Die eine sagte „Wir schaffen das“. Andere malten den Untergang des Abendlandes an die Wand. Und dann gab es noch die vielen, vielen anderen, die nicht meckerten und wehklagten, sondern die Ärmel hochkrempelten und darangingen, ein Wunder zu vollbringen. 2015 startete das größte Integrationsexperiment in deutschen Schulen. Und auch wenn Anant Agarwalas Analyse ein durchwachsenes Ergebnis zeigt, attestiert er deutschen Lehrerinnen und Lehrern eine unglaubliche Leistung.

Anant Agarwala ist ein seltenes Exemplar unter Journalist/-innen in Deutschland: ein Bildungsjournalist. Früher hat er mal fest für die „Zeit“ gearbeitet, heute arbeitet er als freier Journalist, lebt meist in Paris, hat also eine doppelt unabhängige Sicht auf ein Thema, das in deutschen Medien meist sehr stiefmütterlich behandelt wird, von der Politik aber auch. Trotz PISA, muss man sagen. Oder genauer: trotz PISA-Schock.

Dieser Schock des Jahres 2001 hallt in Bildungsdebatten bis heute nach, denn die damals von deutschen Schüler/-innen erreichten Testergebnisse zeigten ein Land, das seine Bildungsqualität sträflichst vernachlässigt hatte und im Vergleich zu anderen Industrienationen den Anschluss zu verlieren drohte.

Das hatte auch teilweise mit dem Thema zu tun, das 2015/2016 wieder hochaktuell wurde: der massiven Auslese im dreigliedrigen Schulsystem und der miserablen Integration von Kindern aus sogenannten bildungsfernen Familien. Wozu in Deutschland eben meist auch Kinder aus Einwandererfamilien gehören – und zwar auch noch in der zweiten und dritten Generation.

Später in seinem Buch kommt Agarwala auch auf die deutsche Bürokratie zu sprechen, die Integration und Bildung oft massiv behindert. Aber er muss nur einen Satz aus dem Schreiben einer Ausländerbehörde zitieren, damit man all diese rückgratlosen Innenminister vor Augen hat, die eigentlich seit 30 Jahren immer wieder eingeknickt sind, wenn unsere hausgemachten Rassisten zu lärmen anfangen und Abschiebungen und dicht gemachte Grenzen fordern.

Das Ergebnis ist eine völlig schizophrene Migrationspolitik, die selbst junge, fleißige Menschen, die in Deutschland Schule und Ausbildung absolviert haben, gnadenlos abschiebt, weil irgendein Sachbearbeiter entscheidet, Afghanistan sei doch ein sicheres Land, da könne man den jungen Mann einfach wieder hinschicken. Deutsche Abschiebepolitik konterkariert gründlich, was die Eine mit „Wir schaffen das“ einst verheißen hatte.

Agarwala wollte jetzt einfach mal wissen, wie die deutschen Schulen die enorme Herausforderung bewältigt haben, die da 2015 und 2016 mit über 350.000 Kindern und Jugendlichen auf sie zukam, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren und eigentlich vom ersten Tag an der Schulpflicht unterlagen.

Was ja wie eine Zumutung klingt, aber in Wirklichkeit keine ist, was mittlerweile auch Millionen deutsche Schüler/-innen und Eltern wissen, seit sie im April mit dem Corona-Shutdown erlebt haben, wie das ist, wenn die Kinder nicht in die Schule dürfen. Das an vielen Orten auch technisch vergeigte Homeschooling hat auch noch den letzten Eltern deutlich gemacht, was Lehrerinnen und Lehrer eigentlich jeden Tag leisten und was für eine Herkulesarbeit es ist, Kindern systematisch die Wissensgrundlagen fürs Leben beizubringen.

Grundlagen, die darüber entscheiden, ob der junge Mensch nach der Schule einen Einstieg ins Arbeitsleben schafft oder gar seine Talente entfalten und Erfolg im Leben haben kann. Seit 2001 spricht man in Deutschland nämlich endlich auch von Bildungskarrieren und der Tatsache, dass all die Barrieren, Handicaps und zeitlichen Verluste aus der frühen Lernzeit sich im Lauf der Schule immer weiter verstärken und Kinder damit letztlich die Nachteile ihre Herkunft regelrecht erben und ihr ganzes Leben mit sich schleppen.

