Am 1. Juli begann die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, eine Ratspräsidentschaft, auf die auch viele Europäer sehr viel Hoffnung setzen. Denn sie bietet die seltene Chance, endlich wichtige Weichenstellungen vorzunehmen, um die EU wieder zukunftsfähig zu machen. Und damit auch die europäische Idee vom gemeinsamen Haus. Die Deutsche Nationalbibliothek hat dem Anliegen extra ein dickes Buch gewidmet mit hunderten Europa-Motiven aus den eigenen Buchbeständen.
Denn wenn die Mitarbeiter/-innen der Nationalbibliothek mit ihren zwei Standorten Leipzig und Frankfurt in die Sammlungen mit über 40 Millionen Medien schauen, dann stellen sie schnell fest, dass auch in einer deutschen Nationalbibliothek jede Menge Europa zu finden ist. Über 130.000 Bücher führen Europa im Titel. Aber das ist nur der erste Zugriff.
Denn wer sich mit den Beständen europäischer Nationalbibliotheken beschäftigt, merkt schnell, dass es eigentlich keine einzige Nationalkultur in Europa gibt, die nicht Teil einer großen gemeinsamen Kultur Europas ist. Das beginnt schon mit dem Mythos von Europa, den der Autor und langjährige Direktor der argentinischen Nationalbibliothek Albert Manguel in seinem Beitrag für dieses Buch aufmerksam interpretiert.
Es ist einer von zehn völlig unterschiedlichen Beiträgen, die extra für dieses Buch geschrieben wurden und die alle auf ihre Weise die europäische Idee behandeln, die eine nicht ganz einfache Idee ist. Das wissen alle Europäer. Denn den Kontinent vereint auch die gemeinsame Erinnerung an bitterböse Kriege, an Feindschaften, Teilungen und Trennung.
Etliche der im Buch zu findenden Bilder erzählen davon. Und nicht nur die Bilder: Europäische Literaturen haben all das ebenso thematisiert – und oft auf atemberaubende Weise, wenn man nur an Tolstois „Krieg und Frieden“ denkt, an den braven Soldaten Schwejk oder Bertha von Suttners Roman „Die Waffen nieder!“.
Zwei Jahrtausende immer neuer Konflikte haben eine Kultur hervorgebracht, in der das Gemeinsame und der Wille zur friedlichen Konfliktlösung immer präsenter wurden. Ganz zu schweigen davon, dass die große europäische Literatur immer grenzüberschreitend war. Man griff gemeinsam auf die literarischen Schätze der Griechen und Römer zurück. Später entfalteten grandiose Nationalliteraturen wie in Frankreich oder England europäische Wirkung. Niemand wird mehr abstreiten, dass Shakespeare, Balzac, Strindberg und Goethe Teil einer großen, gemeinsamen europäischen Literatur sind.
Und dass es eben auch keinen anderen Kontinent gibt, auf dem so viele eigentlich kleine Staaten sich zusammenraufen mussten und sich zusammengerauft haben. Immer wieder aufs Neue. Und dabei einen gemeinsamen Schatz an Erinnerungen und Geschichten geschaffen haben, den so kein anderer Kontinent aufweisen kann. Am Ende dieser bisherigen Geschichte stand die eigentlich unleugbare Einsicht, dass man auf diesem eher kleinen Kontinent nur in Frieden leben kann, wenn man die gemeinsame Idee lebt.
Und deswegen beschränken sich die Autor/-innen eher nicht auf die EU-Mitgliedsstaaten (auch wenn der begnadete Grafiker Axel Scheffler die Tragik des britischen Ausscheidens aus der EU beschreibt), sondern sprechen in der Regel von der gesamten europäischen Literatur, von allen 700 Millionen Europäern.
Und selbst der Blick von Übersee, wie ihn Grant G. Harris aus der Perspektive der Library of Congress in Washington einnimmt, zeigt, dass selbst die dort vertretenen deutschsprachigen Buchbestände von Europa erzählen und den europäischen Ideen, die ja auch zum Erbe Amerikas gehören. Nur wissen das viele Europäer nicht, scheitern an Sprachbarrieren, kommen aus ihrem kleinen Land nicht heraus oder haben keinen Zugriff auf die Wissensschätze der großen europäischen Sammlungen.
Deswegen sei das riesige Digitalisierungs-Projekt Europeana so wichtig, schreibt die ehemalige Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek, Elisabeth Niggemann. Die Plattform schafft erstmals europaweit Zugriff auf die digitalisierten Sammlungsbestände Europas. Und sie fand von Anfang an Zuspruch bei Millionen Nutzern.
Was auch deutlich macht, dass Europa vor allem eine große Idee ist. Alberto Manguel erzählt ja, wie sich diese Idee im alten Griechenland entwickelt hat – oder genauer: auf den griechischen Inseln. Denn das alte Griechenland Homers war eine Inselwelt, so wie ihre Göttersagen Erzählungen von Inselgöttern sind und die Vorbildstaaten in Sachen Hochkultur eben nicht im dunklen, kalten und barbarischen Norden auf dem Festland lagen, sondern in Afrika.
