Jahrhundertelang galt das Buch der Bücher nicht nur als Gottes Wort, sondern auch als eine reelle Darstellung dessen, was passierte von Anbeginn der Schöpfung an. Aber womit hat man es wirklich zu tun, wenn man Abraham, Samson und David begegnet? Sind das echte historische Gestalten oder Wesen aus der Mythologie? Erstaunliches hat Alexander Rauch zu berichten.
Rauch ist Archäologe und Ethnologe. Und er hatte ganz und gar nicht vor, eine neue Sensationsgeschichte unter dem Label „Und die Bibel hat doch recht“ zu schreiben. Davon gibt es schon längst genug, Unseriöses und Seriöses. Vieles, was in den Erzählungen des Alten Testaments auftaucht, lässt sich auch archäologisch belegen. Immerhin gehört dieser Landstrich am Mittelmeer zu jenem berühmten Halbbogen der Zivilisation, in dem Jahrtausende alte Kulturen wie Ägypten, Mesopotamien, Anatolien und Persien zu finden sind.Lauter Kulturen, die oft auch kriegerisch um die Vorherrschaft im Fruchtbaren Halbmond kämpften und die das Gebiet jener Stämme, die die Königreiche Juda und Israel gründeten, immer wieder heimsuchten. Das „Land, wo Milch und Honig fließen“, war kein idyllisches Land, sondern immer Spielball der größeren Mächte. Und seit dem 19. Jahrhundert haben ganze Generationen von Bibelforschern versucht zu sortieren, was in den Büchern des Alten Testaments, die ja nun einmal komplett jüdische Geschichte erzählen, wirklich passiert ist und was wohl ins Reich der Fiktionen gehört.
Oder mit Alexander Rauch: ins Reich der Mythologie. Ein Thema, mit dem sich ja in Leipzig besonders intensiv der Arbeitskreis Vergleichende Mythologie beschäftigt, dessen Vorsitzender seit 2019 der Anglist Prof. Dr. Elmar Schenkel ist, der in der Edition Hamouda die Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet“ herausgibt.
In der Reihe erschienen schon die Buchstaben „A – Australien“, „N – Nacht“ und „V – Verfälschung“. In letzterem geht es um die Mythen des Rechtsextremismus, die Alexander Rauch am Ende seines Ausflugs in die Mythologie des Judentums auch kurz erwähnt, weil der Antisemitismus in all seinen Spielarten natürlich Grundbestandteil rechtsextremer Mythenbildung ist.
Teilweise mit bewusst falscher Auslegung von Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Wer in sich selbst keine Heimat hat, der braucht immer ein finsteres Feindbild – und wenn er es sich zusammenbasteln muss.
Eigentlich stört die Stelle bei Rauch eher, weil er im Kern etwas viel Wichtigeres erzählt, was auch in der klassischen humanistischen Bildung bislang nicht wirklich „gewusst“ wird. Denn immerhin wurden die frühesten jüdischen Überlieferungen allesamt rund 500 Jahre nach den mutmaßlichen Ereignissen aufgeschrieben, kanonisiert (wie das 800 Jahre später auch mit der christlichen Bibel geschah).
Das heißt: Zwischen den schillernden Ereignissen um Abraham, Saul, Samson und David und der Niederschrift der wahrscheinlich über Jahrhunderte oral weitergegebenen Geschichten lagen ganze Generationen, lagen unzählige historische Brüche. Übrigens eine Entwicklung, die fast genauso parallel in Griechenland stattfand, wo sich auch erst viele Jahrhunderte nach den von Homer erzählten Geschichten aus der Ilias eine Schriftkultur entwickelte.
Und genau das ist das Denkfeld im Arbeitskreis Vergleichende Mythologie: Was passiert eigentlich in so einer Zeit? Kann man überhaupt noch davon ausgehen, dass die erzählten Legenden irgendetwas mit der tatsächlichen Vergangenheit zu tun haben? Oder passiert da nicht nur ein gewaltiger Auslese- und Umwandlungsprozess, in dem sich die „Helden“ der Geschichte in Heroen, Halbgötter und Götter verwandeln und die Schicksale ganzer Völker in gut zu erzählenden großen Liedern eingedampft werden, die sich immer wieder ein bisschen verwandeln und letztlich zur mythischen „Erinnerung“ eines Volkes werden?
