Sogar einen Comic soll es geben zum 400. Geburtstag und das Geburtshaus von Sibylla Schwarz könnte tatsächlich zu einer Gedenkstätte für die Bürgermeistertochter werden, die mit gerade einmal 17 Jahren starb – aber ein Werk hinterließ, das gleich mal zwei Bände füllt. Der erste Band der kritischen Werkausgabe ist jetzt bei Reinecke & Voss erschienen.

Herausgegeben von Michael Gratz, Philologe und Germanist. Er hat die Texte der begabten Bürgermeistertochter sortiert und mit zahlreichen Anmerkungen versehen. Ein Anhang mit Wort- und Sacherklärungen ergänzt den ersten Band – und gilt auch gleich mit für den zweiten. Denn dieses kleine Register zeigt dem Bewohner der gebildeten Neuzeit, dass er eigentlich ziemlich ungebildet ist.

Zumindest, was die klassische griechische und römische Literatur betrifft, auf die sich deutsche Dichter/-innen einige hundert Jahre lang immer beziehen konnten, weil sie davon ausgehen konnten, dass ihre Leser/-innen dieselben humanistischen Bildungsgrundlagen hatten und ihren Homer genauso kannten wie ihren Virgil, ihren Horaz und ihren Ovid. Von der Bibel ganz zu schweigen.

Auch wenn Sibyllas Zeitgenossen sich wunderten, wie gebildet dieses Mädchen war. Denn dass selbst Töchter aus wohlhabenden Bürgerhäusern so eine grundlegende Bildung besaßen, war auch im 17. Jahrhundert die Ausnahme. Denn eine universitäre Laufbahn oder auch nur eine vergleichbare Stellung im Leben war für sie nicht vorgesehen. Auch die Tochter des Greifswalder Bürgermeisters Christian Schwarz hatte bestenfalls eine standesgemäße Heirat in Aussicht, bei der sie von Glück reden konnte, wenn ihr Ehemann ihr intellektuell das Wasser reichen konnte.

Denn natürlich wären auch alle Mühen ihres Lehrers Samuel Gerlach, der ihre Gedichte nach ihrem Tod publizierte, heute völlig unbekannt, wenn er bei diesem Mädchen nicht auf eine besondere Begabung gestoßen wäre – vielleicht auch ein ganz besonderes Selbstbewusstsein. Denn ohne das war es auch im frühen 17. Jahrhundert kaum möglich, dass sich so ein wissbegieriges Mädchen eine richtige Bibliothek zulegte. Ihren Vater erwähnt sie zwar in den hier versammelten Texten nicht. Aber wer sonst soll sie bei der Entfaltung ihrer Wissbegier derart unterstützt haben?

Und Sibylla Schwarz kannte ihre Klassiker. Souverän nutzt sie nicht nur die antike Götter-und-Nymphen-Personage, um ihre Gedichte zu bevölkern, sie kennt auch die klassischen Versmaße und beherrscht sie geradezu spielend. Auch wenn sie da und dort ein bisschen trickst, um im Versmaß zu bleiben. Aber das ist eher eine Qualität, die ihre Texte lebendiger macht und damit selbst im Kanon der barocken deutschen Lyrik zu etwas Besonderem.

Denn manch berühmter Perückenträger aus dieser Zeit wirkt selbst noch in Texten über Tod, Trauer und Krieg höchst steif und perückig. Man merkt, wie sehr sich diese hochgelehrten Herren strengstens bemühten, nicht nur die Versform zu wahren, sondern auch die äußere Form. Wozu ja auch die Rückgriffe auf die mythischen Gestalten der griechischen Antike dienten: Man sprach die Dinge, die einen betroffen machten, nicht direkt an, sondern ließ quasi die tragischen Helden der Mythologie stellvertretend alles Unheil durchleiden und durchkämpfen.

Da braucht es dann meist ein Register, um die Rolle dieser Figuren zu entschlüsseln. Einerseits. Andererseits zeigt es natürlich, was Sibylla da alles in ihrem Bücherschrank stehen hatte, stets griffbereit, emsig studiert. Natürlich neben dem „Buch von der Deutschen Poeterey“ von Martin Opitz, den sie immer wieder erwähnt – auch als großes, leuchtendes Beispiel für die Lyrik ihrer Zeit. Opitz starb gerade einmal ein Jahr nach Sibylla Schwarz – an der Pest. Sibylla starb an der Ruhr. Beides direkte Folgen jenes irrsinnigen Krieges, dessen Anfang und Ende Sibylla Schwarz nicht einmal erlebte.

