Es ist schon erstaunlich, wie sich der zunehmende Unmut der jüngeren Generation am Verhalten der Älteren in Kinderbüchern niederzuschlagen beginnt. Die Zeiten, dass Kinder das Verhalten ihrer Eltern sprachlos hinnahmen, gehen vielleicht nicht vorbei. Aber die „Ohne mich!“-Geschichten mehren sich. Ältersein allein schafft keine Vorrechte mehr, wenn es nicht mit Rücksicht einhergeht.

Und so, wie Gunter Preuß gerade die Geschichte von Gretel und Hänsel neu erzählt hat und damit auch den eigentlichen Kern dieser Geschichte wieder sichtbar gemacht hat, geht auch die talentierte Helene in dieser Bilderbuchgeschichte von Moni Port (Autorin) und Philip Waechter (Illustrator) eines Tages weg, weil sie genug hat vom Gebrüll des Vaters, der sich wie ein Pascha benimmt und alle seine Launen an seiner Familie auslässt.Es wird befohlen, kommandiert, gedroht, als wäre das kleine schiefe Häuschen am blauen Fluss eine Kaserne, in der der befehlende Vater von seinen Kindern und seiner humorvollen Frau nur noch Gehorsam, Funktionieren und stillschweigende Erfüllung aller seiner Wünsche verlangt.

Fast wäre man geneigt, diese Geschichte irgendwo in den gräulichen 1950er Jahren anzusiedeln. Aber nicht erst die Corona-Zeit hat ja wieder ans Licht gebracht, wie sehr diese gewaltsame Methode der elterlichen Autorität noch immer in vielen Familien gepflegt wird, wie sich gerade Männer in die Rolle des autoritären Normensetzers flüchten, weil sie etwas anderes von ihren Eltern auch nicht gelernt haben. Und natürlich, weil ihnen die Angst im Hinterkopf steckt, was „denn die Leute sagen“ würden, wenn bei ihnen zu Hause nicht Zucht und Ordnung herrschen würden und die Rangen sich nicht zu benehmen wüssten.

Das, was Helene mit ihrem Vater erlebt, hat ja sehr viel mit der modernen Kränkung des Mannes zu tun, die ja eigentlich nichts anderes ist als die Demontage eines alten, falschen Männerbildes. Viele jüngere Männer haben das ja inzwischen begriffen, wie einengend und entmündigend diese „klassische“ Rolle des „väterlichen Oberhaupts“ auch für sie ist. Viel zu lange war sie ja auch in Gesetze gegossen, waren die Männer sogar die Vormünder ihrer Frauen.

Wahrscheinlich braucht es wirklich mehrere Generationen, um die Peinlichkeit dieses Bildes aus den Köpfen zu vertreiben, auch wenn das Bild dieses Berserkers der Familie schon seit längerem Kratzer und Flecke bekommen hat. Erst recht, seit die Psychologie auch die Schäden aufzuarbeiten begonnen hat, die diese gewaltsame Praxis der Erziehung an den Kindern anrichtet. Viele leiden ihr Leben lang darunter – und werden oft selbst wieder zu Berserkern, deren ganz persönliche Überforderung sich in (wenn auch nur verbaler) Gewalt gegen die eigenen Kinder entlädt.

Und wer das überhaupt einmal bedacht hat, der weiß auch, wie diese familiären Gewaltstrukturen sich auch in der Gesellschaft widerspiegeln – in morbiden Herrschaftsgefügen in der Wirtschaft, Abwertungsmechanismen in der Politik, ja, einer geradezu masochistischen Sehnsucht nach (Unter-)Ordnung und „Sicherheit“. Man muss nur jede Leipziger Bürgerumfrage anschauen, wie diese auch medial angeheizte Angst vor dem Kontrollverlust die Befragten dazu bringt, ausgerechnet Sicherheit und Ordnung als die größten Probleme der Stadt zu begreifen.

Was dann logischerweise immer wieder auch die Hardliner in der Politik mit ihrem toxischen Bild von männlicher Kontrolle bestärkt. Man ahnt eher, als dass man es wirklich sehen kann, wie dieses verunsicherte Männlichkeitsdenken nicht nur die Stadt, sondern unsere ganze Gesellschaft ausbremst, in Ängsten hält und logischerweise auch falsche Macht-Visionen erzeugt mit einer gehörigen Portion Autoritarismus drin.

Denn nichts anderes ist es, was Helenes Vater da mit seinem Brüllen exerziert. Wer die ihm anvertrauten Menschen mit Brüllen einzuschüchtern vermag, der erzeugt natürlich für sich das trügerische Bild, alles im Griff und unter Kontrolle zu haben, auch wenn die Angebrüllten ihm eher ausweichen und stillschweigend den Laden am Laufen halten und den Berserker möglichst freundlich zu befrieden versuchen.

Da darf man ruhig auch an das denken, was in ihrem Ego verletzte Männer in der Weltpolitik anrichten und warum sie glauben, nicht leben zu können, wenn sie nicht große Armeen mit superstarken Waffen unterhalten. Denn dann muss man ja mit den Schwächeren und Eingeschüchterten nicht respektvoll auf Augenhöhe reden. Dann kann man immer schön drohen, egal, was dabei herauskommt.

Man wäre geneigt, das kindisch zu nennen. Aber das wäre eine Beleidigung für Kinder, die diese toxischen Verhaltensweisen erst lernen im Lauf ihres Lebens: von Männern, die das Anschnauzen, Zurechtweisen und Einschüchtern für eine akzeptable Erziehungsmethode halten. Und entsprechend immer neue Generationen erziehen, die diese Art toxischer Machtausübung für akzeptabel, bürgerlich und konservativ halten. Auch so kann man das politische Spektrum aufblättern. Man sollte es auch tun, damit man wenigstens einmal sieht, dass Ideologien immer nur PR-Sprech sind für fatale psychologische Fehlentwicklungen.