Deswegen vergleichen die Mitglieder des Arbeitskreises so gern die Mythen der Völker, wohl wissend, dass überall dieselben Erzähl- und Erinnerungsmechanismen am Werk sind. Und niemals entstehen Mythen abgeschottet auf einer Insel, schon gar nicht in einer Region wie dem alten Kanaan. Längst ist bestens belegt, welch starken Einfluss die Mythen Ägyptens und des Zweistromlandes auf die Bibel hatten – insbesondere auf die Genesis.
Mit Abraham begegnen wir dem legendären Stammesgründer, in dessen Namen schon der Ur-Vater steckt. Reihenweise stolpert Rauch über sprechende Namen, die immer wieder nur einmal in der alttestamentarischen Geschichte vorkommen, deutliches Zeichen dafür, dass das keine Namen realer Zeitgenossen sind, sondern Personifikationen des Mythos. Eines Mythos, in dem ein Volk nicht nur seine Geschichte quasi konstruiert, sondern auch seine Identität.
Was sogar auf die Entwicklung Jahves zutrifft, den, der ist, wer er ist. Wobei selbst seine Entwicklung die Spuren der seiner Herkunft aus einer Welt vieler (Natur-)Götter in sich trägt – bis hinein in die Erwähnung der Elohim. Mit Rauch wird einem beim Lesen immer deutlicher, wie ähnlich die Entstehung des jüdischen Monotheismus der parallelen Entwicklung in Griechenland war und wie viele dieser Ur-Mythen es gibt, die sich in beiden Kulturen frappierend ähneln.
Was natürlich Zeichen dafür ist, dass das Land der Hebräer den Griechen der Homer-Zeit ganz und gar nicht fremd war und beide Kulturen in sehr intensivem Austausch standen – auch was die Erzählung mythischer Geschichten betrifft.
In gewisser Weise hat die Jahrhundertelang geltende Heiligkeit der Bibel diesen Blick verstellt und damit auch unmöglich gemacht zu sehen, wie stark eigentlich die mythischen Teile in der Thora sind und wie sehr sich hier Gestalten tummeln, wie man sie aus den großen Mythen anderer Völker kennt. Gestalten, die bei genauerer Betrachtung aufhören, einfach nur Menschen zu sein, die sich so einzigartig benommen haben, dass man ihre Taten nicht vergessen hat.
Selbst wenn es sie gegeben haben sollte, sind sie allesamt in einem so großen Zeitraum des Immer-wieder-neu-Erzählens zu mythischen Typen geworden, die das Allzumenschliche auf eine Ebene gehoben haben, wo es schrecklich, beeindruckend, atemberaubend wird. Das trifft – wie Alexander Rauch schildert – auf die Gestalten von Kain und Abel genauso zu wie auf Samson und Delilah, David und Goliath, aber auch Moses, Elias und selbst Abraham und Sarah.
Die Geschichten bedeuten immer mehr als das, was man hört oder liest. Und oft haben wir Europäer die falschen Schlussfolgerungen im Kopf, weil die Übersetzungen viele markante Nuancen des Aramäischen oder Hebräischen einfach weglassen oder gar nicht darstellen können, weil uns auch die sprechenden Namen nichts verraten. Vieles haben die Übersetzer einfach wortwörtlich genommen und damit die mythische Dimension der Erzählung quasi nivelliert, sei es die Aussetzung des Moses auf dem Wasser oder auch die „Teilung“ des Roten Meeres.
Ganz zu schweigen vom Umgang mit den Zahlen in der Bibel, mit denen sie gespickt ist – staunenswerterweise. So sehr, dass einige jüngere Rechner meinten, aus diesen Zahlen das Alter der Welt errechnen zu können, völlig ignorierend, dass viele dieser Zahlen zutiefst symbolisch sind und oft auf viel ältere Kulte verweisen und damit auch auf Urelemente aller Mythen wie den Lauf der Jahreszeiten, die Bewegung von Sonne, Mond und Sternen, die Zahl der Tage und Mondumläufe Bezug nehmen.
Wenn man die Bücher der Bibel erst einmal mit dieser Aufmerksamkeit liest, merkt man erst, wie stark vom Mythos durchdrungen gerade die älteren Teile sind. Und wie stark gerade die Bücher der Thora davon erzählen, wie ein Volk zu sich, seinem Gott und seiner Religion findet. Und damit auch zu moralischen Maßstäben, die sich deutlich von vielen modernen Missinterpretationen des Alten Testaments unterscheiden.
