Die Leipziger Buchmesse muss ja auch in diesem Jahr ausfallen. Dafür gibt es wenigstens „Leipzig liest“ in sehr hybrider Form. Manche Lesung kann tatsächlich mit Publikum stattfinden, andere gibt es digital. Und die portugiesische Literatur steht auch im Mittelpunkt, wie das eigentlich schon für 2020 geplant gewesen war. Mit „Ein Falke in der Faust“ veröffentlicht der Leipziger Literaturverlag jetzt das zweite Buch von Maria Gabriela Llansol. Ein Tagebuch, das viel mit „Lissabonleipzig“ zu tun hat.
Logisch, dass es eine zentrale Rolle im Gastlandauftritt Portugals bei „Leipzig liest“ spielt.Den Brückenschlag „Lissabonleipzig“ hat der Leipziger Literaturverlag schon 2012 veröffentlicht. Ein Buch, das durchaus atemlos machen konnte, weil es gründlich mit so gut wie allen Regeln eines klassischen Romans brach. Mit Johann Sebastian Bach und Fernando Pessoa ließ Llansol darin zwei Persönlichkeiten begegnen, die sich natürlich im Leben nie begegnen konnten.
Zwei Jahrhunderte trennen den sächsischen Thomaskantor vom portugiesischen Dichter. Aber wer viel liest und dabei nicht nur die üblichen Pageturner konsumiert, der weiß, wie das funktioniert im Kopf. Da begegnet die Musik, die man immer wieder hört, natürlich den Gedichten, die man liest. Und nicht nur das.
Es begegnen sich auch die Komponisten und Lyriker. Erst recht, wenn man ihnen jeden Tag nahe ist. So wie die 1931 geborene Schriftstellerin Maria Gabriela Llansol in ihrem belgischen Exil. Es ist ja fast schon wieder vergessen, dass es einmal Zeiten gab, die noch gar nicht so lange zurückliegen, als auch Bürger heutiger EU-Länder in den Ländern des Nordens Asyl suchten, weil in ihren Ländern Diktatoren und Juntas herrschten.
Mit ihrem zwölf Jahre jüngeren Mann Augusto ging Llansol 1965 ins belgische Exil, damit er nicht an den damaligen Kolonialkriegen des Diktators Salazar teilnehmen musste. Die Kriege waren zwar der Auftakt vom Ende nicht nur der Kolonialmacht Portugal, sondern auch der Diktatur, die 1973 mit der Nelkenrevolution beendet wurde.
Aber Llansols Exil dauerte am Ende fast 20 Jahre. Immerhin hatte sich Augusto in Belgien eine Existenz aufgebaut. Erst die zunehmende Gebrechlichkeit von Llansols Mutter gab den Anlass, die Rückkehr nach Portugal im Jahr 1983 vorzubereiten.
„Der Falke in der Faust“ erschien dann 1985, ein „Tagebuch vom Leben und Denken“, entstanden zwischen 1979 und 1983 in den beiden letzten belgischen Wohnorten Jodoigne und Herbais, beide abgeschieden gelegen, so richtige Landorte, wo sich Fuchs und Igel Gute Nacht sagen, der Bus in die Stadt nur einmal die Woche fährt und die größte Aufregung am Ende der Streit um ein Stück Garten ist, den Llansol selbst gestaltet hat, aber eben nur gepachtet.
Schon in Jodoigne war der Abschied vom Maulbeerbaum vor dem Fenster eine kleine Tragödie, auch wenn man meint, für diese Autorin gibt es keine Tragödien. Klassische Erzählmuster verachtete sie regelrecht. Dieses Tagebuch erzählt ja geradezu, wie sie darum ringt, die alten Muster nicht nur zu durchbrechen, sondern völlig hinter sich zu lassen, in ein Schreiben hineinzukommen, das ganz aus dem Inneren geboren wird.