Nicht zu vergessen: Wir täten gut daran, die weibliche Europa mit dunkler Hautfarbe darzustellen, so wie Yasmine Ouirhane, in Frankreich lebende Tochter marokkanisch-italienischer Eltern, die 2019 zur „Jungen Euroäperin des Jahres“ gekürt wurde und die im Buch über die frustrierenden Erfahrungen junger Europäer mit dunkler Hautfarbe erzählt, die immer wieder behindert und ausgegrenzt werden, statt sie als Teil einer europäischen Gegenwart zu akzeptieren, die es ohne Einwanderung und Diversität nicht geben würde.
Europa war übrigens die Tochter des in Libyen regierenden Königs Agenor – ein phönizischer König übrigens. An Europas Wiege stehen also ein phönizischer König und – als Räuber – ein griechischer Macho-Gott. Auch das gehört zu unserem Erbe. Aber Manguel beleuchtet ja auch die durchaus veränderlichen Seiten des Mythos. Denn der erzählt ja im Grunde auch davon, wie die Inselgriechen zu Festlandgriechen wurden und damit die Tore öffneten zu jenem damals noch nebligen Kontinent im Norden.
0Der seinen Namen verpasst bekam, weil das Aphrodite, die Göttin der Liebe, so verheißen hat. Schon wenn man sich mit den griechischen Mythen beschäftigt, merkt man, wie komplex die europäische Erinnerungskultur tatsächlich ist. Und dass es dieser Reichtum ist, der Menschen immer wieder fasziniert hat, angeregt hat, Neues zu schaffen. Und vor allem: Grenzen zu überschreiten.
Und so stehen in allen Nationalbibliotheken unzählige Bücher, in denen das Europäische auf vielfältige Weise lebt, in denen Geschichten zum Allgemeingut wurden, obwohl sie eigentlich nur für die jeweilige Nation geschrieben wurden – wenn man an den Don Quijote denkt zum Beispiel, Madame Bovary oder Andersens Märchen. Die Verleger in ganz Europa sind immerfort gespannt, ob da in diesem Kosmos der Sprachen und Kulturen nicht gleich wieder die nächste spannende Geschichte erscheint, die übersetzt werden sollte in die eigene Nationalsprache.
Und wenn dann einer gar in die Welt reist wie der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder, merkt er auch, dass diese Vielfalt viel näher miteinander verwandt ist, als die ach so auf ihr Ländchen bedachten Europäer denken. Er erzählt es anhand der europäischen Küchen, die allein schon aus naturbedingten Gründen viel mehr miteinander zu tun haben als mit den Küchen Afrikas, Chinas oder Amerikas. Manchmal muss man wirklich erst auf Reisen gehen, um zu merken, wie vertraut einem das scheinbar Fremde ist.
Bleibt nur die Frage: Was machen wir Europäer da jetzt draus? Nutzen wir die Gelegenheit, den Spaltern und Mauernbauern jetzt die Rote Karte zu zeigen und wieder das Gemeinsame zu stärken, das uns reich und einmalig macht? Denn Fakt ist: Kein anderer Kontinent hat solche Voraussetzungen und Erfahrungen.
Und das hat alles nichts mit Genetik zu tun, auch wenn die Schwedin Karin Bojs (die die L-IZ-Leser schon aus ihrem Buch „Meine europäische Familie“ kennen) noch einmal von ihrer Suche nach ihren/unseren genetischen Vorfahren erzählt, die sie auch zum in Leipzig beheimateten Max-Plamck-Institut für evolutionäre Anthropologie geführt hat – und in die Thomaskirche, zur Wirkungsstätte Bachs. Womit sie gleich zwei weitere Felder erwähnt, auf denen Europa schon lange zusammengewachsen ist – die Wissenschaft und die Musik.
In ihrem Buch hat sie ja sehr eindrucksvoll erzählt, wie frühe Einwanderungen aus dem Süden nach und nach die heutigen Europäer hervorbrachten. Und das betrifft eben nicht nur ihr Aussehen und ihren Genpool, sondern auch ihre Wirtschaftsweise, ihre Wohnkultur, ihre Schrift, ihre Sprachen, ihre Sozialisation, ihre Landwirtschaft …
Europas Reichtum ist ein Reichtum der permanenten Veränderung, der Entdeckungen und kulturellen Zugewinne. Gerade deshalb wirkt der Brexit so völlig daneben, so irre, wenn man ihn aus europäischer Perspektive betrachtet. Die Europäer tun sich zwar verdammt schwer, wenn es um das Zusammenraufen geht. Aber die meisten haben eine erstaunlich starke emotionale Beziehung zu dieser seltsamen Idee, die irgendwann vor vielleicht 3.000 Jahren auf Kreta geboren wurde.
Stephanie Jacobs (Hrsg.) House of Europe, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2020, 22 Euro.
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 81: Von verwirrten Männern, richtigem Kaffee und dem Schrei der Prachthirsche nach Liebe
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