Ganz am Ende ihrer Nachbemerkungen schreibt Karin König einen wichtigen Satz: „Die Geschichte der DDR ist letztlich auch eine Geschichte der Bundesrepublik, nicht erst seit der deutschen Einigung.“ Womit sie wohl das größte Problem der heutigen (west-)deutschen Sicht auf Geschichte benennt. Da werden dann nicht nur die Schicksale der einst in der DDR-Justiz zerstörten Menschen marginalisiert. Auch die eines Mannes wie Hermann Flade.

Königs Schlussfolgerung: „Man sollte sie deshalb auch nicht abzuspalten oder gar zu ignorieren versuchen, sondern sie ebenfalls thematisieren und möglichst gemeinsam erörtern.“ Damit entschärft sie die Aussage deutlich. Was schon genug erzählt über deutsch-deutsche Geschichtsschreibung. Wobei sie nicht erwähnt, dass sich der Westen mit seiner Geschichte genauso schwertut. Wie will man den ostdeutschen Teil integrieren, wenn es nicht einmal eine große ganze deutsche Geschichte ab 1945 gibt, sondern nur eine, die alles fein säuberlich teilt in Wir und Die?

Übrigens eine Position, von der auch Karin König nicht ganz frei ist, die mit diesem Buch ein fast vergessenes Schicksal wieder aus dem Dunkel holt, in ihren Nachbemerkungen aber trotzdem versucht, das Leben und die Handlungsweise Hermann Flades nachträglich moralisch zu bewerten. Damit verlässt sie die Basis historischer Unparteilichkeit.

Und es tut ihrer Arbeit nicht gut, die sie hier geleistet hat, indem sie das Leben des in Olbernhau aufgewachsenen jungen Mannes erzählt, der 1950 den Mut hatte, nachts selbst gedruckte Flugblätter zu verteilen, mit denen er gegen die Einheitswahlen vom 15. Oktober protestierte, bei denen erstmals die Volkskammer nach der Einheitsliste der Nationalen Front „gewählt“ wurde – eine Farce, was ja nicht nur Flade so sah. Wählen konnten die DDR-Bürger da nicht. Sie konnten den Zettel mit den vorgegebenen Kandidaten nur falten und in die Urne stecken. Wer sich anders verhielt, machte sich verdächtig.

Und Königs Verdienst ist es, dass sie sehr akribisch herausarbeitet, wie rigide das Straf- und Überwachungssystem im Osten schon damals funktionierte, gerade einmal fünf Jahre nach Kriegsende. Logisch, dass Flade durchaus Angst hatte in seiner nächtlichen Verteilaktion und dass er zur Sicherheit sogar ein Taschenmesser dabei hatte, mit dem er dann den Volkspolizisten, der ihn verhaftete, verletzte. Die Verletzungen waren leicht – aber in der gesteuerten Parteipresse war schnell vom Mordversuch zu lesen, wurde Flades Tat regelrecht aufgebauscht.

Sein Prozess im „Tivoli“ in Olbernhau wurde zum Schauprozess aufgeblasen, in dem der junge Mann exemplarisch zum Tod verurteilt wurde. Doch die Sache ging auch deshalb nicht auf, weil Hermann Flade gar nicht daran dachte, Reue zu zeigen und klein beizugeben, sondern in die aufgebauten Mikrofone erklärte, warum er so handeln musste und warum er die ganze Wahl für eine Farce hielt. Und warum ihm Freiheit, wie er sie verstand, wichtiger war als sein Leben.

Karin König rekonstruiert die vehementen Reaktionen im Westen, wo Flade all die Jahre bis zu seiner Freilassung nicht vergessen war, die er – nach seiner etwas überstürzen Begnadigung zu 15 Jahren Zuchthaus – in den schlimmsten Gefängnissen der DDR absaß. Wobei das Wort „absaß“ eine Untertreibung ist. Denn die zehn Jahre, die Flade vor allem in Bautzen und Waldheim eingesperrt war, ließen ihn seine Peiniger nie los, versuchten vor allem die Offiziere der Stasi ihn weiter zu zermürben, geistig zu brechen. Karin König registriert das zwar – versucht aber trotzdem, das Ganze noch moralisch zu diskutieren.

Das geht aber nicht. Erst recht nicht, wenn sie gleichzeitig auch noch feststellt, dass die einst in der DDR inhaftierten politischen Häftlinge kaum eine psychologische Betreuung bekommen haben, mit den seelischen Verletzungen aus der Haftzeit, den Folgen der Verhöre und der schikanösen Bestrafungen in der Regel allein zurechtkommen mussten. Auch die moderne Psychologie selbst musste ja erst lernen, mit posttraumatischen Belastungsstörungen umzugehen.