Nachteile, von denen unsere fein gekleideten Rassisten heute behaupten, sie wären angeboren oder gar kulturell bedingt.

Was völliger Blödsinn ist, wie Anant Agarwala bei Dutzenden Interviews mit Lehrerinnen, Schulleitern und Bildungsforschern feststellen kann. Wobei ihn eines gewaltig ärgert: Dass es in Deutschland bis heute keine fundierte Statistik über die Bildungserfolge der Kinder gibt. Und zwar aller Kinder. „Die Datenallergie der Bundesländer sorgt an dieser Stelle wieder einmal für Unbill, präzise Zahlen gibt es nicht“, schreibt er an einer Stelle.

Was bei dem von ihm gewählten Thema besonders prekär ist, weil ihm kein einziges Kultusministerium sagen kann, was aus all den Kindern und Jugendlichen tatsächlich geworden ist, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen. Wobei das wichtig wäre. Dem rassistischen Lamento kann man nur mit Zahlen und Fakten begegnen. Einige wenige vermag Agarwala aus den wenigen vorhandenen Statistiken herauszufiltern. Zwei Bundesländer haben zumindest rudimentäre Daten. Da und dort gibt es auch ein paar Studien, die Zahlen erhoben haben – Zahlen – die am Ende von Agarwalas Rundreise ermutigen, weil sie Erkenntnisse zu bestätigen scheinen, die man bei Datenerhebungen zu deutschen Schülerkarrieren gewonnen hat.

Danach gibt es verschiedene Einflüsse, die die Chancen von Kindern, erfolgreich einen Bildungsabschluss zu erlangen, erhöhen oder vermindern. Die Kultur, kann Agarwala feststellen, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Kinder aus anderen Ländern sind genauso lernwillig und zielstrebig wie Kinder aus „biodeutschen“ Familien. Wer anderen Kulturen hier irgendeine Minderwertigkeit gegenüber der deutschen zuschreibt, zeigt schon damit all seine Vorurteile. Und sein Nicht-Wissen über die Welt.

Tatsächlich wirken bei Migrantenfamilien dieselben Nachteile, die auch Kindern aus „biodeutschen“ Familien den Eintritt ins Leben schwer machen – soziale Benachteiligung, Bildungsferne der Eltern, fehlende Förderung. Im Fall der meisten Flüchtlingskinder natürlich auch noch die fehlende Beherrschung der deutschen Sprache. Wofür die Länder und Schulen freilich besondere Angebote geschaffen haben – Förderklassen und DaZ-Klassen.

Die freilich ihre eigenen Probleme mit sich bringen, wenn sie die Flüchtlingskinder zu lange vom Wechsel in die Regelklasse abhalten. Man darf durchaus darüber stolpern, wenn Agarwala schreibt, wie stolz die Kinder sind, wenn sie sich dem Status Regelschüler nähern und endlich in Klassen wechseln dürfen, in denen sie mit den anderen, „einheimischen“ Kindern zusammensitzen und lernen dürfen.

Es ist nicht der einzige Punkt, an dem sichtbar wird, wie komplex Schule tatsächlich ist und wie fein sie eigentlich abgestimmt ist auf die Lernfenster, die wir in unserer frühen Jugend durchmachen. Denn je früher unser Gehirn zum Lernen angespornt ist, umso besser lernt es, umso besser kommt es mit neuem Wissen und neuen Sachverhalten zurecht.

Weshalb es geradezu eine Katastrophe ist (und so beschreibt es Agarwala auch), wenn die bürokratische Praxis unserer Ausländerbehörden dafür sorgt, dass Flüchtlingskinder monatelang gar nicht zur Schule gehen, weil ihrer Familie noch nicht der „richtige“ Wohnort zugewiesen ist. Und das bei Kindern, die aufgrund von Krieg, Bürgerkrieg und Flucht oft schon Jahre verloren haben – Jahre, die ihnen künftig ein Leben lang als Lernzeit fehlen werden.

Und natürlich gibt es Studien, die belegen, dass einige Flüchtlingsgruppen ihren gleichaltrigen Klassenkameraden vom Wissensstand her um Jahre hinterherhinken. Aber das Problem an den Studien ist, dass sie oft zu eng fokussiert sind. Es gibt keine allgemeine Erhebung, schon gar nicht nach Nationalitäten aufgeschlüsselt. Möglicherweise, so vermutet Agarwala, weil die Ministerien befürchten, damit selbst rassistische Ressentiments zu schüren. Aber Nichtwissen macht nun einmal nicht klüger, sondern bewirkt in Wirklichkeit das Gegenteil: die Stärkung von Vorurteilen.