Klar, daran muss Papa nicht denken, wenn er seinen Kleinen diese kleinen, treffenden Texte vorliest und die Kinder die Bilder auf sich wirken lässt. Die – wenn sie wirklich einen Vater haben, der Einfühlungsvermögen besitzt – natürlich erschrocken sein werden über diesen brüllenden Vater in der Geschichte. Kann das sein?

Sollten Kinder aus einer autoritären Familie zufällig dieses Buch in die Hand bekommen, dürften sie auf andere Weise erschrocken sein. Denn wenn man es genau nimmt, unterminiert diese kleine selbstbewusste Helene die Autorität dieses alten Vaters. Sie rebelliert nicht einmal. Sie fasst einfach eines Tages den Entschluss wegzugehen, packt ihren Koffer und verlässt Vaters Haus sofort. Endgültig. Ohne einen Versuch, da noch irgendetwas zu kitten.

Denn da gibt es nichts zu kitten. Väter, die sich so benehmen wie dieser, haben jede Vertrauensbasis zerstört. Man kann ihnen nicht mehr trauen. Und in der Regel scheitern Kinder daran, weil sie den Ausweg nie wirklich finden aus dem Widerspruch von Liebe zu den Eltern und der Angst vor diesem Brüller.

Was logischerweise zu einem demolierten Selbstvertrauen führt. Denn wenn Väter ein derart falsches Vorbild sind – was entsteht da eigentlich für ein Selbstbild im Kind? Klar. Man trifft es in der pöbelnden Öffentlichkeit allenthalben, in versagenden Innenministern und kraftmeiernden Sicherheitspolitikern.

Vielleicht wird erst jetzt so richtig sichtbar, was das alte, falsche Autoritätsdenken angerichtet hat. Vor allem in den Männern, von denen viele auch nicht begriffen haben, dass Emanzipation immer zwei Seiten hat. Und dass Mann das auch nicht allein den Frauen überlassen darf. Aber die ganze Quotendiskussion von heute zeigt ja, dass man die alten autoritären Männchen nicht ändern kann. Die Hierarchien sind auf sie und ihre Netzwerke ausgerichtet. Und nach wie vor dominieren – auch in den Medien, im TV und in den großen Kinofilmen – Bilder von falscher, „heldenhafter“ Männlichkeit.

So gesehen bleibt den Kindern eigentlich nichts anderes, als es genauso wie Helene zu machen: Dieses Vaterhaus kurz entschlossen zu verlassen und sich eine Bleibe bei freundlichen Menschen zu suchen. Und einen eigenen Weg ins Leben.

Wobei Moni Port und Philip Waechter ihre Geschichte geradezu märchenhaft ausgehen lassen, denn der Verlust der Tochter bringt diesen brüllenden Vater zur Besinnung. Er merkt, dass er etwas Unersetzliches verloren hat.

Klar. Das gibt es auch: Die Eltern, die sich spät damit versöhnen, dass ihre Kinder einen anderen Weg gegangen sind und die Autorität der Eltern aufgekündigt haben. Denn zur Autorität gehört ja in der Regel auch das Klammern. Denn wer Kinder loslassen kann, der gibt auch die Kontrolle ab. Der gesteht dem eben noch Unmündigen eine eigene, belastbare Persönlichkeit zu. Und akzeptiert auch, dass man Kinder tatsächlich nur ein kurzes Stück ins Leben begleitet – und sie dabei am besten so stark und selbstbewusst macht, wie es einem möglich ist. Das ist das Gegenteil vom Einschüchtern und zum Gehorsam-Zwingen.

Das Gegenteil von autoritärer Erziehung ist übrigens auch nicht anti-autoritäre Erziehung, sondern Respekt. Aber den vermisst man zu Recht an vielen, viel zu vielen Stellen in unserer Gesellschaft, in der grantige Ältere immerfort auf ihre Vorrechte pochen und nicht mal bereit sind, den Kindern eine unbeschädigte Zukunft zu hinterlassen.

Dabei hat Moni Port überhaupt keine langen Texte geschrieben. Im Gegenteil: In der Geschichte geht es flott hintereinander weg. Aber wenn man erst mal anfängt, darüber nachzudenken, was da zwischen Helene und ihrem Vater passiert, merkt man erst, wie weit das reicht. Und wie sehr unsere ganze Gesellschaft noch immer unter den Verhaltensweisen autoritär erzogener Männer leidet. Männer, die immer meinen, für andere reden und entscheiden zu müssen, selbst aber eigentlich nicht da sind. Jedenfalls nicht als erfahrbare Persönlichkeit.

Und wenn ich TV-Moderator wäre, würde ich diese Typen allesamt nicht einladen in meine Show. Doch wer sich diese Shows heute ansieht, sieht fast alle Sessel mit diesen Typen besetzt, die immer alles besser wissen, aber in Wirklichkeit gar nicht da sind. So wie die brüllenden Männer eigentlich nicht da sind und am Ende nur eine große Leere hinterlassen in ihren Kindern. Denn wer brüllt, redet nicht von sich. Das Gebrüll hüllt alles ein. Und verhüllt es auch vor dem Brüller. Manche nennen das Stärke. Aber da irren sie sich gewaltig. Es ist nichts als Kraftmeierei.

Stark sind die kleinen Helenes, die ihre Trompete schnappen und das laute Haus am Fluss verlassen und ihren eigenen Weg suchen ins Leben. Ohne Gebrüll.

Moni Port Ohne mich!, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 14 Euro.

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