Am Ende fühlt man sich selbst ein wenig, als hätte man mit Rebecca Maria Salentin gemeinsam die 2.690 Kilometer auf dem „Weg der Freundschaft“ von Eisenach bis nach Budapest gewandert, fünf Länder durchwandert, die Füße wundgelaufen, Schnee, Hagel, Gewitter, Blitz und Hitze erlebt. Und wäre doch unendlich erleichtert wieder zurück in Leipzig. Warum machen das eigentlich nicht alle? Wäre die Welt dann nicht eine bessere?
Natürlich wäre sie das. Der entscheidende Satz steht auf Seit 104. Da ist Rebecca gerade in Morgenröthe-Rauthenkranz angekommen, hat also den sächsischen Abschnitt der Tour erreicht und lernt Johann kennen, der ihr mit Riesenschritten nachgeeilt ist, um ihr ihre verlorene Regenjacke zu bringen. Er wird ihre intensivste Begegnung auf dieser beeindruckenden Wanderung, die sich mit den berühmten Pilgerwegen Westeuropas locker messen kann.Der Weg der Freundschaft wurde von osteuropäischen Wanderbegeisterten geschaffen, als der Westen und Süden Europas für die sozialistischen Wanderkollektive unerreichbar war. Und so suchten und fanden sie eine Wanderstrecke, die in riesigem Bogen durch „sozialistische Bruderstaaten“ führte – die damalige DDR, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, das Erzgebirge, die Tatra, die Beskiden.
Damals, als man nur mit Papierwanderkarte unterwegs war, garantiert schon ein Hammer. Und fast vergessen. Bei einem Urlaub in der Sächsischen Schweiz stieß Rebecca Maria Salentin erstmals auf ein Teilstück dieses EB-Wanderweges.
Die Leipziger/-innen kennen sie, weil sie es war, die den kleinen faszinierenden Kiosk auf Rädern „ZierlichManierlich“ am Richard-Wagner-Hain auf die Räder gestellt hat. Vor zwei Jahren hat sie ihn verkauft. Sie wollte dieses herrliche Projekt nur zehn Jahre betreiben.
Das ist das Schöne an „Klub Drushba“: Es ist ein sehr persönliches Buch geworden. Kein irgendwie esoterisches oder philosophisches Erlebnis Wanderung. Sie ist wirklich gewandert, 2019 wie beschlossen losgelaufen nach einer ganzen Reihe niederschmetternder Erlebnisse, die einem im Leben so passieren können, wenn man nicht aufpasst und nicht auf seine Gefühle achtet. Wohnung weg, Lebenspartner weg, was nun?
Deswegen steht der „Klub Drushba“ im Titel und nicht der Fernwanderweg. Denn der Klub Drushba, das sind ihre Freunde und Vertrauten, die sie im Chat begleiten von Ferne. Einige auch abschnittsweise auf der Strecke, selbst neugierig darauf, was dieser EB-Wanderweg eigentlich zu bieten hat. Und er hat natürlich jede Menge zu bieten. Eine ganze Menge Geschichte z. B., die in unseren Geschichtsbüchern nicht vorkommt.
Auch verlorene Kleidungsstücke, Wetterkapriolen, jede Menge Begegnungen mit Menschen, irgendwie auch mit Wildschweinen und anderen Tieren, jede Menge Höhenmeter, durchnässte Klamotten, Schnee im Mai und Dürre im Juli. Und einen Commander, der diesen fast vergessenen Fernwanderweg quasi online ehrenamtlich betreut und die Wandernden, die sich gemeldet haben, auf der Strecke begleitet, Tipps gibt und Informationen.
Was man zum Fernwanderweg EB wissen kann, findet man hier. Natürlich auch die Treffen der EB-Wanderer/-innen. Beim nächsten im August stellt Rebecca Salentin natürlich ihr Buch vor. Es ist jetzt ebnen DAS Buch zu diesem Wanderweg. Und ein zutiefst menschliches Buch, eines, das eigentlich davon erzählt, dass wir Menschen die Welt wirklich nur kennenlernen, wenn wir es zu Fuß tun, den Elementen, der Natur und den Menschen unterwegs zwangsläufig ungeschützt und offen begegnen müssen. Also ehrlich. Kommen wir also zu dem Satz, mit dem sie auch ihre unverhoffte Begegnung mit Johann erklärt, der ihr ihre verlorene Regenjacke gebracht hat.
„Ich glaube, dass wir trotz unserer Verschiedenheiten doch einen Draht zueinander finden, liegt daran, dass wir uns von Anfang an unverfälscht begegnen. (…) Ich lerne, dass respektvoller Umgang nicht dieselbe Weltanschauung braucht.“
Immerhin ist sie da schon durch einige sehr schräge Gegenden in Thüringen und Südsachsen gewandert. Und vor ihr liegen ja noch einige Länder, die man – wenn man die deutsche Nachrichtenlage so betrachtet – auch nur als schräg betrachten kann. So von oben herab. So selbstgerecht.
