Vielleicht heißt sie ja Jina, die Kleine mit dem Eisbären auf dem Pulli. Ihren Namen verrät sie nämlich nicht, wie das bei Kindern so ist, wenn sie über die großen Abenteuer ihres Tages berichten. Auch wenn es nur so ein abenteuerlicher Tag im Kinderzimmer war, wie ihn viele Kinder im Corona-Jahr erlebt haben dürften. Obwohl die schwedische Grafikerin Pija Lindenbaum dieses Kinderbuch natürlich nicht erst im Lockdown geschrieben hat.

Es erschien schon 2019 im Piratenverlag und erzählt von etwas, was Erwachsene zwar irgendwie wahrnehmen, wenn die lieben Kleinen spielen. Aber dass sich in der gespielten Welt der Kinder die Verrücktheiten der Erwachsenenwelt gerade in ihren extremsten Varianten spiegeln, das kann man hier sehen. Und viele Eltern werden ihre kleinen Rangen wiedererkennen in Jina, Micky und Elin, die den ganzen normalen Wahnsinn unseres Arbeitslebens hier komprimiert durchspielen.Sage keiner, dass unser Leben langweilig ist. Und dass es Kinder nicht auch genauso erleben. Gleich morgens, wenn wir es alle immer so eilig haben, die Kinder aus dem Schlaf reißen, uns im Bad drängeln, der Uhr hinterherrennen und dann auch noch verzweifeln, wenn das Allerkleinste bei dieser Hektik völlig die Nerven verliert und losschreit.

Genau so geht es los in dieser Kinderwelt. Denn: Wir müssen zur Arbeit. Und Arbeit muss ja etwas ungeheuer Wichtiges sein, so, wie die Erwachsenen jeden Morgen hinrasen, völlig überdreht, weil auch nur eine Minute Zuspätkommen regelrechte Katastrophen auslösen könnte.

Und genau diesem seltsamen Verhalten hält Pija Lindenbaum den Spiegel vor. Einfach indem sie die drei Kleinen die ganze Sache in voller Dramatik spielen lässt. Eins geht ins andere über. So, wie man halt als Knirps tatsächlich erlebt, wie sich der hektische Alltag der Erwachsenen abspult. Wir haben ja eine Welt geschaffen, in der es die große Ruhe, in der die Zeit zu einer gewaltigen greifbaren Gegenwart wird, nicht mehr gibt. Stattdessen ist alles in Zeiteinheiten gehackt (Fachwort: taylorisiert), herrscht überall Hektik, werden schon die Kinder eingetaktet in Abläufe, deren Sinn nur noch begreifbar wird, wenn man annehmen muss, dass es immerfort um Leben und Tod geht.

Kaum ist das kleine rosa Baby in aller Hektik zur Ruhe gebettet worden und die kleine Schar der Unersetzlichen aus dem Haus gestürmt und im Wahnsinnstempo durch die Stadt gerast, müssen sie im Krankenhaus ran. Denn die drei haben sich schnurstracks in Ärzte verwandelt, die jetzt schnellstens Leben retten müssen. Und dabei fließt jede Menge Blut. Und die Menschlein, die sich mit offenem Mund durchblättern durch das Buch, wissen schon gar nicht mehr: Ist das nun echt? Wo sind wir da überhaupt noch? Oder sehen wir einfach, wie die ungebremste Phantasie der Kinder einfach mal das Kinderzimmer zur Welt macht und alle drei Mitspieler sind so völlig aufgegangen in ihrer Rolle, dass es nun gar nichts anderes mehr gibt außerhalb ihrer wahnsinnig aufregenden Welt, in der eins das andere jagt.

Von der großen Frage „Wohin mit dem ganzen Blut?“ bis zur nächsten drängenden Pflicht, denn es muss ja auch noch eingekauft werden und dann irgendwie wieder heimgefahren, nun mit dem Zug, obwohl keiner mehr Geld hat.

Vielleicht kein so gutes Vorlesebuch für Erwachsene mit schwachem Herzen. Denn das sind ja alles die Panik-Probleme unseres durchorganisierten Alltags, in dem es keine Minute zum Luftholen mehr gibt. Ständig klingelt der nächste Termin, ist noch dies zu besorgen und jenes zu erledigen.

Nur in Kinderwelten endet die Heimreise ohne Ticket dann auf einmal mit einer Rollerfahrt mitten durch die abgelegene Natur. Was auch nicht ohne Risiken ist, denn natürlich lauert im Wald die böse Hexe.

Spätestens da dürfte sich auch ein grauhaariger Vorleser erinnert fühlen an diese seltsamen Tage der Kindheit, als die Welt tatsächlich angefüllt war mit all diesen Märchenfiguren. Noch waren sie beinahe wirklich da. Noch wusste man ja nicht, dass die Welt, die wir erleben, tatsächlich erst in unserem Kopf entsteht. Etliche Erwachsene wissen es auch später noch nicht und benehmen sich eben leider nicht wie die Kinder, die eines ganz genau wissen: Egal, wie aufregend ihre Abenteuer sind, sie enden alle auf dem Boden im Kinderzimmer, wenn einen das ganze Aufgeregtsein so gründlich erschöpft hat, dass auch keiner mehr wieder zur Arbeit will. „Machen wir eben morgen weiter. Oder so.“

Auch so ein schönes Kindheitsgefühl: Dass es morgen immer weitergeht. Jedenfalls, wenn Micky und Elin wieder zu Besuch kommen. Das Leben ist noch unendlich, die Welt voller Rätsel. Und manchmal stören auch die Erwachsenen nicht, wenn’s im Kinderzimmer mal gerade besonders abenteuerlich zugeht.

So wie in diesem Kinderbuch, das die Welt der Kleinen einmal mehr so zeigt, wie sie ja tatsächlich ist. Nicht so, wie sie aus Erwachsenensicht sein sollte. Kindgerecht zum Beispiel, worunter große Leute ja meist jede Menge heimlich verpackter Pädagogik verstehen. Was natürlich nur Leute machen, die verlernt haben, die Welt so zu sehen, wie man sie als Kind sieht. Denn in der Kinderwelt ist alles ganz großer Ernst und ganz großes Drama. Und die Erwachsenenwelt ist darin als großer, ungefüger Rohstoff, der jeden Tag aufs Neue durchgearbeitet werden muss. So lernen ja die Kinder zu verstehen, was die Großen da jeden Tag treiben. Das Leben ist ein Spiel. Und manche bewahren sich das, und viele vergessen das und werden dann zu Getriebenen von Zeit und Pflicht und müssen.

Und verlieren den Blick für die wirklichen Abenteuer des Lebens.

Kinder brauchen nur ein bisschen Spielzeug, ein paar Kuschelschweine – und ab geht die Post im Kinderzimmer.

Aber wer nichts mehr erlebt, wenn er jeden Tag zur Arbeit muss, was hat der noch von seinem Leben? Wieder so eine kleine störrische Frage, die übrig bleibt, wenn man die drei freudig erledigt auf dem Boden liegen sieht. Jeder Tag ist ein Abenteuer. Vielleicht darf man das auch als wichtiger großer Mensch wieder lernen.

Pija Lindenbaum Wir müssen zur Arbeit, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 15 Euro.

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