Dieses Geburtstagsfest fiel gründlich ins Wasser, oder besser: dem Corona-Ausnahmezustand zum Opfer. Am 11. Mai hätte Bodenwerder so gern den 300. Geburtstag seines berühmtesten Einwohners gefeiert. Aber die Feier musste ausfallen. Vielleicht wird sie im Herbst noch nachgeholt. Dafür hat sich der Leipziger Verleger Michael Faber einen großen Wunsch erfüllt: Er hat die Geschichten des Lügenbarons von Thomas M. Müller illustrieren lassen.

Das Buch ist jetzt erschienen, mit über 30 farbigen Druckgrafiken von Thomas M. Müller, der an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Professor für Illustration ist und sich seinen verschmitzten, fast kindlichen Blick auf die Bilder zum Buch bis heute bewahrt hat. Bilder müssen Geschichten erzählen. Oder weitererzählen.

Wenn sie bloß zeigen, was auch der Text erzählt, kann man sie sich auch sparen. Und wenn Geschichten nicht mehr bieten als den üblichen Smalltalk, kann man sie auch gleich ungedruckt lassen. Und eins ist sicher: Gottfried August Bürger hätte sich gefreut, wenn sein Münchhausen genau so illustriert und auch noch in rotes Leinen eingebunden und im Schuber angeboten erschienen wäre.

Aber so weit war das druckgrafische Gewerbe zu Bürgers Zeit noch nicht. Illustrationen wurden noch brav in Kupfer gestochen und blieben eigentlich bis ins 20. Jahrhundert hübsch schwarz/weiß. Insofern erstaunt es schon, dass Illustrationen sogar im späten 20. Jahrhundert fast völlig aus den Büchern für Erwachsene verschwanden. Während Kinderbücher immer bunter wurden und die begnadeten Illustrator/-innen dort ihrer Phantasie freien Lauf ließen, wurden die Verlage selten, die sich tatsächlich mit Eifer um das Buch als Gesamterlebnis kümmerten. Um Bücher als Erlebnis. Als Bühne.

Was Müller mit seinen Grafiken für die 17 Kapitel der Münchhausen-Abenteuer auch noch doppelbödig inszeniert. Denn ihm ist bewusst, wie sehr der berühmte Freiherr in seinem Schloss in Bodenwerder es genossen haben muss, wenn seine Gäste ihm lauschten, regelrecht gespannt darauf waren, welche verrückte Pistole er diesmal erzählen würde. Denn dass die Geschichten des Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen schon zu seinen Lebzeiten hinausgingen in die Welt, erzählt ja davon, dass sie stets vor Publikum erzählt wurden, vor Leuten, die ein wirklich gutes Jäger- und Soldatenlatein zu schätzen wussten.

Wer kann heute noch so erzählen? Gibt es überhaupt noch Menschen, die das draufhaben? Denen die ganze Familie mit Stielaugen und Riesenohren zuhört, weil sie etwas zu erzählen haben? Und weil sie es gut können. Denn es ist ein Riesentalent, eine wirklich gut erfundene Geschichte auch so zu erzählen, dass alle gespannt auf die Pointe warten.

Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Foto: Ralf Julke
Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Foto: Ralf Julke

Wer die Münchhausen-Geschichten liest, merkt, dass sie nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun haben, was wir heute Fakenews nennen. Wer sich seines Könnens als Erzähler sicher ist, der erzählt keine Fakenews. Der versucht auch nicht, seine Zuhörer und Leser für doof zu verkaufen. Es gibt genug Stellen in den Münchhausen-Geschichten, die vom Augenzwinkern leben, die von der Freude des Erzählenden künden, dass er Zuhörer hat, die den Spaß der wilden Übertreibung zu schätzen wissen.

Und die dennoch auch wissen, dass das Soldatenleben des zum Ruhestand verdammten Freiherrn wohl nie so phantastisch gewesen ist. Manche Geschichten leben sogar davon, dass die Leser wissen, wie hier einer mit Lust und Begeisterung auch gleich noch physikalische Gesetze außer Kraft setzt, einfach, weil das mit menschlicher Phantasie möglich ist.

Die Geschichten sind eine Feier der menschlichen Fabulierlust, die nun einmal erst wirklich funktioniert, wenn beide Seiten wissen, wie sehr hier einer den Faden des Unmöglichen spinnt. Deswegen unterscheiden sie sich grundlegend von den phantastischen Erzählungen des Mittelalters, in denen man tatsächlich ernsthaft von Einhörnern, Drachen und Schimären berichtete. Das konnte ja keiner nachprüfen. Die großen Weltreisen begannen erst mit der Neuzeit.

Und manche Münchhausen-Geschichte ist gerade deshalb gespickt mit zu seiner Zeit weltberühmten Forscher- und Entdeckernamen.

