Es ist noch gar nicht lange her, da wurde in den Medien noch eifrigst รผber einen Schwammbegriff wie Heimat debattiert. Meistens von irgendwelchen Werte-Politikern, die sich eine offene Welt mit freien Menschen einfach nicht vorstellen kรถnnen. Bei Heimat denken die meisten Menschen trotzdem an alles Mรถgliche. Und am kompetentesten kรถnnen darรผber immer noch die Dichter/-innen schreiben. So wie im neuesten โ€žPoesiealbum neuโ€œ.

In dem versammelt ja die Gesellschaft fรผr zeitgenรถssische Lyrik regelmรครŸig Gedichte zu Themen der Zeit. Vorher gibtโ€™s immer den groรŸen Aufruf. Und dann senden Autor/-innen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum ihre Texte ein. Und weil sie sich frisch mit dem ausgeschriebenen Thema beschรคftigen, werden die entstehenden Bรคnde dann wie eine Expedition ins Gewisper der Zeit.

Regelrechte Gegenentwรผrfe fรผr das meist geist- und gedankenlose Blabla in Politik und Medien. Denn Dichter/-innen nehmen sich heraus, gehen auch mal allein spazieren, um die Gedanken zu sammeln oder herauszufinden, wie sie ein gestelltes Thema tatsรคchlich berรผhrt, was daran fรผr sie wirklich sagenswert ist. Und wichtig.

Und dann ist ja da noch der Schreibvorgang am einsamen PC oder mit Bleistift auf der Parkbank, oder wo immer man heute so Gedichte in Form bringt. Das Niederscheiben und In-Form-Bringen zwingt zur Konzentration. Und da passiert meist noch etwas Anderes: Die Schreiber/-innen ertappen sich selbst, merken, dass hinter dem So-Hingedachten noch ein Anderes steckt, das Nicht-Ausgesprochene, das Eigentlich-Verstรถrende.

Da klingt es nur im Hefttitel scheinbar banal, wenn dem Begriff Heimat gleich der Begriff Heimatverlust gegenรผbersteht. Was so fern nicht liegt, da gerade die รคlteren Mitglieder der Lyrikgesellschaft noch Kriegs- und Nachkriegskinder sind: Ihnen ist sehr wohl bewusst, wieviele Millionen Deutsche vor 75 Jahren Fluchterfahrungen gemacht haben und wie sie der Status, Flรผchtlinge zu sein, noch jahrzehntelang prรคgte und unterschied von den Nachbarn.

Wer da in die die eigene Familiengeschichte hineinhorcht, der kennt die komplexen Verwirrungen, die dieses Dasein als Zugewanderter mit sich brachte, ganz zu schweigen von den vielen Erinnerungen der Eltern und GroรŸeltern, die ihre Heimat im Herzen mit sich trugen. Das verklรคrt natรผrlich den Heimatbegriff โ€“ und vermengt ihn mit Herkunft, geografischer und sprachlicher Verortung. Auch das gehรถrt dazu, wenn die in diesem Heft versammelten Autor/-innen ihr Verstรคndnis von Heimat ausloten.

Und es รผberrascht nicht, dass viele Texte geradezu mit Wehmut eintauchen in die Natur-Bilder aus der Kindheit. Denn das prรคgt nun einmal fรผrs Leben. Egal, wo Menschen groรŸ geworden sind. Die StraรŸen, Gรคrten, Flรผsse und Wรคlder aus den Kindertagen bilden in der Erinnerung einen Topos, an dem sich alles orientiert und der selbst nach Jahrzehnten noch wirkt und den MaรŸstab setzt fรผr Vertrautheit.

Da weht einen etwas an โ€“ nur dass die meisten Autor/-innen keineswegs so naiv sind, diese Kindheitsorte mit Heimat zu verwechseln. Denn die positive Besetzung mit Gefรผhlen trรผgt in der Regel, weil das Gehirn alles in den hintersten Schubladen verstaut, was das Kind damals verstรถrte. Denn heil sind alle diese Landschaften keineswegs, wie etwa Waltraud Zechmeister feststellt.

Und sage keiner, ihm wรคren diese Phrasen in seiner Kindheit nicht begegnet: โ€žHeimat / ist blau wie eine Haubitze / assoziiert Blut und Boden / kotzt sich voll an / (โ€ฆ) geht ins Exil / ist nicht kleinzukriegen / verlรคuft sich in der Fremde โ€ฆโ€œ

Und so Mancher hat selbst beim Lesen solcher Zeilen Dorfidylle vorm inneren Auge, ein hรผbsches Kirchtรผrmchen, grasende Schafe und Leute in Trachten, die frรถhlich grรผรŸend (wie in deutschen Heimatfilmen) zum Gottesdienst eilen. Heimat ist echter Kitsch fรผr alle. Und trotzdem die โ€žMitte der Weltโ€œ, wie Heidrun Stรถdtler schreibt.

Nicht nur, weil man immer wieder dorthin zurรผckkommt, weil dort Vaters Haus steht. Sondern weil man in vielen Situationen im Leben diesen Flashback erlebt, dass man wieder in den alten Kulissen landet: โ€žmeine Flรผsse sind hier / eh sie verschwindenโ€œ. Auch Heidrun Strรถdtler verbindet, wie man sieht, das Gefรผhl von Heimat mit dem eigentlich nicht davon zu trennenden โ€žalles flieรŸtโ€œ. Die Flรผsse bringen es ins Bild.

