Es ist ein vertrackter Roman, freilich nicht unbedingt, weil der Held stirbt darin wie der Held in William Goldings „Pincher Martin“ von 1956. Das ist lediglich erschütternd, vertrackt ist er, weil er ein Stück weit die Wehrlosigkeit von Journalisten zeigt, die wirklich herausfinden wollen, wer im deutschen Rechtsextremismus tatsächlich die Fäden zieht und welche Rolle dabei die seltsamen Ämter für Verfassungsschutz spielen, die so erwartbar immer wieder versagen, wenn es um rechtsextreme Umtriebe geht.
Wer beim Titel „Modellversuch Chemnitz“ an die Ausschreitungen im Sommer 2018 denkt und an den seltsamen Schulterschluss der rechten Populisten mit den rechtsradikalen Kameraden, liegt freilich ein wenig daneben, auch wenn das, was sich da binnen weniger Stunden entwickelte, durchaus den Charakter eines Modellversuchs hatte. In dieser Form hatten rechtsradikale Strippenzieher in jüngster Zeit noch nicht versucht, in kurzer Zeit tausende Rechtsradikale zu mobilisieren und ein Tötungsdelikt zu einer öffentlichen Machtdemonstration zu nutzen.
Aber in Willmanns Geschichte geht es um eine andere Art Modellversuch, einen, der eigentlich seit Jahrzehnten läuft und den die Öffentlichkeit als V-Mann-Affären kennengelernt hat – immer dann, wenn die vom Verfassungsschutz angeworbenen Rechtsextremisten außer Kontrolle geraten und auf einmal zu den Anstiftern wirklich krimineller Anschläge und Machenschaften geworden sind.
So war das in Thüringen, als sich dort die Terrorgruppe Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe gründete, so war das mutmaßlich auch während der Anschläge, die Mundlos und Böhnhardt verübten. Immer wieder tauchen obskure Verbindungsmänner auf, die angeblich nichts mitbekommen haben, aber mitten in den rechtsextremen Seilschaften agierten. Und wenn Untersuchungsausschüsse deren Führungsbeamte vorladen, wissen die von nichts, berufen sich auf den Schutz ihrer V-Leute oder lassen gleich mal meterweise die Akten zu den Vorfällen schreddern.
Das gibt Raum für Mutmaßungen. Und Misstrauen. Ein Misstrauen, das Ronald Willmann teilt. Denn sein Held, der junge Journalist Arne Heller, stirbt nicht, weil er so mutig war, Mitglied einer rechtsradikalen Clique zu werden (die im Nachhinein ein wenig an die Gruppe „Revolution Chemnitz“ erinnert), sondern weil diese Schlägertruppe mit eigentlich ziemlich desorientierten jungen Männern Spielfeld von allerlei Leuten wird, die hier von außen steuern und ihr eigenen Süppchen kochen.
Denn Hellers Chefredakteur Rolf Bleiser hat natürlich recht, wenn er Heller vor seinen Undercover-Recherchen warnt und am Ende der etwas zwiespältigen Sabrina gegenüber noch einmal erklärt: „Sie sind kein basisdemokratisch unorganisierter Haufen mit gleichberechtigten freien Meinungen. Straff organisiert versuchen sie, Anarchie in die Gesellschaft zu tragen. Sie brauchen jemanden, der ihnen das Denken abnimmt und die Richtung vorgibt. Was sie gern als Treue heroisieren, ist in Wirklichkeit nichts weiter als tumber Kadavergehorsam. Wer den in dieser Weise bis zur Perfektion exerziert, der ist geradezu prädestiniert für eine Steuerung von außen.“
Sabrina ist dabei einerseits diejenige, die Heller in ihrer Tarnung als Sozialarbeiterin den Zugang zur Gruppe ermöglicht, andererseits aber eigentlich für den Verfassungsschutz arbeitet, sozusagen als V-Frau in der Gruppe. Aber auf ihre resolute Art fasziniert sie Heller auch, sodass der am Ende eine Menge Warnsignale übersieht, weil Liebe nun einmal blind macht.
Aber es gibt mindestens noch einen weiteren V-Mann in der Gruppe. Und es gibt zwei ältere Herren in zwei verschiedenen Verfassungsschutzämtern, die hier um ihre Eingriffshoheit buhlen und von denen mindestens einer auszuprobieren versucht, wie sich so eine Kloppertruppe von außen steuern lässt. Was natürlich am besten gelingt, wenn der eigene V-Mann das Zeug zum Anführer hat. Oder zum Verführer und Strippenzieher
Was logischerweise auch die beste Voraussetzung dafür ist, dass genau dieser Bursche dann eigene Initiativen entwickelt, sein Image mit wirklich brutalen Aktionen aufzupolieren und die ganze Gruppe zu radikalisieren.
Was Heller ahnt und was zum Seitenstrang seiner Recherchen wird, ist die Tatsache, dass just dieser heimliche Kopf der Truppe der Sohn eines in der Stadt bekannten Promi-Anwalts ist, dessen Vorleben in der DDR ganz und gar nicht bieder und staatsfern war. Da ahnt Arne Heller wohl, dass er in ein richtiges Wespennest geraten ist, aber nicht, woher die Gefahr wirklich droht. Und auch Sabrina ahnt es viel zu spät, dass auch ihr strebsamer Vorgesetzter im Verfassungsschutz seine eigene Spielchen spielt – und das auf höchst dilettantische Weise.