Das ist zwar nicht mehr der originale Münchhausen, der seine Erzählungen ja bekanntlich nicht selbst veröffentlicht hat. Ach, hätte er doch nur, seufzt der Leser. Denn selbst das, was in den ersten Abenteuern überliefert ist und was wahrscheinlich direkt auf den unterhaltungsfreudigen Freiherrn zurückgeht, lässt vermuten, dass er noch viel mehr solcher Geschichten aus Jagd- und Soldatenleben erzählt hat. Seine Flunkerabende konnten nur berühmt werden, weil es jedes Mal Neues und Unerhörtes von ihm gab.

Wirklich zum viel gelesenen Buch hat ja erst der nach England geflüchtete Rudolf Erich Raspe die Geschichten des erzählfreudigen Barons gemacht, der die Weltmeere nie bereist hat. Die Seeabenteuer kamen alle erst in England hinzu, denn Raspe zielte ja mit „Baron Munchhausens Narrative of His Marvellous Travels und Campaigns in Russia“ und den immer mehr erweiterten Folgebänden auf die englischen Leser. Gottfried August Bürger hat die Geschichten nicht nur wieder zurückübersetzt ins Deutsche, sondern sie literarisch verwandelt, ihnen seinen ganz eigenen Erzählstil verpasst.

Man hat also einen echten Bürger vor sich. Und wer aufmerksam ist, überliest auch nicht all die Spitzen gegen die Herren Fürsten, etwa jenen exotischen Herrscher, der, um seine Schatzkammern zu füllen, seine Landeskinder als Soldaten ins Ausland verkaufte: „Seine Insel hatte keinen auswärtigen Feind zu fürchten; dessen ungeachtet nahm er jeden jungen Kerl weg, prügelte ihn höchst eigenständig zum Helden und verkaufte von Zeit zu Zeit seine Kollektion dem meistbietenden benachbarten Fürsten, um zu den Millionen Muscheln, die er von seinem Vater geerbt hatte, neue Millionen zu legen. Man sagte uns, er habe diese unerhörten Grundsätze von einer Reise, die er nach dem Norden gemacht habe, mitgebracht …“

Für diese Praxis war ja besonders Friedrich II. von Hessen-Kassel berühmt.

So werden die so herrlich übertriebenen Lügengeschichten zur Maskerade, steckt hinter dem Erzählten immer noch ein weiterer Hintergedanke, eine Spitze, eine kleine Zeitkritik. Kein Wunder, dass nicht nur Thomas M. Müller diese Geschichten als kleine Kabinettstücke empfindet mit einem seiner Fabulierkunst stets sicheren Erzähler auf der Bühne, der genau weiß, dass seine Zuhörer die versteckten Anspielungen und Sottisen sehr wohl verstehen und sich auch deshalb bestens unterhalten fühlen. Die Maskerade ist Teil der Szene.

Und so zeichnet Müller denn auch die Abenteuer des übermütigen Barons, der die ganze Zeit weiß, dass ihm alle gebannt zuhören und nur darauf warten, dass hinter seinen mächtig-gewaltigen Abenteuern die Anspielung sichtbar wird auf die durchaus weniger bombastische Realität, als Inszenierung. Jedes Bild ist ein kleines Bühnenbild, in dem die Zutaten der Münchhausen-Geschichten sich in Requisiten verwandeln, die der eine und einzige Hauptdarsteller souverän zu benutzen weiß, um vor den Augen seines Publikums phantastische Welten auferstehen zu lassen.

Mit den Seereisen immer phantastischer werdend und die durchaus auch deprimierende Wirklichkeit eines niedersächsischen Kleinadligen verlassend, für den eine Dienstverpflichtung als Offizier in der russischen Armee schon ein Weltabenteuer war.

Aber was wären wir ohne unser Kopftheater, ohne die Phantasie begnadeter Erzähler, die uns aus dem drögen Alltagsschlamassel entführen und die Welt der Phantasie in Bewegung setzen? Und zwar nicht als passives Fastfood aus der Röhre, in dem alles überzuckert und übersalzen ist. Sondern als Anregung zum Selberkochen mit exotischen Zutaten. Denn jeder erlebt ja beim Lesen seine eigenen Münchhausen-Abenteuer.

Auch wenn die nach dem Lesen und Genießen dieses Buches wohl von einem fröhlichen Schauspieler mit spanischem Bart und langer Nase dominiert sein werden, also dem Müllerschen Münchhausen, dem es ein Lebensbedürfnis ist, seinen Mitmenschen nicht nur Bären aufzubinden, sondern auch Krokodile, Wölfe und riesige Wale, die jedes Kaminzimmer sprengen.

Ein Buch für alle Sinne. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen.

Gottfried August Bürger; Thomas Matthaeus Müller Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, Faber & Faber, Leipzig 2020, 36 Euro.

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