„Wer denkt, überlässt sich einer unendlichen Reihe von Wirklichkeiten außerhalb seiner selbst“, schreibt sie unter dem 20. Juni 1983, als sie sich wieder einmal mit der begonnenen Arbeit an „Lissabonleipzig“ beschäftigt. In diesem Fall, insbesondere dem Auflösen der Personen von Bach und Pessoa, dem Verschwinden zeitlicher und räumlicher Grenzen und der Begegnung beider in Jerusalem. Dem Jerusalem einer anderen Wirklichkeit, die aber deshalb nicht unmöglicher wird.
In ihrem Tagebuch hat sie die Anfänge von „Lissabonleipzig“ festgehalten samt dem Auftauchen von Infausta, der weiblichen Hauptgestalt in „Lissabonleipzig“. Und auch wenn das konkrete Leben immer wieder hineinleuchtet in diese Tagebuchseiten (der Umzug von Jodoigne nach Herbais, Augustos Möbelentwürfe, das Auftauchen der Katzen, die nächtlichen Flüge nach Lissabon), sind die Tagebucheinträge letztlich selbst schon Teile ihres unendlichen Schreibens an einem einzigen Buch, wie sie selbst sagte.
In ihrem Nachlass wurden noch 5.000 weitere Tagebuchseiten gefunden. Es gibt wirklich wenige Autoren und Autorinnen, die ihr Schreiben derart grundsätzlich als Leben ansahen und derart beharrlich ausloteten, was alles zu schreiben ist, wenn man sich nur dem Strom des Denkens wirklich überlässt und die anderen Wirklichkeiten erkundet, die unser Gehirn durchaus zu formen vermag.
Die meisten Menschen erleben das ja nur im Traum. Und es ist kein Zufall, dass auch immer wieder Träume in diese Tagebuchseiten finden, Träume, die Llansol nicht nach dem Freud’schen Muster analysiert, sondern ernst nimmt als weitere Wirklichkeiten.
Nur dass darin auch immer wieder all die literarischen Gestalten auftauchen, die sich aus dem Stoff entwickeln, den sie tagsüber gelesen hat. Ganz so, als ginge das große literarische Gespräch, das man ja mit wirklich herausfordernden Autor/-innen führt, wenn man liest, im Traum weiter. Nun verwandelt, nach neuen Regeln ablaufend. Es passieren ja zuweilen die seltsamsten und logischsten Dinge, wenn unser Gehirn im Traum Ordnung schafft.
Und so verschwimmen auch die Grenzen zwischen Traum, Tagebuch und Roman. Ganz so, als wäre gerade so ein gnadenlos abgelegener Ort wie Herbais genau der richtige, um diesen Zustand des Schwebens herzustellen, in dem die Gedanken wirklich schweigen und tasten können nach dem noch Ungesagten. Wobei sie auch einige Geistesverwandte benennt, die teilweise sogar in ihren Träumen auftauchen – wie Robert Musil, Virginia Woolf, Charlotte Brontë oder auch den portugiesischen Nationaldichter Luís de Camões, den sie von ganzem Herzen bedauert.
Denn Luís de Camões ergeht es in Portugal ja genauso wie Goethe in Deutschland. Er wird gefeiert und gepriesen, aber damit verschwindet der Dichter völlig hinter den Lobhudeleien, wird kaum noch gelesen und gerade seine „Lusiaden“ sind mittlerweile so von Interpretationen überfrachtet, dass der eigentliche Inhalt kaum noch wahrnehmbar ist.
Am 3. Juni rekapituliert sie das Interview mit der Journalistin Regina Louro, das ihr augenscheinlich geholfen hat, ihr eigenes Verständnis davon, was ein Text ist, genauer zu fassen. Wahrscheinlich für professionelle Autor/-innen von klassischen Romanen geradezu eine Horrorvorstellung, sich derart auf Wagnisse einzulassen: „Ich bin keine Trägerin von Wahrheit, denn die Wahrheit kann nicht übertragen werden, doch ich verspüre den Impuls, Fragen an die Wahrheit zu stellen …“
Oder wie wäre es mit: „Für jedes Wesen ist das Einssein mit sich ein anderes“?
