Es war ein langer Weg, bis auch nur ansatzweise das soziale Sicherungssystem entstand, wie wir es heute kennen. Auch der Leipziger Rat musste erst lernen, wie man mit den Armen und Hilfebedürftigen in der Stadt umgehen kann. Denn obwohl auch das Mittelalter Armut und Fürsorge kannte, stellte sich das Thema mit Beginn der Neuzeit völlig anders. Und es waren Menschen wie Apollonia von Wiedebach, die begriffen, in welcher Dimension sich die heraufdämmernde Gesellschaft dem Thema stellen musste.

Angie-Sophie Richter, die sich des Themas in ihrer Bachelorarbeit 2016 annahm, verwendet im Untertitel ihres Buches den Begriff „Vorabend der Reformation“. Die Historiker tun sich schwer, diesem Zeitenumbruch einen wirklich sinnvollen Namen zu geben. Obwohl es einen gibt. Aber der stammt dummerweise aus der marxistischen Geschichtsschreibung, wo man sich immer bewusst war, dass gesellschaftliche Umbrüche immer mit großen wirtschaftlichen Veränderungen zusammenhängen.

Seit die Marxisten im Keller in ihrer Büßerzelle sitzen, wird Geschichtsschreibung oft wieder zu einem mystischen Orakel, wird gar so etwas wie die Reformation zum Auslöser und zur Zeitenwende hochstilisiert, obwohl selbst die Kirchenhistoriker wissen, dass die Reformation Ergebnis einer schon länger sichtbaren Veränderung war.

Einer Veränderung, die mit der Herausbildung des frühen Finanzkapitalismus zu tun hat. Wofür auch eine Person wie Apollonia von Wiedebach steht, die deshalb so ein immenses Erbe zu verteilen hatte, weil sie die Tochter einer reichen Freiberger Ratsherrenfamilie war und nacheinander zwei reiche Leipziger Amtsträger und Geschäftsmänner heiratete.

Ein Großteil ihres Vermögens stammte aus dem erzgebirgischen Bergbau und dem Handel mit den Erzen. Wer über die reichen Leipziger Ratsfamilien zur Lutherzeit schreibt, schreibt über Menschen, die längst kapitalistisch dachten und handelten. Und auf deren Fachwissen im Umgang mit Geld auch die sächsischen Herzöge zurückgriffen.

Georg von Wiedebach, Apollonias zweiter Mann, war sogar Gläubiger und Kreditgeber des Fürsten. Es gibt nicht viele Zeugnisse zum Leben Apollonia von Wiedebachs. Aus ihnen lässt sich aber – wie Angie-Sophie Ritter es tut – dennoch das Leben einer Frau skizzieren, die sich ihres Standes sehr wohl bewusst war, ihren Männern beim Umgang mit Geld das Wasser reichen konnte, und die sich, als sie 1525 ihr Testament aufsetzte, zu einem Schritt entschloss, der für Angehörige der reichen sächsischen Patrizierfamilien ungewöhnlich war: Sie vererbte den enormen Reichtum von über 40.000 Gulden nicht in der Familie, sondern gab den größten Teil in die Armenfürsorge der Stadt Leipzig.

Einige Historiker haben ja versucht, die Wiedebachs zu heimlichen Anhängern der Reformation zu machen. Immerhin hatte ja 1519 die Disputation in Leipzig stattgefunden. Und viele Leipziger waren tatsächlich heimliche Anhänger Luthers. Die Interpretation des christlichen Glaubens, wie sie in Luthers Schriften steckt, traf den Nerv der Zeit, sprach das aufkommende bürgerliche Selbstbewusstsein an und deklarierte ja etwas, was bis heute Kern der kapitalistischen Gesellschaft ist – die Freiheit des Individuums in seinen Gewissensentscheidungen.

Aber das war auch schon vorher da. Dazu mussten die Wiedebachs keine Lutheranhänger werden. Es lässt sich sogar im Stiftungsverhalten der Leipziger Bürger nachweisen. Das Testament der Apollonia von Wiedebach ist zwar eine echte Ausnahme. So radikal hat auch nach ihr niemand aus den reichen Leipziger Ratsfamilien sein Geld in die Armenfürsorge gespendet. Aber das Denken war auch den Standesgenossen der Apollonia nicht fremd.