Da wundern dann auch Flades Versuche nicht, sich irgendwie Pluspunkte bei seinen Peinigern in der Haft zu erwerben und mit ihnen als Informant zu kooperieren, um nach zehn Jahren endlich die Chance auf eine Begnadigung zu bekommen. Begnadigung für eine Tat, die nach jedem Rechtsverständnis nie derart drakonisch hätte bestraft werden dürfen. Aber genau diese maßlosen Urteile, die die ja nur aus zweiter Hand regierende SED nach sowjetischem Vorbild übernahm, erzählen auch vom Trauma der frisch gegründeten DDR, die sich gerade viele junge Menschen wie Flade tatsächlich als ein anderes, demokratische Land wünschten.

Sie hatten ja als Kinder alle noch die Besessenheit der Nazis erlebt, konnten genau vergleichen. Und der Vergleich war schrecklich. Karin König geht auch noch auf Hilde Benjamin ein, die damals berüchtigte und bekannteste Richterin der DDR, die ja selbst in der Nazi-Zeit Verfolgung erlebt hatte. Wie konnten solche Menschen, die ja wussten, wie grausam eine Diktatur war, selbst zu den gnadenlosesten Vertretern eine neuen Diktatur werden und jedes Mitgefühl mit den nun Verfolgten vermissen lassen?

Warum waren die neuen Machthaber genauso gefühllos wie ihre Vorgänger? Warum brachten sie es nicht fertig, ein neues Land aufzubauen mit echtem Verständnis für die, die darin leben sollten?

Die Frage lasse ich stehen. Die kann auch Karin König nicht beantworten.

Denn das betraf ja nicht nur führende Funktionäre. Das betraf auch die kleinen Amtswalter, die sich in den Zuchthäusern als neue Zuchtmeister tummelten und meinten, den Inhaftierten die richtige Haltung zu Partei und Staat beibringen zu müssen. Letztlich eigentlich die Nötigung zur völligen Unterwerfung, genau so, wie es die Stalinschen Schauprozesse vorgemacht haben. So zerstört man Menschen.

Und pflanzt ihnen logischerweise auch eine lebenslange Abneigung ein gegen alles, was mit so einem Staat zu tun hat. Auch mit der vielleicht einst humanen Idee, die mal dahinterstand. Aber wer die Umsetzung dieser Idee einforderte, erlebte immer wieder genau das, was Flade erlebte. Der ja in seiner Haftzeit auch Menschen begegnete, die zu Zuchthaus verdonnert wurden, weil sie gegen Flades Verurteilung protestiert hatten.

Es wird ein Teil jenes jungen Widerspruchgsgeistes sichtbar, mit dem sich die Bewohner der frisch gegründeten DDR gegen die Entdemokratisierung des Landes wehrten. Und es waren nicht wenige, die in den 1950er Jahren die Gefängnisse des Ostens als „politische Gefangene“ füllten. Und nicht alle überlebten das.

Hermann Flade hat es überlebt, wenn auch gesundheitlich schwer angeschlagen. 1960 wurde er amnestiert, ging in den Westen, wo schon seine Eltern lebten, die geflohen waren, als auch gegen sie die Bespitzelungen und Erpressungen immer massiver wurden. Flade holte sein Abitur nach, studierte und schrieb auch eine Doktorarbeit, die Karin König auch ausgiebig diskutiert. Ein wahrscheinlich wohl wirklich interessantes Stück, das ein wenig die Denkweise seines Doktorvaters, aber auch eine durchaus bedenkliche Zeitströmung beleuchtet, die damals freilich schon in der Kritik stand.

Die aber, wie wir wissen, heute durch neue „Vordenker“ des „christlichen Abendlandes“ wieder im Schwange ist. Ideologie nimmt zuweilen die seltsamsten Grautöne an. Aber sie macht auch Historiker und Politologen blind. Wer Geschichte in Parteifarben denkt, hat keine Distanz, der sieht nicht das Ganze, dafür den erklärten „Feind“ in Übergröße.

Und man darf nicht vergessen: Die zeitgeschichtlichen Schlachten tobten damals, Ende der 1960er Jahre mit voller Wucht. Dass die Studenten rebellierten und endlich eine Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit forderten, war ja nur die eine Seite des Schlachtfeldes. Auf der anderen griffen die Verteidiger des Muffs zu wesentlich größeren Keulen.

Und sie griffen massiv die Ostpolitik Willy Brandts an, die auch Flade kritisierte, weil er – wie viele seiner Leidensgenossen – befürchtete, dass damit die Schicksale der ostdeutschen Justizopfer beiseite geschoben würden.

Aber daran war Willy Brandts Entspannungspolitik nicht wirklich schuld. Daran ist viel eher das bis heute funktionierende deutsch/deutsche Denken schuld, das die deutsche Geschichte nach 1945 nach wie vor in zwei Hälften teilt und – da westdeutsch dominiert – mit dem östlichen Teil der Geschichte nicht viel zu tun haben will. Denn das hieße ja auch, den Osten von Anfang an in das eigene geschichtliche Agieren zu integrieren.