Obwohl es eine falsche Selbstgerechtigkeit ist, eine, die mit Verachtung herabschaut auf all die, die sich irgendwie so durchschlagen durchs Leben. Für Rebecca Maria Salentin eigentlich nichts Neues, auch wenn sie in der Eifel aufgewachsen ist. Aber wer mit einer alleinerziehenden Mutter, abwesenden Vätern und in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem Schmalhans immer wieder Küchenmeister war, der hat im Westen genau dieselben Erfahrungen gemacht wie im Osten.
Bis hin zu dem Punkt, an dem man als junger Mensch felsenfest der Überzeugung ist, es niemals so wie die Eltern zu machen und nicht in dieselben Fallen zu tappen. Was – wie auch Salentin weiß – der direkteste Weg ist, in genau dieselben Fallen zu geraten. Und genau die bekloppten Sprüche der Leute zu hören, die man erwartet hat: „Haben wir es nicht gesagt?“
Da unten, wo Menschen wirklich auf dem Zahnfleisch krauchen, da ist die Deutsche Einheit schon lange vollzogen. Das merkt nur keiner, weil es die reichen, selbstgerechten Schnösel sind, die bei uns Politik machen und Nachrichten produzieren.
Hat das jetzt etwas mit dem Buch zu tun? Natürlich. Denn die vier Monate, die Rebecca Salentin unterwegs ist auf diesem Wanderweg, für den dessen Erfinder augenscheinlich jeden irgendwie an der Strecke liegenden Berg eingebaut haben, sind eine Menge Zeit, sich zu besinnen. Das kann man sich zwar vornehmen, so wie sich die Autorin schon drei Jahre vorher vorgenommen hat, diesen Weg zu wandern, und wie sie dann – obwohl körperlich eigentlich fix und fertig – dann pünktlich losläuft, aber das heißt nicht, dass man auf dem Weg trotzdem seine Gedanken und sein Leben sortiert bekommt.
Und irgendwie passiert dennoch genau das. Aber nicht durch das Nachdenken unterwegs, sondern durch all die Begegnungen, die Salentin mit geradezu staunender Nüchternheit beschreibt. Denn nicht nur ihre Freunde und Freundinnen aus dem Daheim-Netzwerk helfen ihr. Unterwegs lernt sie nicht nur Johann und den Commander kennen, sondern auch noch Dutzende anderer Menschen, die meisten ganz selbstverständlich hilfsbereit, offen, nicht mal neugierig.
Es ist, als würde sie durch ein völlig anderes Osteuropa wandern, als es uns unsere Fernsehsender jeden Abend darbieten, eines, in dem die Menschen, die man trifft, viel vertrauter sind, als wir denken. Stolz auch dann auf ihren Wohnort, wenn die Zeichen der Abwanderung und der Entleerung unübersehbar sind. All, das, was wir nicht sehen in unserem falschen Wachstumswahn, weil wir nicht gezeigt bekommen, was dieses Denken schon gleich hinter der Grenze anrichtet mit einst bevölkerten Städten und Dörfern.
Obwohl es natürlich in Thüringen und dem Vogtland schon beginnt. Die Regionen kommen ja nicht grundlos politisch ins Rutschen. Und die Menschen verwandeln sich nicht einfach in Nazis, bloß weil im Wahlkampf die Straßen mit Plakaten rechter Parteien gepflastert sind. Gerade mit Johann lernt Rebecca ja eine Welt kennen, die scheinbar so gar nichts mit dem eher friedlichen Leipzig mit seiner Weltoffenheit zu tun hat. Aber sie merkt auch schnell, wie einsam das Leben wird, wenn sich die Dörfer im Erzgebirge entvölkern, wenn die Frauen und Kinder und gesellschaftlichen Treffpunkte verschwinden.
Wie oft habe ich das hier schon erzählt: Aber Rebecca Maria Salentin schildert das natürlich viel farbenfroher, detailreicher, lebendiger, nachdenklicher. Man merkt ganz schnell, dass sie eine erfahrene Schriftstellerin ist, dass sie schon zwei Bücher veröffentlicht hat und das Schreiben tatsächlich ihre Rettung war, als ihr Leben da in der Eifel scheinbar in der Sackgasse steckte.
Auch diese Szene erzählt sie – irgendwann unterwegs, als das Thema einfach aufploppt: Wie ihr die junge Ärztin, die sie eigentlich berät, weil ihre Umgebung ihr einredet, sie gehöre eigentlich in die Klappsmühle, die Frage stellt, ob es eigentlich etwas gibt im Leben, was sie unbedingt machen möchte.
Eigentlich die Urfrage, die sich viel zu wenige Menschen stellen, weil sie der Überzeugung sind, sie müssten sich anpassen und tun „was die da von einem verlangen“. Sie meisten Menschen leben ihr Leben nicht, sondern anderer Leute Vorstellung vom Leben.
Für Salentin war es die Rettung. Und Leipzig war der Ort, wo sie aufatmen und sich selbst finden konnte. Wenn auch noch nicht vollständig. Das merkt sie unterwegs. Manche Lasten wird man nicht los, solange man in Verhältnissen steckt, die einem den Blick auf uns selbst versperren.