Was heißt das fürs Sprechen und Schreiben? Ist da Verwirrung nicht der normalste Zustand der Welt? Kein leicht hingeschriebener Stoff, der hier recht tiefe Einblicke gibt in die Schreibwerkstatt der Autorin, die immer wieder mit sich selber ringt, weil sie die Gewohnheiten des Erzählens meiden will, den Fallen entgehen, die das alte Schreiben stets bereithält.
Fallen, die einen das schon tausendfach Erzählte wieder erzählen und zur Geschichte machen lassen. Aber das ist dann nicht mehr das eigene Lebensbuch, nicht mehr die Wirklichkeit, die das eigene Denken ausmacht. „Ein Falke in der Faust“ steht für diese intensive Suche nach dem Eigenen, die Entfesselung der Imagination, in der dann auch eine ganze Reihe historischer Personen ganz selbstverständlich ihren Platz finden – von Kopernikus bis Thomas Müntzer, selbst halb traumhafte Gestalten, die die Grenzen des Akzeptierten traumwandlerisch überschritten.
In einem fiktiven Interview mit Originalzitaten Llansols versucht Ilse Pollack, die gemeinsam mit Markus Sahr dieses Tagebuch übersetzt hat, dem Schreiben und Denken Llansols nahezukommen, dieser Beharrlichkeit, mit der Maria Gabriela Llansol ihr Leben als Schreiben begriff, ohne Schriftstellerin sein zu wollen. „Für mich bedeutet denken: kein Detail auslassen, keine Empfindung des eigenen Körpers.“
Das mit dem Körper, der schreibt, betont sie immer wieder, auch wenn Körperliches eigentlich nicht vorkommt in ihren Texten, die zuweilen zu Texturen werden, zu Stoff, aus dem das Denken besteht, Gewebe der Zeit, Muster der Begegnungen. Dazu braucht es wohl richtig stille Orte wie diese beiden Nester in Belgien, in denen nichts passiert, wenn man vom Blühen und Gedeihen im Garten absieht, den Gesprächen mit Augusto auf der Gartenbank, den vorbeifahrenden Landmaschinen der Bauern.
Fotos in Schwarz/Weiß ergänzen das Tagebuch und zeigen die Orte, von denen Llansol erzählt. Was sie nicht weniger unfassbar macht. Auch wenn dieses Dasein in den Texten eingewoben ist, Texte, die auch an Texte Walter Benjamins oder Boris Pasternaks erinnern, die sich ja ebenfalls mit der Frage herumschlugen: Wie kann ich das, was ich mit allen Sinnen erlebt habe, tatsächlich erzählen? Wie erfasse ich diese ganze Wirklichkeit auf einmal?
Das wird dann jedes Mal dicht, so kompakt, dass es aufhört, als Episode vorbeizuhuschen, sondern an Schwere gewinnt, etwas, was man nur erlebt, wenn man ganz und gar da ist und einen Moment in all seiner Vielschichtigkeit erfasst.
„Ein Tagebuch ist das Tuch, mit dem man die Reinigung der Jahre vornimmt, von größerer Realität als die anderen Texte …“, schreibt Llanso am 7. September 1982. Kurz nachdem sie schrieb: „Doch ich fühle mich auch zu den Tagebüchern hingezogen, zurzeit nicht von meiner eigenen Faust geschrieben, sondern als wäre ich schon weit weg und würde mir mein Leben in Fragmenten und in Gestalt eines in ein Buch konvertierten Weges vorstellen.“
Da ist für den Lärm der Welt herzlich wenig Platz. Dafür umso mehr für die Wirklichkeiten, die im Kopf entstehen. Bis zur Vorstellung auf der letzten Seite, wie das ist, wenn sie nun zurückkehrt nach Portugal. „.. dann ist es Rosário, die durch den Flur läuft, und die Klingel scheint zu läuten bei schon offener Tür.“
Maria Gabriela Llansol Ein Falke in der Faust, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2021, 19,95 Euro.
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