Obwohl sie, als sie um 1633 herum begann, ihre ersten ausgefeilten Gedichte zu schreiben, durchaus noch hoffen konnte, dass Greifswald von den Verheerungen des Krieges verschont werden würde, den erst spätere Generationen den Dreißigjährigen würden nennen können.

Zur Tragik gehört auch, dass sie just am Tag der Hochzeit ihrer Schwester Emerentia starb. Dafür hatte sie sogar extra noch ein Hochzeitgedicht geschrieben, vielleicht wirklich der letzte Text aus ihrer Feder. Ihre Sterbe- und Abschiedslieder, die Michael Gratz in einer eigenen Rubrik Kirchenlieder gesammelt hat, erzählen davon, dass der Tod im Denken des Mädchens immer präsent war. So, wie es wohl allen Bewohnern dieser wüsten Zeit ging.

Als sie ihre Mutter verlor, war sie gerade einmal neun Jahre alt. Sie erlebte, wie Familienmitglieder und gute Bekannte in jungen Jahren starben, wie sie ihre Kinder verloren. Dafür schrieb sie immer wieder hochempathische Trosttexte, genauso, wie sie zu Geburtstagen und Hochzeiten mit Gedichten gratulierte, die problemlos bestehen können neben dem Besten, was die deutsche Barocklyrik hervorgebracht hat.

Ihren „Gesang wider den Neidt“ wertet auch Gratz als eine sehr frühe Positionierung zur Emanzipation der Frau. Nimmt man an, dass sie darin wirklich kritische Stimmen aus ihrem Umfeld reflektiert, ist der Text tatsächlich so etwas wie ein selbstbewusster Protest gegen eine philiströse Umwelt, die nicht bereit ist, Frauen eine andere Rolle zuzudenken als die der Mutter und Hausfrau.

Gut möglich, dass diese Sibylla Schwarz in einem späteren Leben eine ganz ähnliche Rolle gespielt hätte wie 100 Jahre später eine Luise Adelgunde Victorie Gottsched in Leipzig. Was einen eigentlich nur noch mehr erschüttert, weil es zeigt, wie elend lang der Weg war für kluge Frauen, bis sie in unserer Gesellschaft mehr sein durften als ein braves Heimchen am Herd.

Wenn denn Sibylla überhaupt je geheiratet hätte. Denn ihre Sonette und Lieder preisen zwar in immer neuer Gestalt die Liebe und das Lieben. Aber im Zentrum ihrer Begeisterung steht eigentlich eine Jugendfreundin, der sie mehrere schwärmerische Texte widmet. Was auch einfach bedeuten kann, dass sich hier zwei aufgeweckte Seelen gefunden hatten, die auch die Liebe zur Literatur teilten.

Man überlegt beim Lesen der Texte schon, wie viel davon Reflektion auf das Selbsterlebte ist und wie vieles ein begeisterte Spiel mit den Konventionen dieser streng rhythmisierten Barockdichtung, in der es durchaus üblich war, dass die Dichter gegeneinander in regelrechte Wettstreite eintraten und versuchten, sich mit kniffligsten Proben ihrer Kunst zu überbieten.

Was nicht ausschließt, dass die meisten dieser Texte dennoch nachdenkliche Reflexionen über das Leben und alle seine Gefährdungen sind. Und zwar nicht als Hochseilartistik. Die besten Texte dieser Zeit gewinnen ihre Wucht ja daraus, dass in ihnen echte Trauer, echtes Wissen um Vergänglichkeit, die tatsächliche Nähe des Todes präsent sind.

Dagegen ist das, was wir heute mit der Corona-Pandemie erleben, schon deutlich entschärft. Ganz zu schweigen davon, wie schnell selbst reiche Bürgerfamilien in Greifswald den Hunger kennenlernten, als die Auswirkungen des Krieges ab 1627 auch Pommern erreichten. Zuerst kamen die Truppen Wallensteins, dann die Schweden. Und 1637/1638 besetzten die schwedischen Truppen das Vorwerk Fretow, in dem Sibylla mit ihren Freundinnen so viele erholsame Sommer verbracht hatte, nicht nur, sie plünderten und brannten es komplett nieder.

Worauf Sibylla dann – nach den euphorischen Erinnerungstexten auf die Fretow-Aufenthalte in den Vorjahren – nun ein richtiges Trauerspiel schreibt und bildhaft schildert, wie die Furie des Krieges (natürlich in der Gestalt von Mars) über das imaginierte Schäferparadies hereinbrach.