Karin König schildert es kurz an den Reaktionen zum Mauerbau, den der Westen von Anfang an als gegen sich gerichtet interpretierte (und damit stillschweigend die Interpretation der SED übernahm) und mit Flades Einwurf, die Mauer sei vor allem gegen die DDR-Bürger gerichtet, nichts anfangen wollte.

Diese Missverständnisse aus Ignoranz haben sich weit über 1989 hinaus fortgesetzt. Und es sind Autorinnen wie Karin König, die mit der Erinnerung an die damals Drangsalierten quasi einen Stachel setzen: Ihr werdet den Ostteil der Geschichte nicht los, egal, wie sehr ihr euch bemüht, das Kapitel DDR zu ignorieren. Es ist da. Und Geschichte wirkt fort – halt eben selten logisch, dafür oft sehr dissonant und seltsam.

Aber Hermann Flade hat das nicht mehr erlebt, auch wenn er sich klar war, dass die DDR in dem Moment zusammenbrechen würde, in dem Moskau beschließen würde, dass es dieses Stück Deutschland nicht mehr brauchte. Und der Widerspruchsgeist, der ihn zu seiner vielleicht nie wirklich durchdachten Tat trieb, ist auch nicht verschwunden. Er kam immer wieder an die Oberfläche. 1989 dann in einer Wucht, der die Machthaber in Ostberlin nichts mehr entgegenzusetzen hatten.

Hermann Flade starb schon 1980, nachdem er sich nicht nur den Wunsch zu studieren erfüllt hatte, sondern auch geheiratet und Kinder bekommen hatte. Aber wahrscheinlich waren es die Spätfolgen der zehn Jahre im Zuchthaus, die zu seinem frühen Tod führten. 1963 hat er seine Erinnerungen noch in der Autobiografie „Deutsche gegen Deutsche – Erlebnisbericht aus dem sowjetzonalen Zuchthaus“ niederschreiben können. Ein Buch, das zeitweilig nur noch antiquarisch vorlag.

Und auch wenn Karin König den Helden ihrer Recherche am Ende etwas kritisch sieht, ist ihr Buch tatsächlich die Wiedergewinnung eines Schicksals, das schon fast wieder im Vergessen zu verschwinden drohte. Gerade weil Hermann Flade kein „reiner“ Held ist, wird sichtbar, warum sein Beharren auf Freiheit so elementar ist – für eine Gesellschaft genauso wie für einen Menschen.

Egal, wie weit man sie definiert, ist sie der Punkt, an dem alle Selbstbehauptung beginnt, aller Anspruch auf ein selbst gestaltetes Leben. Und natürlich das, was die Würde eines Menschenlebens ausmacht. Wo diese Würde infrage gestellt wird, beginnt die Zerstörung einer Gesellschaft.

Und Hermann Flade steht beispielhaft für diesen Anspruch. Seine Biografie ergänzt die Reihe der Biografien ostdeutscher Dissidenten und einstiger Strafgefangener, die in der Regel mit den wertvollsten Jahren ihres Lebens dafür bezahlten, dass sie auch nur versuchten, Menschlichkeit und Freiheit einzufordern.

Es gehört zu unserer Geschichte. Aber wahrscheinlich dauert es noch eine Generation, bis Historiker/-innen beginnen, die deutsche Nachkriegsgeschichte als eine widersprüchliche Einheit zu betrachten, die man weder auflösen noch abspalten kann.

Karin König Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben, Lukas Verlag, Berlin 2020, 19,80 Euro.

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Es gibt 2 Kommentare

Sorry, Igor, Widerspruch! Der Beutelsbacher Konsens galt und gilt immer! Nur eben nicht so, wie ihn manch Konservativer oder Reaktionär gern hätte. Grundlage jedes Diskurses bleibt das Grundgesetz. Somit erreichen wir eine größtmögliche Breite des Meinungskorridors, schützen uns und andere jedoch auch gegen verfassungsfeindliche “Positionen”. Ganz einfach eigentlich.

Was ist denn hier los? Erst bekomme ich eine Mail vom Kultusministerium, das der Beutelsbacher Konsens immer noch Gültigkeit hat, was zuletzt de facto nicht mehr so war, nun lese ich, durch einen Artikel auf dem Blog von Vera Lengsfeld aufmerksam gemacht, diesen Artikel in der Leipziger Internetzeitung, man könnte fast glauben, der Spuk der vergangenen Jahre ist endlich vorbei und die geistige und körperliche Gewalt hat auch bald ein Ende, die Debattenräume stehen wieder für alle offen und der Meinungskorridor ist auch wieder breit und sogar begehbar, die Kontaktschuld wird abgeschafft. Was hat dieses Wunder bewirkt? War der Widerstand zu groß, will man uns hinter die Fichte führen, hat man Angst vorm Superwahljahr 2021? Könnt ihr mir das verraten?
Einer von Euch hat doch bestimmt Kontakt zu einer der 3,5 linken Parteien.

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