Eigentlich ist Schleußig der unbekannteste aller Leipziger Ortsteile. Man fährt meistens nur durch oder spaziert am Rand durch die Nonne, vielleicht schippert man auch in der Schute über die Weiße Elster. Aber so richtig greifbar wird der Ortsteil nicht. Er hat kein altes Rathaus, keinen Marktplatz, kein Zentrum. Und dennoch wird es richtig spannend, wenn sich eine Handvoll geübter Autoren mal richtig hineinkniet in die Verschlagwortung von A wie Agricola bis Z wie Zweirad-Woj.

Eigentlich war auch dieses Ortsteillexikon wie schon das zur „Südvorstadt“ und das zu „Plagwitz“ als Fleißarbeit eines unermüdlichen Stadterkundlers gedacht und begonnen. Doch Horst Riedel, der sich 2017 an die Arbeit machte, verstarb 2018. Was ja kein frustrierender Tod ist. So mit 84 mitten aus dem tatkräftigen Schaffen gerissen zu werden, das ist eigentlich gar kein so schlechtes Ziel für ein erfülltes Leben. Erst recht, wenn man mit Pro Leipzig immer auch ein ebenso emsiges Kollektiv um sich weiß, wo es immer jemanden gibt, der das Begonnene fortsetzt.

In diesem Fall waren es gleich mehrere Kenner ihrer Stadt, die weitermachten und die von Horst Riedel erarbeiteten Beiträge für das ganz spezielle Lexikon für den Ortsteil auf der Insel um ihre Forschungsergebnisse ergänzten, was das „Schleußig“-Lexikon eigentlich noch viel dichter gemacht hat als die eh schon ambitioniert geschriebenen Bände zu den anderen fünf Ortsteilen, die seit 2014 bei Pro Leipzig erschienen sind.

Und natürlich erfährt man, warum Schleußig kein Zentrum hat und auch keinen alten Ortskern mehr. Warum es eigentlich auch nie ein Dorf war, sondern nur ein Vorwerk (so wie das Brandvorwerk und das Pfaffendorf) und erst durch die gewaltigen Erschließungsarbeiten zur Zeit von Carl Heine und Bernhard Hüffer zu einem bewohnbaren Stadtquartier mit Straßen und Kanalisation und Gleisanschluss wurde.

An den beiden Unternehmern kommt man nicht vorbei, wenn man verstehen will, wie aus einer eigentlich immer von Hochwasser bedrohten Auenlandschaft einer der beliebtesten Leipziger Ortsteile werden konnte. Man erfährt die Geschichte des Vorwerks, das einst auch den Nonnen des Georgenklosters gehörte, genauso wie der benachbarte Wald, der noch heute an die Nonnen erinnert.

Man erfährt die Geschichte der Flussregulierungen, bei denen auch die Rödel verschwand, die einst die Insel auf der Ostseite umfloss. Und das ist noch gar nicht lange her, nicht einmal 100 Jahre – und doch muss man dazu schon tief in die Archive tauchen, um überhaupt noch einen Eindruck zu bekommen von dieser verschwundenen Flusslandschaft.

Und genauso geht es einem mit der einst von Carl Heine projektierten Landschaft der Gleisanschlüsse, die überhaupt erst einmal die Grundbedingung dafür waren, dass sich rund um die Industriestraße so viele große Industriebetriebe ansiedeln konnten, von denen sich die meisten heute in Loftwohnungen verwandelt haben. Die mächtigen Klinkerbauten halten die Erinnerung an den Beginn der Neuzeit in Schleußig weiter wach.

Und selbst der berühmte Huckel in der Mitte der Könneritzstraße erzählt von dieser Geschichte, auch wenn die Verbindungsbahn Connewitz-Plagwitz ebenso längst verschwunden ist. Nur der Damm, auf dem sie fuhr, ist noch zu sehen. Selbst für eingeborene Schleußiger enthält der Band eine Fülle von Wissen, die es so in keiner anderen Publikation gibt – über berühmte Unternehmen auf der Insel und heute dort tätige Unternehmer, über das alte Kino und die Geschichte der elf Brücken, mit denen die Insel nach Osten und Westen verbunden ist.

Die oft gar nicht so heißen, wie sie der Volksmund nennt. Und zwei sind zwar noch da, führen aber über kein Gewässer mehr. Man darf durchaus überrascht sein, wie viele markante Gebäude es gibt auf der Insel, die ihrerseits eigene Geschichten erzählen – vom alten Gutshaus und der unverwechselbaren Bethanienkirche über Heines Villa bis zum Bootshaus Klingerweg.