Die wenigen Erhebungen – die es beispielsweise aus Hessen gibt – zeigen ein viel differenzierteres Bild. Denn augenscheinlich schaffen es die meisten Jugendlichen, die 2015/2016 nach Deutschland kamen, einen Schulabschluss zu bekommen, und zwar nicht nur Hauptschulabschlüsse, sondern auch höhere. Und selbst die jungen Leute, die ohne Abschluss blieben, ergriffen oft genug die Chance, den Abschluss an einer Berufsschule nachzuholen. Und zwar zuallererst all jene so oft im Fokus stehenden jungen Männer, die meist nur als Problem gesehen werden.

Es gibt die problematischen Jugendlichen, das stellt auch Agarwala fest. Das kann auch nicht anders sein, wenn junge Menschen direkt aus Kriegen und traumatischen Fluchterlebnissen nach Deutschland kommen, vielleicht ihre Angehörigen verloren haben und selbst Opfer von Gewalt wurden. Es ist eine kleine Gruppe, von der auch die Lehrer und Lehrerinnen berichten, die Agarwala befragt hat.

Ein einziger dieser Jungen kann eine ganze Klasse sprengen, ist so eine Aussage von einem Lehrer, dessen Schule auch schon vor 2015 Erfahrungen mit Kindern aus Migrantenfamilien gesammelt hat. Meist sind das die medial oft im Fokus stehenden „Brennpunktschulen“, an die viele Bundesländer auch die Flüchtlingskinder von 2015 geschickt haben – aus gutem Grund: Die Kultusminister konnten zu Recht davon ausgehen, dass diese Schulen schon eine Menge Knowhow gesammelt haben bei der Integration von Kindern, die mit schlechten oder gar keinen Deutschkenntnissen in die Schule kamen.

Einige Länder haben diese Schulen auch zusätzlich aufgestockt mit Sozialpädagogen oder besonders ausgebildeten Sprachmittlern. Aber das war die Ausnahme. Das ist eigentlich Agarwalas zentrales Resümee: Deutschland hat seine Schulen 2015 nicht aufgerüstet, um mit den zusätzlichen Herausforderungen fertig zu werden.

Und es hat die fünf Jahre auch nicht genutzt, um zentral alle Erfahrungen zu bündeln und Rahmenpläne zu erarbeiten, wie Integration in den Schulen künftig nach bestem Wissen organisiert werden kann. Ideen haben deutsche Schulen jede Menge entwickelt. Agarwala kann direkt aus mehreren deutschen Schulen berichten, wie das dortige Lehrerkollegium auf die Herausforderungen reagiert und oft kreative Lösungen mit den begrenzten personellen und materiellen Voraussetzungen vor Ort gefunden hat. Ein echtes Vorbild findet er auch an einer Schule in Sachsen: der Schule am Flughafen in Chemnitz.

Es wird überdeutlich, dass Deutschland mit seinen Lehrerinnen und Lehrern ein Riesenglück hat, denn den meisten ist es ein inneres Bedürfnis, alle ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler tatsächlich zum Schulerfolg zu führen. Obwohl sie alle froh wären, wenn sie gerade da, wo es durch die Flüchtlingskinder auch deutlich mehr Aufgaben gab, auch mehr Unterstützung durch die Ministerien gegeben hätte. Wenn Deutschland also die einmalige Chance genutzt hätte, aus dem ungeplanten Integrationsexperiment auch etwas zu lernen – für die Zukunft. Denn zur Lebenslüge deutscher Politiker gehört nun einmal auch die irre These, Deutschland sei kein Einwanderungsland.

Ohne Einwanderung würde Deutschland schon seit 60 Jahren nicht mehr funktionieren. Und in der Zukunft wird Deutschland noch viel mehr auf Einwanderung angewiesen sein, wäre also gut beraten, Integration auf allen Ebenen zu professionalisieren, damit die Menschen, die hier Zuflucht suchen, eben nicht in Parallelgesellschaften landen und damit zum Dauerproblem werden, sondern sich so früh wie möglich tatsächlich integrieren können.