Nichts im Testament deutet darauf hin, dass die Honoratioren, die Apollonias Testament beglaubigten, nicht verstanden, warum sie das tat. Denn die städtische Armenfürsorge, die manche Autoren erst mit den Gemeinen Kästen der Lutherzeit in Verbindung bringen, war in Städten wie Leipzig schon vorher entstanden.

Die Kirchen und Klöster konnten diese Fürsorgeaufgaben in den Städten der Neuzeit schon lange nicht mehr erfüllen. Viele einst kirchlich entstandene Institutionen wechselten schon im Hochmittelalter in den Besitz der Stadt.

Längst liegen ja ausgiebige Untersuchungen zum Johannishospital und zum St. Georg vor, die auch anhand alter Rechnungen zeigen können, wie die Stadt hier die Versorgung der Kranken und Aussätzigen organisierte. Auch Untersuchungen zur Bettelordnung gibt es schon. Die Funktion des Willigen Almosens streift die Autorin im Buch ebenfalls. Anfangs agierte auch der Leipziger Rat vor allem sicherheitspolitisch, versuchte das aufkommende Bettelwesen zu regulieren und stadtfremde Bettler auszuschließen.

Aber um 1500 brachen die Konflikte offen auf. Die alte, von Ständen und Zünften geprägte mittelalterliche Welt passte nicht mehr zum sich herausbildenden Selbstbewusstsein eines Bürgertums, das sich in den Städten zunehmend selbst verwaltete und sich dadurch auch für alles verantwortlich zu fühlen begann, was in „seiner“ Stadt geschah. Es schuf funktionierende Verwaltungen, erließ Marktordnungen und baute auch schon weit vor den lutherschen Kastenordnungen erste Fürsorgesysteme auf.

Und indem Angie-Sophie Richter sich das Testament Apollonia von Wiedebachs vornahm, eröffnete sie im Grunde ein neues Feld auch in der Leipziger Stadtgeschichtsforschung. Denn die Verfügungen der reichen Stifterin machen sehr deutlich, wie die durch den Rat organisierte Armenfürsorge damals funktionierte. Sie zeigen nicht alles.

Viele wichtige Quellen sind bis heute nicht erschlossen und der Forschung zugänglich. Andere sind im Lauf der Zeit verschwunden. Und die Autorin kann nur diskutieren, was da verschwunden sein muss, wenn man auf deutlich fundiertere Forschungsergebnisse in anderen deutschen Städten schaut.

Da es zur Verwendung des Wiedebachschen Stiftungsvermögens zumindest ein lückenhaftes Aktenkonvolut gibt, kann Richter durchaus Belastbares erzählen zur Zielgruppe der ausgereichten Unterstützungen. Womit sie zumindest erst einmal grob skizzieren kann, wie die städtische Armut damals eigentlich aussah. Da helfen dann auch Steuerverzeichnisse aus dieser Zeit, die zeigen, wer in Leipzig überhaupt in der Lage war, Steuern zu bezahlen und wer über Groschenbeträge zur Kopfsteuer nicht hinauskam. Richter diskutiert auch die Grenze dessen, was in Leipzig damals als Armut zählen konnte. Und sie folgte da Autoren aus anderen Städten, wenn sie die Grenze bei 20 Gulden Vermögen ansetzt.

Was zumindest ein grober Richtwert ist, um zu erfassen, dass eben nicht nur Tagelöhner, Bettler und Dienstboten zur städtischen Armut gehörten, sondern gerade in der Zeit, in der Appollonia von Wiedebach lebte, auch immer mehr Handwerker in Armut und Schulden abrutschten. Das ist der Punkt, an dem sichtbar wird, wie sehr sich die damalige Wirtschaftswelt änderte.