Als würfe man den Juden ausgerechnet vor, dass sie es geschafft haben, die Entwicklung von diesen alten, unberechenbaren und zürnenden Natur- und Berggöttern zu einem friedlichen Gott zu erzählen, der die Menschen nicht zum Opferalter zwingt, sondern ihnen selbst in die Hand legt, ein moralisch gutes Leben zu führen.
Das ist alles nicht ganz neu, betont Alexander Rauch noch. Aber es wird trotzdem eher selten rezipiert. Es steht in mittlerweile tausenden fundierten wissenschaftlichen Arbeiten, so viele, dass man erst wieder wissenschaftlich herangehen muss, um auch nur Teile dieser Forschungsbestände erzählbar zu machen. So gesehen ist Rauchs Arbeit ein Buch, das alle Wissbegierigen einlädt, die älteren Teile der Bibel einmal mit völlig anderem Blick zu lesen und die Ur-Gewalt mythischer Erzählungen darin zu entdecken.
Und damit auch wahrzunehmen, wie diese Ur-Erzählungen einst parallel zu den großen Göttererzählungen der Griechen und Babylonier entstanden sein müssen. In einer Welt, in der es keine echten Grenzen gab, sondern Karawanenwege alle Städte des Fruchtbaren Halbmonds miteinander verbanden, überall entstehende Stadtstaaten neben lebendigen Nomadenkulturen existierten und auch in der ägyptischen Mythologie ganz ähnliche Umbrüche passierten wie in dieser Frühzeit Israels.
Kulte verschwanden, frühere Götter wurden verdrängt oder dem neuen Götterhimmel einverleibt. Und gerade in dieser Zeit verschwanden nach und nach die alten Götter, die noch reine Naturgewalten verkörperten und oft auch Menschenopfer „verlangten“, ein Prozess, der ja in der verhinderten Opferung des Isaak durch Abraham gerinnt.
Weshalb der Opfertod Jesu aus jüdischer Sicht eigentlich nicht plausibel ist, wie Rauch betont. Der natürlich auch auf das explizit jüdische Schriftgut zurückgreift. Denn allein aus der christlichen Rezeptionsgeschichte lassen sich viele Dinge in der Thora schlicht nicht entziffern. Und es geht immer wieder um das richtige Entziffern, die stimmigere Bedeutung von Namen und damit von geschilderten Szenen.
Ein Buch, das sicher auch viele, die sich zu Hause glauben im Alten Testament, auf neue Gedanken bringt – und damit neugierig macht auf richtig alte Geschichten. Erzählungen, die so alt sind, dass Rauch sich an manchen Stellen fragt, ob sich darin nicht gar uralte Erinnerungen aus der Entstehungszeit der Zivilisation erhalten haben – etwa in den Erzählungen um die sagenhaften Vögel Milham und Phönix.
Aber genau das lässt sich nicht belegen. Viel mehr macht Rauchs Buch deutlich, wie schnell historische Ereignisse sich in einen Mythos verwandeln, wenn sie nur mündlich tradiert werden. Und die Juden hatten Glück, dass sie – über die Phönizier – frühzeitig zu einem Schriftvolk wurden und damit auch die Mythen ihrer Volkwerdung aufschreiben und damit kanonisieren konnten.
So ist ihr (schriftliches) Gedächtnis rund 2.000 Jahre älter als das etwa der Nord- und Westeuropäer. Da kann man schon neidisch werden, denn was unsere Vorfahren an Elbe und Rhein vor 3.000 Jahren erzählten, das ist verschollen, gründlich und spurenlos, weil es niemand aufgeschrieben hat.
Und ob irgendetwas davon in der keltischen und germanischen Mythologie überlebt hat, ist nicht mal zu mutmaßen. Denn gerade diese kurze Spanne, in der der Mythos im Judentum zur kanonisierten Erzählung gerann, macht eigentlich deutlich, wie sehr sich solche Ur-Erzählungen schon innerhalb von 500 Jahren verändern können und Geschehenes sich in etwas Traumhaftes verwandelt, das uns durch seine symbolische Wucht beeindruckt, aber beim genaueren Hinsehen merken lässt, dass die reale Geschichte sich völlig im Mythos aufgelöst hat.
Alexander Rauch Mythos im Judentum, Edition Hamouda, Leipzig 2021, 13,95 Euro.
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