Als die Edition Leipzig 2005 das Büchlein „Bach, Mendelssohn und Schumann“ herausgab, war das wie ein früher Bote fürs Stadtmarketing. Erst in den Folgejahren wurde das Leipzigmarketing auf die „Musikstadt“ zentriert und die Stadtführer durch die Musikstadt sprossen aus dem Boden. Der Henschel Verlag hat den Frühlingsboten von 2005 komplett überarbeitet und neu aufgelegt.
Er enthält sechs musikalische Spaziergänge, ist also auch schon so etwas wie die Begleitmusik zur Leipziger Notenspur, die ebenfalls 2005 Gestalt annahm. Es lag halt in der Luft. In allen tourismusrelevanten Organisationen wurde diskutiert: Was soll künftig in Leipzig das Hauptthema fürs Marketing sein? Womit kann Leipzig gegenüber anderen deutschen Kulturstädten auftrumpfen? Denn 2005 war auch ein Jahr, in dem sich schon abzeichnete, dass der Städtetourismus sich deutlich verstärken würde.
Und dass Leipzig wahrscheinlich gute Karten haben würde im Wettbewerb um diese wissbegierige Zielgruppe. Es gibt keine andere deutsche Großstadt, die mit so vielen berühmten Musikern werben kann. Es ist tatsächlich so, wie schon die Musikkritiker des 19. Jahrhunderts feststellten: Die Konkurrenz bei diesem Thema heißt tatsächlich nur Wien und Paris.
Und es hat funktioniert. Die Zahl der Übernachtungen in Leipzig verdoppelte sich – von damals 1,7 Millionen auf 3,6 Millionen im Jahr 2019. Denn es spricht sich herum, wenn eine Stadt den Besuchern gefällt. Und viele haben das 2005 erschienene Büchlein mitgenommen. Wahrscheinlich ein wenig fußlahm. Aber angefüllt mit vielen Eindrücken von einer Stadt, die durchaus voller Musik ist, wenn man sich darauf konzentriert.
Drei der sechs Spaziergänge widmen sich logischerweise den namhaftesten der Leipziger Musiker/-in: Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy und Clara und Robert Schumann. Zu allen gibt es jeweils ein Dutzend Stationen vor allem im Stadtzentrum, die man tatsächlich in einem Spaziergang miteinander verknüpfen kann. Und die Höhepunkte in diesen Spaziergängen sind logischerweise die Museen und Erinnerungsstätten – bei Bach ja vor allem Thomaskirche und Bach-Museum, bei Mendelssohn das Mendelssohn-Haus und bei den Schumanns ihre Wohnung in der Inselstraße.
Und da Anselm Hartinger und Petra Dießner die Spaziergänge sehr nah an den Leipziger Lebensabschnitten der gewürdigten Persönlichkeiten erzählen, taucht man beim Gehen regelrecht ein in die Welt der Porträtierten. Dazu braucht man natürlich ein bisschen Phantasie. Auch Hartinger und Dießner lassen sich die Gelegenheit nicht entgehen, beherzt über die bauwütigen Leipziger vor 120 Jahren zu schimpfen, die lauter Häuser, die eng mit den Berühmten verbunden waren, einfach abgerissen haben.
So wie die alte Thomasschule am Thomaskirchhof mitsamt der Kantorenwohnung, in der ja Bach einst lebte und arbeitete. Oder wie das Geburtshaus Richard Wagners am Brühl, was ja die Wagner-Liebhaber bis heute ärgert, weil es das fast unmöglich macht, auch für Richard Wagner in Leipzig eine authentische Erinnerungsstätte zu schaffen.
So rutscht Wagner dann in Spaziergang Nummer 4, den die beiden Herausgeber ganz bewusst „Leipzig – (K)ein Platz für neue Töne?“ benannt haben, weil er zu all den Berühmten führt, die oft im Schatten der vier Giganten verschwinden, aber ebenso für den hohen Anspruch der Musikstadt Leipzig stehen – so wie Wagner, Hiller, Marschner, Mahler – dem man dann in Spaziergang Nr. 5 begegnet. Denn natürlich spielte sich auch das musikalische Leben Leipzigs ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur im alten Stadtkern ab. Schon Mendelssohn und die Schumanns waren ja vor die Stadt gezogen, ins grüne Vorland.