Logisch, dass diese lebendige Schilderung einer Wanderung auch zu einer Lebensgeschichte wird. Und so manche nach Leipzig verschlagenen Frauen und Männer werden sich ein wenig wiedererkennen, auch wenn sie aus völlig anderen Gründen hier gestrandet sind. Und nicht alle haben sich ja so energisch auch gegen hiesige Ämter durchgesetzt, die sich partout nicht vorstellen konnten, dass da ein kleiner, besonderer Wagen-Kiosk am Richard-Wagner-Hain steht.
Aber wer dageblieben ist und sich durchgesetzt hat, weiß auch, dass man sich auf Ämter nicht verlassen darf, sondern dass man Netzwerke braucht, Freundinnen und Freunde, mit denen man durch dick und dünn gehen kann. Und die auch mitmachen, wenn eine sich auf so einen Fußmarsch macht durch eine Welt, in der es von Gefahren nur so wimmelt – manche nur im Kopf, andere durchaus real. Bis hin zu dem dramatischen Gewitter, das Rebecca ausgerechnet auf dem Gratwanderweg erwischt, wo sie nirgendwo Schutz findet, sondern nur flüchten kann.
Und die erzählt all das so plastisch, dass man zwischendurch durchaus geneigt ist, endlich mal selbst eilig unter die Dusche zu stürzen oder sich einen Bach zu suchen, in den man die geplagten Füße halten kann. Oder sich einen mitfühlenden Förster wünscht, der einem noch mitten in der Nacht drei Flaschen Wasser vorbeibringt.
Dieses Buch ist gespickt mit solchen zutiefst menschlichen Szenen, die für sich eigentlich nicht weltbewegend sind und auch nicht für die üblichen dramatischen Roman-Wendungen sorgen. Aber sie reißen den Schleier vor unseren Augen weg und zeigen, dass es die simpelsten menschlichen Gesten sind, die uns einander nahebringen. Dass wir sogar fast immer auch Hilfe finden, wenn scheinbar kein Ausweg mehr ist – die Rasthöfe schon seit Jahren verschlossen, die Quellen vertrocknet, das Zelt völlig durchnässt.
Und dennoch merkt sie nach 2.000 Kilometern bergauf, bergab in den Beinen, dass man das „Schlangennest“ im Kopf nur loswird, wenn man lernt, sich abzugrenzen, Grenzen zu setzen gegen all das Gerede, das man meist seit Kindesbeinen mit sich geschleppt hat. All die falschen Erwartungen von Verwandten und sonstigen Leuten, die nur ihre geraden Pfade und Asphaltstraßen kennen.
Unterwegs lernt sie das Vergnügen erst so richtig kennen, alle Ziele loszulassen und sich vom Wanderplan nicht mehr diktieren zu lassen, welche Wegstrecken sie bewältigen muss. Ein Höhepunkt ist die absolute Entschleunigung, als sie mit einem befreundeten Paar und ihrem Sohn gemeinsam wandert und jetzt das Kind das Tempo vorgibt – und natürlich völlig ausbremst, weil sich der Junge für alles Sehenswerte am Weg begeistert.
Und trotzdem ist es kein Wandertagebuch, auch wenn man mit Rebecca quasi jeden einzelnen Kilometer durch Wald und Feld wandert. Man merkt die ordnende Hand und wie die Autorin es schafft, die Spannung aufrechtzuerhalten. Keine Wanderspannung, die einen unterwegs natürlich immer wieder erwischt, wenn man irgendwo festhängt, die Wegweiser in die Irre führen, die verheißenen Quellen nicht mehr existieren oder Überraschungen auftauchen, die einen vollkommen fordern.
Man möchte gar nicht aufhören zu lesen, weil immer schon wieder eine neue Ungewissheit lauert. Keine große, sondern genau die, die im Leben nun einmal wirklich für Aufregung sorgen, die einen in Atem halten und manchmal ängstigen, manchmal federleicht machen. So ist man viel schneller durch das Buch, als man dachte – und hat trotzdem das Gefühl, jeden Kilometer mit der Autorin gewandert zu sein.
Ein Buch, das ganz gewiss nicht nur Leipziger/-innen oder Freunde des „Wegs der Freundschaft“ mit Begeisterung lesen werden. Sondern auch alle, die eigentlich ahnen, dass man einmal im Leben so aufbrechen muss und einfach darauf vertrauen muss, dass einen sein Körper tatsächlich da hinbringt, wo man hin will.
Und dass man eigentlich frühzeitig anfangen muss, wirklich die Menschen um sich zu versammeln, die einem guttun, mit denen man durch dick und dünn gehen kann. Also so einen Klub Drushba, der einem auch dann weiterhilft, wenn man irgendwo im nirgendwo feststeckt.
Ein doppelt Mut machendes Buch und wahrscheinlich die beste Lektüre, die man sich in diesem Sommer vornehmen kann, wenn man selbst nicht rauskommt auf irgendeinen wirklich in die Ferne führenden Pfad, auf dem man wochenlang unterwegs sein kann, endlich mal raus aus den gewohnten Schleifen.
Rebecca Maria Salentin Klub Drushb, Voland & Quist, Dresden und Berlin 2021, 20 Euro.
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