar groรen MDR, interessiert in den groรen deutschen Leitmedien nicht. Selbst wenn wir uns bemรผhen, richtig guten ostdeutschen Autor/-innen Sichtbarkeit zu verschaffen, interessiert das nicht.
Die Revolution gab es allein in der DDR
Was wichtig und richtig ist, wird in westdeutschen Redaktionsstuben entschieden. Und dort denkt nicht mal einer drรผber nach, dass die deutsche Einheit gerade auf der Ebene von Kunst, Literatur und Medien bis heute nicht vollzogen ist. Genau dort, wo bis heute immer wieder die heftigen Schlachten ausgetragen werden und gut bezahlte Redakteure ihre Urteile fรคllen รผber einen Landesteil, den sie รผberhaupt nicht kennen und der sie auch nie interessiert hat.
Denn auch Hametner kann konstatieren: Im Osten musste sich alles รคndern, auch fรผr Autoren und Kรผnstler, im Westen nichts. Deswegen war Marcel Reich-Ranickis Behauptung auch falsch: Nein, in Deutschland hat keine Revolution stattgefunden, jedenfalls in jenem Deutschland nicht, das westdeutsche Redakteure heute nach wie vor gern als das maรstabgebende Deutschland behaupten, von dem Ostdeutschland immer noch als nicht-dazugehรถrend abgegrenzt wird.
Die Revolution hatte nur in der DDR stattgefunden. Und mรผndete eben leider in vielen Bereichen in eine neue Bevormundung, in der sich viele Ostdeutsche einfach nicht respektiert sehen. Was โ so taucht es als These am Ende des Buches auf โ auch in jene Trotzreaktion fรผhrt, die man heute gerade in der ostdeutschen Provinz mit ihren seltsamen chauvinistischen und nationalistischen Tรถnen findet.
Wenn man sich als Bรผrger 2. Klasse fรผhlt
Auch das ist ein โ sehr schrรคger โ Versuch, irgendwie doch noch seine Dazugehรถrigkeit zu behaupten, indem man sich quasi zum besonders deutschen Deutschen macht und den hellblauen Nationalisten sein Kreuzchen gibt. Irgendwo muss ja das Selbstbewusstsein herkommen, wenn man schon im sonstigen Leben immer das Gefรผhl hat, nur โBรผrger 2. Klasseโ zu sein.
Was wieder aber damit zu tun hat, dass es einen wirklich ernsthaften deutsch-deutschen Dialog nie gegeben hat. Selbst der Zustandsbericht zur deutschen Einheit wurde erst Wochen nach den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit verรถffentlicht. Warum nur, fragt Hametner. Die Antwort kรถnnte in der Zustandsbeschreibung liegen. Die Risse sind so tief wie seit 30 Jahren nicht.
Auch ZEIT im Osten ist keine Lรถsung des Problems
Wobei es gar nicht so sehr um die รถkonomischen Unterschiede geht (auch wenn darin jede Menge Brรผskierungen und Ungerechtigkeiten stecken, รผber die ebenfalls nicht diskutiert wird), sondern um das immer wieder neu aufgefrischte Gefรผhl, nicht dazuzugehรถren. Und das ist ein mediales Problem. Und zu Recht stellt Hametner fest, dass ein Projekt wie โZEIT im Ostenโ dieses Dilemma nicht lรถst.
Das ist dann auch eher wieder der Versuch, den Osten irgendwie besonders zu behรคtscheln, ohne dass das im Westen jemanden stรถrt. Der Osten hรถrt so nie auf, das Auรer-Ordentliche zu sein, das seltsame Land da hinten, in dem seltsame Menschen wohnen. Er wird nicht wirklich als selbstverstรคndlicher Teil des Ganzen gesehen.
Eines Ganzen, von dem bislang vor allem Ostdeutsche spรผren, dass es nicht ganz ist. Denn sie sind es ja, die vor verschlossenen Tรผren stehen oder die Ablehnungen bekommen, weil sie die falsche Biografie und lauter zerstรผckelte Lebenslรคufe haben. Auch das ist ein Grund dafรผr, warum 80 Prozent der Leitungsfunktionen im Osten bis heute von Westdeutschen besetzt sind.