Je länger man dem Leiden des schwer zusammengeschlagenen Journalisten zuschaut und mit ihm die Entwicklung bis zu dieser dramatischen Nacht verfolgt, umso mehr verwandelt sich die Geschichte, wird deutlich, dass es eigentlich nicht die tausendste Skinhead-Story sein kann, die in der Zeitung wieder für Aufsehen sorgt. Denn an den Skinheads in der rechten Szene ändert sich nichts. Da sind keine Geheimnisse, ist kein Mythos. Und die Weltsicht dieser oft genug völlig orientierungslosen jungen Männer bleibt so platt und dumm, wie sie auch vorher schon war.
In so einer Truppe fällt ein neugierig herumfragender Undercover-Journalist auf wie ein Paradiesvogel unter Hyänen. Und auch wenn Willmann seinen Chefredakteur am Ende die Bedenken eher kleinreden lässt – die schlichte Wahrheit ist, dass sich die Redakteure von Regionalzeitung hüten würden, selbst ihre jüngsten Mitarbeiter einer solchen Gefahr auszusetzen. Selbst für Undercover-Recherchen braucht es andere Absicherungen. Hier sind eine ganze Reihe Leute so naiv unterwegs, dass es eigentlich schiefgehen muss.
Aber auch wenn es die Nazi-Kumpel sind, die am Ende zuschlagen, ziehen andere die Strippen. Und im letzten Gespräch zwischen Sabrina und Rolf Bleiser wird endgültig klar, dass die Geschichte tatsächlich das unheilsame Wirken der Verfassungsschutzämter diskutiert, die als „Frühwarnsystem der Demokratie“ regelmäßig versagen.
Wobei Willmann eine ganz gemeine Frage stellt: Kann es sein, dass sie sich sogar erst die immer neuen Anlässe schaffen, ihre Existenzberechtigung zu untermauern? Eine ganz böse Frage, ich weiß. Aber nicht nur in Sachsen sträuben sich die Innenministerien, die Landesämter für Verfassungsschutz zu reformieren, ihre Arbeit transparenter und nachvollziehbarer zu machen.
Und das macht die von Willmann geschilderten Selbstermächtigungen einzelner Beamter durchaus wahrscheinlich.
Was nutzen all die warmen Worte und öffentlichen Tränen zu immer neuen rechtsradikalen Anschlägen, wenn das Frühwarnsystem nicht funktioniert, Millionen für einen Apparat ausgegeben werden, der seine Informationen (wenn er sie denn hat) nur ungern weitergibt an Polizei, Staatsanwaltschaft und Kommunalverwaltungen, die mit dem braunen Spuk regelrecht alleingelassen werden? Von Politiker/-innen ganz zu schweigen, die die Aggressionen der Rechtsradikalen mit voller Wucht abbekommen, in den zuständigen Innenministerien aber bestenfalls schöne Versprechungen bekommen, man ermittele ja mit aller Kraft.
Doch wenn dann einzelne rechtsradikale Schläger vor Gericht landen, bekommen sie oft erstaunlich niedrige Strafen oder kommen gar ungeschoren davon, ganz so, als hielte jemand seine schützende Hand über sie, sodass sie draußen weiter für Bedrohung und Einschüchterung sorgen können.
Auch wenn wohl keine sächsische Regionalzeitung ihre jungen Redakteure je so zu einer wirklich gefährlichen Undercover-Recherche schicken würde, wetterleuchtet in diesem Buch der verstörende Umgang sächsischer Behörden mit den rechtsradikalen Netzwerken im Land, der seit Jahren – und nicht erst seit dem seltsamen Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos 2011 – lauter Fragen aufwirft, ohne dass die zuständigen Ämter auch nur ansatzweise schlüssige Antworten vorlegen.
Und Willmanns dezenter Hinweis, den er ebenfalls Bleiser in den Mund legt, dass eigentlich die Medien die ganze Zeit die Arbeit machen, die man vom Verfassungsschutz erwarten könnte, ist sehr real. Auch wenn es eher freie Journalisten sind, die sich in den vergangenen Jahren die nötige Kompetenz aufgebaut haben, im rechtsradikalen Milieu investigativ zu arbeiten.
Und die dann die Ergebnisse ihrer Recherchen in Büchern veröffentlichen, die eigentlich eine Mahnung sein müssten. 2016 hatten wir einmal die wichtigsten dieser Bücher in einem Artikel versammelt. Aber geändert hat sich bis heute wenig. Untersuchungsausschüsse gingen mit enttäuschenden Ergebnissen zu Ende. Und oft brauchte es erst den Zugriff der Bundesstaatsanwaltschaft, damit einige der kriminellsten rechten Vereinigungen in Sachsen überhaupt zum Fall fürs Gericht wurden.
So gesehen ist Willmanns Roman natürlich ein politischer Krimi, auch wenn er nicht wirklich auch Parteienvertreter ins Bild bringt. Aber Politik ist eben auch, wie staatliche Behörden funktionieren, ob sie die Standards des Rechtsstaats wahren oder sich verselbständigen und auf einmal die Frage im Raum steht, wem sie tatsächlich dienen.
Willmann Ronald Modellversuch Chemnitz, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2020, 14,40 Euro.
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