1883 wurde auch das neue Gewandhaus außerhalb der Stadtmitte gebaut: Es wurde zum zentralen Punkt des neuen Musikviertels. Und dort beginnt dann auch dieser fünfte Spaziergang, mit dem der Neugierige im Grunde die Musikstadt des späten 19. Jahrhunderts und ihre berühmtesten Protagonisten kennenlernt. Es ist ein Spaziergang, auf dem die Autoren auch eine kleine Pause empfehlen, denn er führt bis ins Waldstraßenviertel, eigentlich sogar bis ins Rosental.
Auch hier lassen die Autoren der einzelnen Texte all die großen und kleinen Geschichten nicht weg, die das Kommen und Gehen der Berühmten in Leipzig begleiteten. Denn ohne Konflikte ging es ja nie ab. Da ärgerte sich Bach mit dem Leipziger Rat herum, verweigerte Friedrich Wieck seine Zustimmung zur Heirat von Clara und Robert, zeterte der frustrierte Wagner darüber, dass man ihn in Leipzig nicht anhimmelte, ärgerte sich Mahler über seinen erfolgreicheren Konkurrenten Nikisch usw.
Wer diese sechs Spaziergänge absolviert, macht die schöne Erfahrung, dass Musiker auch nur Menschen sind. Dass andererseits auch Musik etwas sehr Sinnstiftendes ist, egal, ob dabei ein begnadeter Musikkritiker wie Robert Schumann in Aktion tritt oder eine bezaubernde Sängerin wie Livia Frege, ob es die Mendelssohnschen Benefizkonzerte für das Bachdenkmal sind oder der Wunsch Leipziger Kaufleute, ein Großes Concert auf die Beine zu stellen.
Farblich untersetzte Einklinker beleuchten einzelne Punkte, die über den jeweiligen Spaziergang hinausweisen – so wie die Grieg-Gedenkstätte oder den Großen Kuchengarten im Schumann-Spaziergang, die Geschichte der Bach-Porträts im Bach-Spaziergang oder Felix Mendelssohn Bartholdys Beziehung zur Religion.
Zu den drei Musiker-Gedenkstätten gibt es dann auch noch Extra-Kapitel, in denen ihre Baugeschichte und ihre Rekonstruktion als Museum geschildert werden. Man bekommt also wieder ein sehr kompaktes Taschenbuch mit vielen Bildern, eingebauten Karten, die die jeweilige Route im Stadtplan sichtbar machen, und jede Menge kleiner und großer Geschichten, die eben auch zeigen, wie persönlich die Beziehung der Leipziger zu ihren berühmten Musikussen ist. Und wie persönlich die jeweilige Beziehung der Berühmten zu Leipzig.
Und da ja in der Zwischenzeit auch einige große Jubiläen gefeiert wurden und in diesem Zug auch manches aufgefrischt und renoviert, wurde auch der Inhalt des Buches auf den neuesten Stand gebracht. Was einen daran erinnert, was wir da so alles gefeiert haben – 2009 Felix Mendelssohn Bartholdy, 2019 Clara Schumann, 2012 die Thomaner, 2010 Robert Schumann und Gustav Mahler …
Nach fünf Spaziergängen hat der Wanderer natürlich so viel Musik im Kopf, dass er sich schon richtig freut auf den eher stillen Spaziergang durch Schönefeld und Abtnaundorf auf den Spuren Claras und Roberts, Richards und Livias. Denn Musiker liebten auch immer das Grün rund um Leipzig, wohnten auch gern da. Jedenfalls liefen sie alle immer gern zu Fuß durch die Welt und erholten sich auch so vom täglichen Stress oder den Niederschlägen des Schicksals.
Und die Forscher von heute freuen sich über jeden Schnipsel an Persönlichem, der aus den so Berühmten dann bei näherem Hinsehen dann doch quicklebendige Personen macht, denen man nur zu gern begegnen würde. Aber näher als auf diesen Spaziergängen kommt man ihnen nicht mehr.
Anselm Hartinger; Petra Dießner Spaziergänge durch das musikalische Leipzig, Henschel Verlag, Leipzig 2020, 12 Euro.
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