Versรคumnisse des Einigungsprozesses: Die Zeit ist reif
Nein, es sind nicht die Ostdeutschen, die sich diese Jobs nicht zutrauen. Aber sie fliegen meist schon in der Vorauswahl aus dem Rennen: falscher Stallgeruch oder โ schlimmer โ gar keiner. Fehlende Bonuspunkte, weil das Geld fรผr Auslandspraktika oder gar Studienaufenthalte an Top-Unis in England oder den USA fehlte. Zu lange gebraucht bis zum Master oder zum Doktortitel, weil sie nebenbei jobben mussten? Pech gehabt. Lauter Minuspunkte, die auch davon erzรคhlen, dass im Osten bis heute das Geld fehlt und sich wohlhabende Eliten West immer wieder aus wohlhabenden Eliten West rekrutieren.
Was Hametner nur andeutet. Aber sein Buch macht deutlich, dass die Zeit รผberreif ist, endlich mal รผber all die Versรคumnisse der Wiedervereinigung zu reden, die die Trennung bis heute zementieren. Denn dass der Riss noch immer da ist, hat auch mit einer Verweigerung West zu tun: der Verweigerung, sich mit dem Osten รผberhaupt respektvoll beschรคftigen zu wollen. Denn dazu hรคtte man auch die alte Haltung aufgeben mรผssen, das allein der Westen der Maรstab fรผr alles ist und der Osten sich bestenfalls anpassen muss. Was eben auch heiรt: sich aufgeben sollte.
Einseitige Fixierung auf Westliches
Hametner bringt es im Fall der Kunstdebatte auf den Punkt, wenn er schreibt: โSie haben keine Bilder, sie haben kein Wissen, sie haben keinen Platz.โ
Der Westen wรคre so gesehen immer schon fertig, nichts mehr hinzuzufรผgen. Normsetzend. Und Hametner sucht vergebens nach den groรen westdeutschen Museen und Sammlungen (die Sammlung Ludwig ausgenommen), die konsequenterweise ab 1990 auch gleichwertigen Platz fรผr die ostdeutsche Kunstszene geschaffen haben.
Die groรen Museen sind vollgestopft mit den Werken der (westlichen) Moderne. Und an den Hochschulen wird augenscheinlich noch immer so abgeschottet vermittelt wie vor 1989, gibt es bis heute keinen Ansatz, die deutsche Kunstlandschaft ab 1945 als etwas Gemeinsames zu sehen, das auch gemeinsam Teil der Weltkunstentwicklung ist.
Warum die ostdeutsche Kunstlandschaft spannender sein kann
Wobei Hametner eben auch kenntnisreich darauf hinweist, dass die ostdeutsche Kunstlandschaft mรถglicherweise viel spannender und aufregender ist als die zeitgleiche westdeutsche, weil sie eben nicht dem Marktdiktat unterworfen war, sondern โnurโ einer Diktatur, die letztlich viele Kรผnstler/-innen geradezu zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit den unaushaltbaren Bedingungen zwang.
Das fasziniert bis heute in jeder Ausstellung von Kunst aus der DDR, diese unรผbersehbare Auseinandersetzung mit der Rolle des vom Fliegen trรคumenden Menschen mit einer Gesellschaft, die sichtlich zugemauert und demotiviert war. Nur der Traum war noch da, der sich oft in mythischen Gestalten wie Sisyphos und Ikarus wiederfindet. Wer durch so eine Ausstellung geht, sieht den ringenden Menschen, der um seine Selbstbehauptung in einer Welt kรคmpft, die das Individuum bevormundet und einengt.
Eine Freiheit, um die westdeutsche Kรผnstler nie kรคmpfen mussten.
