Nicht allen, die in diesem Sommer so gern auf die Ostsee-Insel Hiddensee gefahren wären, ist das auch vergönnt. Es ist der Sommer, in dem viele wieder die Schönheiten dieses Landstrichs zwischen Thüringer Wald und Erzgebirge entdecken, die hiesigen Sonnenauf- und -untergänge. Und über das Licht staunen, das zuweilen die Landschaft wieder so eindrucksvoll macht, wie sie Caspar David Friedrich einst entdeckte. Zeit, wieder Sehen zu lernen.

Abseits der üblichen Postkartenmotive und Instagram-Allgemeinplätze. Es gibt zwar – so betont Steffi Böttger in ihrem Vorwort – ein ganzes Meer von Hiddensee-Bildern auf allen möglichen Plattformen im Internet. Auch auf der Insel Hedins laufen die Menschen herum mit gezückten Smartphones, um alle die immer wieder gleichen Bilder aufzunehmen als Bestätigung ihres Dagewesenseins.

Als ob es darum ginge. Als müssten Menschen immerfort Strahlemannfotos von sich anfertigen, um irgendwem zu beweisen, dass sie noch etwas anderes erleben als den täglichen Stau, das langweilige Büro und das Kunstlicht der Supermärkte. Sie dürfen alle mal raus. Und dann? Sehen sie doch wieder nichts, weil sie so mit der Inszenierung ihres Urlaubs beschäftigt sind.

Vielleicht muss man wirklich irgendwann den Beschluss fassen, wie es Uta-Katharina Gau vor 30 Jahren tat, und ganz auf die Insel ziehen. Dann lernt man die Insel kennen, so wie sie ist. In allen ihren Jahreszeiten, mit Regen, Stürmen, Nebel, ihren gewaltigen Wolkenformationen und den faszinierenden Spiegelungen in einem Meer, das jedes Mal anders ist. Und selten zückt Uta-Katharina Gau ihre Kamera bei blauem Himmel.

Und wenn, dann müssen vom Wind strukturierte Strände mindestens ihren Widerschein finden in einem leicht dunstigen Wolkenband. Man lernt anders sehen, wenn man sich länger mit dem Licht dieser Insel beschäftigt, dem ständig sich ändernden Blau von Himmel und Meer und der sich immerfort wandelnden Stimmung über den niedrigen Häusern der Insel. Stürmische Sonnentage werden zum Erlebnis einer gewaltigen Inszenierung, windstille Tage zu einem Pastell der Ruhe.

Und: die Menschen sind rar in Gaus Fotos. Manchmal sieht man sie klein am Strand spazieren gehen, manchmal als Silhouette im Gegenlicht, wie Gäste in einem großen Theaterstück, in dem nur die Elemente miteinander ringen, der Mensch aber nur Gast ist. Das verändert die Sichtweise. Und deswegen fallen Uta-Katharina Gaus Fotografien unter den vielen Hiddensee-Fotos auch so auf. Sie zeigen eben nicht den Menschen als triumphierenden Helden seiner Selbstinszenierung. Nicht einmal die Zehntausenden, die jeden Sommer kommen, spielen eine Rolle, auch wenn sie für ein paar Monate die Cafés, kleinen Läden und Strände füllen.

Unendlich klein wirken die Häuser unter den Wolkenbergen, unendlich leer die Ostsee, wenn das Land am Horizont zum schmalen Strich wird. Natürlich findet das, wer es sucht, auch im Sommerurlaub auf Hiddensee: die Rückbesinnung auf die Weite der Welt, die man in den von Hektik durchtosten Städten schon lange nicht mehr findet. Ganz zu schweigen vom fehlenden Horizont.

Städte machen übermütig, weil sie vergessen lassen, wie klein wir sind, wie angewiesen darauf, dass sich alles ändert und bleibt, wie es ist, manchmal einfach von uns Menschen in Ruhe gelassen. Hiddensee lehrt ein bisschen Respekt vor den Räumen, die noch Tieren und Pflanzen gehören. Und vor der Schönheit der Welt. Denn das steckt ja vor allem hinter dem Buchtitel: Die Schönheit wird erst sichtbar im richtigen Licht.

Und mit Uta-Katharina Gau lernt man sehen. Der ganze Bildband hilft geradezu dabei, sich die lärmenden Instagram-Bilder aus dem Kopf zu pusten und nachzuempfinden, mit welcher Neugier die Inselbewohnerin jeden Morgen loszieht, um immer neue Momente festzuhalten aus einem permanenten Wandel, der unser Leben ausmacht und unsere Welt.

Manches Foto erinnert geradezu an die Bilder Caspar-David Friedrichs, der vor 200 Jahren mit einem ganz ähnlichen Staunen in die noch unberührte Welt außerhalb der ummauerten Städte aufgebrochen ist, der das Licht ebenso suchte und fand. Und auch diese Atemlosigkeit im Angesicht eines lichtüberfluteten Meers, die uns deutlich macht, wie sehr wir selbst vergänglich sind. Kurzzeitige Gäste eines Schauspiels, das auch noch weitergehen wird, wenn wir nicht mehr da sind.

Auch das versetzt ja so viele Bewohner der Gegenwart in Panik, dass sie es in ihrem Kopf nicht (mehr) zusammenbekommen, dass ihr Leben endlich ist, unendlich winzig im Angesicht einer Welt, der wir eigentlich gleichgültig sind. Was ja die Schlimmsten unter uns dazu bringt, diese Welt unbedingt beherrschen, niederringen und zähmen zu wollen. Geradezu panisch vor all dem, was da Tag für Tag geschieht mit gewaltigen Sonnenaufgängen, heraufziehenden Wettern, der grundsätzlichen Einsamkeit eines Planeten, dessen Schönheit wir nur noch dann sehen, wenn wir uns wirklich einmal herausnehmen aus all dem Jagen und Optimieren.

Im Grunde bestätigt Gau mit ihren Fotos alles, was man sich innerlich wünscht beim Denken an Meer, Strand und Insel. Und sie zeigt selbst die frappierende Stille der Welt, wenn sich die Lichter der Dörfer im Bodden spiegeln. Entstanden ist ein Bildband, der auch allen, die in diesem Sommer nicht ans Meer kommen, ein Stück jenes Aufatmens und Staunens schenkt, das für uns so eng mit dem Abendspaziergang am leeren Strand zusammenhängt.

Von einer „meditativen Sogkraft“ spricht der Lehmstedt Verlag und verrät damit, wie sehr auch Herausgeberin und Verleger von diesen Fotografien eingefangen wurden. Also doch ein Buch für verhinderte Weltenbummler und Daheimgebliebene, die sich beim Blättern auf dem Balkon problemlos wegträumen können, wenn auch nur für Momente, in jene Grenzregion, in der wir niemals aufhören werden zu staunen.

Uta-Katharina Gau Hiddensee – Insel im Licht, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2020, 20 Euro.

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