Da dient der Rückgriff auf die Mythologie auch als Schutzschild, um die Trauer zu bewältigen. Und wohl auch die Angst, denn auch Greifswald ist bald kein sicherer Ort mehr. Und ganz offensichtlich konnten es einige ihrer Mitmenschen nicht akzeptieren, dass sie da in ihrer eigenen Kammer saß, las und Gedichte schrieb.

Und das nicht nur heimlich. „Wie kann das Mädchen nur! Sollte es nicht …“ Es ist, als hätten diese missgünstigen Stimmen bis heute überlebt. „Drüm laß nur ab mit deinen Rencken / Mein zartes Alter baß zu krencken / Vermeynstu / daß nicht recht getroffen / Daß auch dem weiblichen Geschlecht / der Pindus allzeit frey steht offen …“ Pindus ist dabei eines jener sagenumwobenen Gebirge Griechenlands, in denen Dichter so gern schweiften.

„Wie kann das Mädchen nur!“ Sie ist zwar gekränkt, lässt sich aber nicht einschüchtern und schreibt dieses Gedicht wider die Neider. Die es bis heute gibt. Und man kann wohl zu Recht annehmen, dass Sibylla im Lauf der wenigen Jahre, in denen sie schrieb, immer mehr hineinwuchs in die Rolle der Dichterin, die sie sich durch die einengenden Normen der Zeit nicht nehmen lassen wollte.

Und es war ganz bestimmt mehrfach mutig, die Gedichte dann sogar für den Druck vorzusehen, denn dafür sandte sie sie ja an ihren Lehrer Samuel Gerlach, der sie dann als Buch tatsächlich lange nach ihrem Tod veröffentlichte – sogar erst nach dem Kriegsende, 1650. Erst da wurde die „pommersche Sappho“ in weiteren Kreisen bekannt und berühmt, geriet wieder in Vergessenheit, weil auch das 18. Jahrhundert sich schwertat mit selbstbewussten schreibenden Frauen, wurde dann wiederentdeckt.

Und mit der zweibändigen Werkausgabe bekommt sie nun zu ihrem 400. Geburtstag auch eine kritische Werkausgabe, reich gespickt mit Fußnoten, die den Leser/-innen Fingerzeige geben zur Entstehung der Texte und zu den strengen Formen, die Sibylla Schwarz bewusst bediente, weil sie sich als Teil jener literarischen Welt ganz selbstverständlich begriff, deren berühmtester Vertreter bis heute Martin Opitz ist.

Hinter aller Formenstrenge wird aber genau das spürbar, was die Lyrik dieser Zeit bis heute so bewegend macht – die tiefe Betroffenheit der Schreibenden von den Verwüstungen ihrer Welt. Und das gefasst in tiefes Gottvertrauen, das selbst im Angesicht des Todes noch von Zuversicht erzählt. Und Zuversicht geben will.

Etwas, was selbst über die Jahrhunderte berührt in einer Zeit, in der sich die Menschen kaum mehr bewusst sind, wie sicher sie tatsächlich leben. Nur ihre Zuversicht verweht schon beim Aufstehen in der Frühe, als hätten wir mit unserem Wohlstand vergessen, wie sehr alles Dasein ein Geschenk ist. Eines, für das manchmal die Worte fehlen und die Bilder. Da braucht man schon so ein bisschen Talent, wie es dieses Mädchen aus Greifswald hatte, die mit der hilflosen Rolle der heiratsfähigen Tochter wohl eher nichts anfangen konnte und sich eher als Gleiche unter Gleichen im deutschen Dichterkreis sah.

Dort, wo man mit Augenzwinkern auf das Treiben der Menschen herabschauen konnte und herrliche Formeln zur Verfügung hatte, um Trost und Rat zu spenden. Gern auch als Einwickelgedicht um kleine Gaben zu Hochzeit und Geburtstag. Heimlich gespannt darauf, wie die Verse bei den Empfänger/-innen ankommen würden. Gleich – oder auch erst 400 Jahre später.

Sibylla Schwarz; Michael Gratz Sibylla Schwarz, Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe, Reinecke & Voß, Leipzig 2021, 20 Euro.

Wunder ihrer Zeit: Sibylla Schwarz bekommt zum 400. Geburtstag eine zweibändige Gesamtausgabe

Wunder ihrer Zeit: Sibylla Schwarz bekommt zum 400. Geburtstag eine zweibändige Gesamtausgabe

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