Und die Schule ist die erste und wichtigste Integrationseinheit. Kinder sind neugierig, sie wollen wissen und teilhaben und lernen. Und meist haben sie auch den brennenden Wunsch, einen möglichst guten Schulabschluss zu machen, um auch den Eltern und der Aufnahmegesellschaft zu beweisen, dass sie was drauf haben.

Was freilich – wenn diese Trantüten ehrlich wären – die größte aller Ängste unserer Rassisten und Fremdenfeinde ist: Dass ihnen Kinder aus Einwandererfamilien den Schneid abkaufen. Was einige längst tun. Denn nicht alle Flüchtlingskinder kommen mit demselben Manko nach Deutschland. Einige haben in ihrer Heimat schon erfolgreich eine Schule besucht, bis ihre Schule von Bomben zerstört wurde. Und wenn ihre Eltern dann gar noch selbst hochgebildet sind, erleben Forscher in den Schulen denselben Effekt wie mit einheimischen Kindern.

„Das heißt: Ein afghanischer und ein syrischer Schüler, die aus einem Elternhaus mit hoher Bildung kommen, schon als Kind eingewandert sind und beide in einer Privatwohnung, also nicht in einer Sammelunterkunft leben, haben im Schnitt sehr ähnliche Chancen“, schreibt Agarwala. Nämlich die Chance, das deutsche Schulsystem erfolgreich zu durchlaufen. Der Unterschied: „Nur kommen aus Syrien mehr Menschen, auf die diese Faktoren zutreffen.“

Was nicht bedeutet, dass sich afghanische Jugendliche nicht durchbeißen. Sie haben zwar oft gar keinen oder nur rudimentären Schulbesuch nachzuweisen, haben sich aber auf ihrem langen Weg nach Deutschland oft mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten durchgeschlagen, haben ihren deutschen Altersgenossen oft jede Menge Praxis voraus, weil sie sich mit den unterschiedlichsten Jobs durchschlagen mussten, was ihnen gerade in Berufsschulen Vorteile bringt. Und mittlerweile haben tausende geflüchtete Jugendliche in Deutschland eine Berufsausbildung absolviert.

Und tausende Handwerksbetriebe würden sie nur zu gern anstellen – wären da nicht die Bürokraten in den Ausländerbehörden, die es nicht die Bohne interessiert, ob die jungen Leute deutsch können, einen Berufsabschluss haben und sich richtig angestrengt haben, alle Bedingungen für eine echte Aufnahme zu erfüllen. Gnadenlos werden Duldungen beendet und gut ausgebildete junge Leute ins Flugzeug gesetzt und abgeschoben.

Am Ende fasst Agarwala knapp zusammen, was sich aus diesem seit fünf Jahren laufenden Integrationsexperiment lernen ließe, wenn man wirklich gewillt ist, was draus zu lernen: „Eine sofort greifende Schulpflicht. Eine gerechte Verteilung. Verbindliche Sprachförderung, vielleicht ja sogar mit einem Konzept. Qualitätsstandards für die schulische Integration. Und mehr Geld für die, die sie leisten: Das klingt weder innovativ noch inspirierend, das klingt nach dem Schwarzbrot der Bildungsnation. Das Pflichtprogramm. Allein, man kommt ihm nicht nach.“

Auch so kann ein Land seine Zukunft verspielen, weil es sich von nörgelnden Hinterwäldlern einreden lässt, dass Zuwanderung Angst machen soll und „unsere Sozialsysteme“ überlastet. Man muss eigentlich nicht betonen, dass Rassisten ein völlig krudes Menschenbild haben. Dass Innenminister dem so bereitwillig folgen und Kultusminister nicht selbst den Mut haben, der Gleichgültigkeit und Ignoranz ein Ende zu bereiten, das ist nur noch peinlich. Und verrät, dass diese Männer nicht einmal eine Ahnung davon haben, wie sehr sich Deutschland schon längst verändert hat. Und weiter verändern wird.

Und als Zitat, das eines der Probleme sehr schön auf den Punkt bringt, noch dieses zum Abschluss: „Den Luxus, keinen gruppenbezogenen Pauschalurteilen ausgesetzt zu sein, haben hierzulande nur weiße Westdeutsche.“

Integration ist – wie man sieht – eine Herausforderung, die verdammt viel mit Bildung zu tun hat.

Anant Agarwala Das Integrationsexperiment, Dudenverlag, Berlin 2020, 15 Euro.

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Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir

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