Man erlebt große Sportgeschichte – denn beim LSC waren Heinrich Schomburgk und Luz Long aktiv. Und man staunt, wie viele Künstler es auf die Insel zog – Dirigenten, Schriftsteller und vor allem Maler/-innen und Grafiker/-innen. Elisabeth Voigt hat ja sogar eine Gedenktafel bekommen.

Es lohnt sich, hier spazieren zu gehen und die Schilder an den Häusern zu lesen. Immerhin sind hier mit dem Passage Verlag und dem Leipziger Literatur Verlag auch zwei prägende Leipziger Verlage der Gegenwart zu Hause. Ernst Bloch lebte hier in Schleußig Süd, dem „Villenviertel“, bis der von der Universität vergraulte Philosoph dann doch lieber im Westen blieb.

Nur einen habe ich vermisst. Der wohnte vor 90 Jahren in der Könneritzstraße 39: Paul Edner. War der wichtig? Ich denke: Mindestens so wichtig wie die vielen Ärzte, die in den Band gefunden haben. Er schrieb damals seine Gerichts-Kolumnen für die Neue Leipziger Zeitung, aus denen der Lehmstedt Verlag 2010 das Bändchen „Erloom Se ma giedichst, Herr Amdsrichder!“ machte. Kolumnen, die aus den Delinquenten vorm Amtsgericht einmal keine finsteren Scheusale machten (wie das in unseren heutigen Boulevard-Medien so üblich ist), sondern richtige Menschen mit all ihren Sorgen, Kümmernissen und Unbeherrschtheiten. Auch solche liebevoll geschriebenen Zeitungskolumnen können Medizin sein. Auch die Leser/-innen haben ein Recht darauf, getröstet und verstanden zu werden.

Ein vielleicht nicht ganz unwichtiger Abschweif. Denn wie findet man eigentlich die wirklich wichtigen Personen in so einem gutbürgerlichen Wohnquartier, in dem manche Straße genauso prächtig ist wie die im Waldstraßenviertel? Manchmal verbringen Berühmte ja nur die Kindheit an so einem Ort – so wie Blinky Palermo. Oder werden nur nächtens per Boot durchtransportiert wie Theodor Körner.

Aber je mehr man sich einliest in die rund 230 Artikel, umso stärker wird das Gefühl: Eigentlich kann man sich gar nicht genug erinnern. So vieles ist wichtig. Die Erinnerung an Hochwasser genauso wie an die einstige Dorfstraße, die man in der heutigen Rödelstraße einfach nicht mehr erkennen kann. Oder an die einst beliebten Ausfluggaststätten Elstertal und Restaurant zum Park, an Unternehmer, Architekten und die O-Busse, die bis in die 1970er Jahre über die Insel fuhren.

Und natürlich auch an die Verfolgten in der Nazi-Zeit – jüdische Nachbarn etwa oder den Künstler Alfred Frank. Auf einmal belebt sich das in den letzten Jahren so aufwendig sanierte Quartier, bekommt eine Seele und füllt sich mit Menschen, die hier einst lebten und einfach taten, was in ihren Augen wichtig schien. Sie gingen zum Bäcker Klepzig im Nachbarhaus, schickten ihre Kinder in die 48. Volksschule oder sprangen im Sommer zur Abkühlung in die Fluten der Weißen Elster im Flussbad am Limburger Steg.

Erst diese kompakte Zusammenstellung zeigt, wie viel Leben und Geschichte in so einem Stadtquartier steckt, in das man am liebsten fährt, wenn die Restaurants ihre Freisitze am Fluss öffnen. Dieses neue Ortsteillexikon lädt regelrecht ein dazu, all das zu entdecken, was man sonst einfach übersieht. Und um dann bei einem leckeren Eis oder beim kühlen Bier in der Bauhütte darüber nachzudenken, ob man jetzt lieber zum Carl-Heine-Denkmal weiterspaziert, zum Teilungswehr oder in die Nonne auf die alte Rennpiste des Stadtparkrennens um das Scheibenholz von 1950. Auch diese Geschichte findet man in diesem handlichen Lexikon.

Jetzt braucht Pro Leipzig nur noch 50 Jahre, um auch den verbleibenden Leipziger Ortsteilen noch ein solch profundes Nachschlagewerk zu verschaffen.

Schleußig. Ein Leipziger Stadtteillexikon, Pro Leipzig, Leipzig 2020, 19 Euro.

Stadtteillexikon Schönefeld: Leben, Bauen und Baden diesseits und jenseits der Brandenburger Brücke

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Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit

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