Und auch die รคlteren Autoren begreifen Heimat oft auch als Ort, an dem das Bewusstsein dafรผr entstand (manchmal auch als Erschrecken), dass nichts so bleiben wird. So wie Detlev Block in seinen Gedicht โ€žHauptbahnhof Hannover. September 1943โ€œ: โ€žAusblick begrenzt, / Fahrplรคne unverlรคsslich / in jeder Richtung / gefรคhrdete Streckenโ€œ. Sein Fazit: โ€žgewiss / nur das Eine: / dass keiner bleibt, / wo er istโ€œ.

Geht es noch deutlicher? Heimat ist รผberhaupt erst greifbar, wenn man weggegangen ist, wenn man vergleichen kann und auch weiรŸ, was unsichere Wege sind. Da muss man gar nicht an all die Menschen denken, die seit 2015 ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rรผckten und unsere heimischen Merkenixe auf die StraรŸen brachten. Die nicht einmal begriffen haben, was Marlene Schulz im Nachdenken รผber ihr Heimat-Gefรผhl schreibt: โ€žHeimat ist Wertschรคtzung und Aufmerksamkeit, / dort, wo achtsam mit mir umgegangen wird. โ€“ Heimat ist auch da, wo ich achtsam mit mir umgehe.โ€œ

Das muss nicht der Ort der Kindheit sein. Man merkt: Es geht um Menschen und menschliche Beziehungen. Und darum, dass man manchmal sogar weggehen muss, um seine Heimat zu finden. Erklรคr das mal einer den Kleinkarierten, die niemals weggehen, nicht mal dann, wenn sie Flugreisen und Kreuzfahrten buchen. Man muss auch bereit sein, den Kokon zu verlassen, wenn man mal Welt erfahren mรถchte.

Da erfรคhrt man dann nรคmlich, dass es โ€ždie Heimatโ€œ gar nicht gibt. Wie auch. Wie soll etwas bleiben, wenn die Alten sterben, neue Menschlein geboren werden, andere wegfahren, weil es ihnen daheim zu klein geworden ist? Selbst was scheinbar wirkt, als wรคre es schon immer so gewesen, hat sich verรคndert. Manchmal nicht zum Besseren, was die zeitweilig Heimkehrenden oft schon merken, wenn ihnen das Fremdgewordene am Ortseingangsschild entgehen weht.

Wo also das finden, was auch die Dichter trotzdem Heimat nennen?

Jedenfalls nicht da, wo es die von Schulz erwรคhnten Erzkonservativen vermuten. Im Gegenteil, schreibt Leipzigs grรถรŸter Sucher in seinem Gedicht โ€žMarkkleeberger Elegieโ€œ. Wenn die SpieรŸer anfangen von Heimat zu reden, sollte man wohl schleunigst Fersengeld geben, da mรถchte man nicht dabei sein. Man erinnere sich an Waltraud Zechmeister: โ€œHeimat (โ€ฆ) liegt im Schรผtzengraben / kann nicht einschlafen / ist verdammt in alle Ewigkeit.โ€œ

Und was sagt Leipzigs Sucher dazu? Andreas Reimann: โ€žUnd ich?: such ich die freuden, die verlorโ€™nen? / Nur wo man nicht ist, ist das Vaterland.โ€œ

Das ist zwar auf die verlorenen Landschaften im Leipziger Sรผden gemรผnzt. Aber es impliziert so viel mehr, weil es auch in Worten steckt. Und manchmal kann man sogar froh sein, wenn das Vaterland anderswo ist, das, was andere Leute ja so gern mit schnedderedรคng als Heimat hochjubeln, auch wenn es nur ein Phantom ist, ein mit Wagner-Pathos aufgeladener Uniform- und Bรผhnenklamauk, mit dem die Einvernahme ins Bombastische gesteigert wird.

Mit Dichtern lernt man hinter Ecken sehen und hinter die pathologischen Kulissen. Carsten Stephan greift gar, um sein Entsetzen รผber die kรผnstlich geschaffene Heimat-Kulisse von Alt-Frankfurt zu beschreiben, zu Heines Wintermรคrchen-Ton: โ€žBaut endlich die deutsche Stadt wieder auf, / Und gebt uns zurรผck den Kaiser!โ€œ

Aber diese romantische Rekonstruktion eines vergangenen Heimatgefรผhls entlarvt ja geradezu die Unbehaustheit der Heutigen, die zumindest ahnen, dass das Gefรผhl des Haltlos-Seins viel mit der eigenen Unfรคhigkeit zu tun hat, innezuhalten und sich zu erden. Und so รคhnelt dieser Zustand von Leuten, die eifrig โ€žHeimatโ€œ rekonstruieren, erstaunlicherweise dem eines wirklich heimatlos Gewordenen: Max Herrmann-NeiรŸe, der sein Gedicht โ€žHeimatlosโ€œ mit den Worten enden lรคsst: โ€žDie Eingebornen trรคumen vor den Toren / und wissen nicht, daรŸ wir ihr Schatten sind.โ€œ

Er starb 1941 im Exil in London.

Poesiealbum neu โ€žHeimat & Heimatverlustโ€œ, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2020, 6,50 Euro

Hauptstadt der Sehnsucht: Ein ganzes Poesiealbum รผber die Stadt der unerfรผllten Trรคume

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