Deutungshoheit in westdeutschen Redaktionsstuben
Und dasselbe Phรคnomen entdeckt Hametner auch in all den ostdeutschen Romanen, die seinerzeit nicht nur ostdeutsche Leser/-innen in ihren Bann schlugen โ von โSpur der Steineโ รผber โFranziska Linkerhandโ bis zum โWundertรคterโ. Eine โOstpoetikโ, die Hametner auch in vielen Bรผchern ostdeutscher Autor/-innen findet, die nach 1990 erschienen und das Publikum begeisterten. Und die bis heute immer wieder zeigen, wie wichtig ostdeutschen Autor/-innen die Schaffung dichter und markanter Held/-innen ist, die ihren Weg zur Selbstbehauptung suchen und ihren gรผltigen Platz in der Welt. Da ist also eine ganze Menge, was der Osten eingebracht hat und einbringt in das groรe Gemeinsame.
Nur gibt es nirgendwo einen sichtbaren Dialog รผber das Gemeinsame. Denn es ist bis heute so: Die medialen Deutungen รผber Deutschland und den Osten passieren in westdeutschen Redaktionsstuben, wo man nicht mal ansatzweise eine Vision davon hat, was das Gemeinsame eigentlich sein kรถnnte. Dazu mรผsste man nรคmlich die Tรผr รถffnen, die Augen sowieso. Und natรผrlich auch mal die Bรผcher dieser Ostdeutschen lesen und ihre Debatten als berechtigt aufgreifen.
Aber natรผrlich taucht da auch die Frage auf, die man nach 30 Jahren Ignoranz auch stellen darf: Mit wem aus dem Osten mรผsste eigentlich geredet werden, wenn nicht mal die Intellektuellen wirklich Zugang zu groรen Medien haben? Das Ergebnis ist ein riesiges Fragezeichen: โEine ostdeutsche Elite, die widersprechen kรถnnte, gibt es nicht mehr oder noch nicht wieder. Ihre Reste haben in den seltensten Fรคllen Zugang zu den Medien.โ
Der Pyrrhussieg der Feuilletons
Zu den eher regionalen ostdeutschen Medien schon eher. Aber schon im Fall MDR kann ja Hametner feststellen, dass das, was dort aufgegriffen wird, westwรคrts niemanden in den ausschlaggebenden Medien interessiert. So kann natรผrlich keine deutsch-deutsche Debatte entstehen.
Es ist ein Pyrrhussieg, den die Wortfรผhrer der groรen westdeutschen Feuilletons da in den 1990er Jahren errungen haben: Sie haben ihre alleinige Deutungshoheit, was dazugehรถrt und was nicht, behauptet. Aber damit haben sie das gemeinsame Gesprรคch fรผr mindestens 30 Jahre verhindert.
Ostdeutsche Kunst kann sich sehen lassen
Logisch, dass sich das heute als Riss bemerkbar macht, der tiefer ist als noch 1991. Bis in die Literatur und die bildende Kunst hinein. Vielleicht ist es jetzt wirklich an der Zeit, endlich darรผber zu reden. Nicht nur immer aus der Chefetage รผber diese unzufriedenen Ostdeutschen, sondern รผber das, was sie eingebracht haben und was das Gemeinsame eigentlich ist. Und den Ostdeutschen legt Hametner nahe, sich nicht mehr klein machen zu lassen, sondern stolz zu sein auf das Eigene.
Denn die ostdeutsche Kunst zwischen 1949 und 1989 kann sich genauso sehen lassen wie ein Groรteil der ostdeutschen Literatur, die immer gegen Widerstรคnde und Ignoranz anzuschreiben hatte. Und auch der Hinweis ist wichtig: Die Revolution 1989 haben allein die Ostdeutschen gemacht.
Das Feld ist erรถffnet โ nach 30 Jahren
Das ist etwas, was andere noch lange nicht fertigbringen wรผrden. Schon gar nicht Leute, die immer nur darauf beharren, allein der gรผltige Maรstab fรผr die Welt zu sein. (Was รผbrigens einen Teil unserer Welt mittlerweile zutiefst verรคrgert, diese Groรkotzigkeit, bloร weil man am richtigen Fleck geboren wurde und von Papa her schon immer reich war.)
Aber bevor wir hier emotional werden: Das Feld ist erรถffnet. Mit 30 Jahren Verspรคtung. Aber Unterlassung ist โ historisch betrachtet โ nie eine gute Ausrede gewesen.
Michael Hametner Deutsche Wechseljahre, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2021, 14 Euro.
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