Besonders viele Handwerker, die dann als Geldempfänger aus der Wiedebachschen Stiftung auftauchen, waren eben nicht aus Alters- oder Krankheitsgründen in Notlage geraten. Viele hatten erst wenige Jahre zuvor das Leipziger Bürgerrecht erlangt, hatten sich in der Grimmaischen Vorstadt angesiedelt, schafften es aber nicht, sich einen stabilen Einkommenserwerb aufzubauen. Insbesondere Schuster, Schneider und Tischler hatten unter dieser Not zu leiden.

Ihre Hoffnung, in der reichen Stadt Leipzig eine Startchance zu bekommen, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Für all die Hoffnungsvollen reichte die Nachfrage nicht. Wobei Richters Analyse natürlich nicht zeigt, ob das dauerhaft so blieb oder nur auf die betrachteten Zeiträume zutrifft.

Was ihre Analyse der Spendenverteilung durch den Rat aber sichtbar macht, ist, dass das Bestreben der Ratsherren ganz und gar nicht war, das Wiedebachsche Geld einfach über alle Armen in der Stadt zu verteilen. Gerade die Allerärmsten – die Dienstboten und Mägde – kommen praktisch nicht vor. Auch nicht die Bettler, Alten und Kranken. Und wenn sie auftauchen, dann nicht in dieser Rolle.

Denn augenscheinlich bemühten sich die Ratsherren, wenn sie auf die Vorschläge von Fürbittern reagierten, vor allem zu verhindern, dass Menschen erst in die absolute Armut abrutschten (und dann womöglich ein Fall für die städtischen Hospitäler und Armenhäuser wurden). Weshalb unter den Empfängern von eher punktuell und nicht dauerhaft gezahlten Beträgen vor allem Handwerker und ihre Familien zu finden sind.

Zuweilen verraten die Begründungen, welche konkrete Notlage mit dem Geld gestillt werden sollte. Mal war es Geld, um einen Schuldenberg abzutragen, mal Geld, das Krankheitsausfall kompensieren sollte, mal war es Geld für die Aussteuer der zu verheiratenden Töchter. Man ahnt so ein Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“, verbunden wohl mit der Erwartung, dass die einmal (selten öfter) gezahlte Summe dem Empfänger tatsächlich hilft, sich aus dem Schlamassel zu befreien und fortan wieder auf eigenen Füßen zu stehen.

Und wenn man die Sache erst so betrachtet, ahnt man auch, warum die Gelder nicht an die wirklich Armen flossen. Denn auch das kann Angie-Sophia Richter feststellen: Die finanziellen Spielräume der Stadt Leipzig waren sehr beschränkt. Um eine wirklich für alle Stadtbürger wirksame Fürsorge aufzubauen, war das durch Stiftungen verwaltete Vermögen viel zu gering.

Also lag es für diejenigen, die über die Vergabe der Zuwendungen entschieden, wohl nahe, lieber Bewerbern unter die Arme zu greifen, die mit einem zumeist einmaligen Geldbetrag wieder aus der Notlage herauskommen würden.

Angie-Sophie Richter versucht auch – soweit das durch verfügbare Archivalien möglich ist – die sozialen, wirtschaftlichen und familiären Beziehungen der Spendenempfänger zu ermitteln. Ein Stück weit kann man mit ihr so in eine Lebenswelt eintauchen, in der Handwerk für etliche Meister (von Gesellen ganz zu schweigen) keinen goldenen Boden hatte und wahrscheinlich auch viele Lebensträume in der für ihre Armut bekannte Grimmaischen Vorstadt endeten.

Immer wieder werden natürlich auch die Schicksale der Frauen, Witwen, Kinder zumindest gestreift. Gerade hohe Kinderzahlen waren für den Rat wohl ein ausschlaggebender Grund, die Bedürftigen zu unterstützen.

Es tauchen also eine ganze Reihe von Aspekten des sozialen Denkens auf, die für uns heute schon eher als normal gelten. Aber die Normative dieses Denkens bildeten sich erst in genau jener Zeit aus, für die Apollonia von Wiedebach so typisch-untypisch ist. Denn gerade weil sie einige ihrer Familienangehörigen gewaltig vor den Kopf stieß, weil sie den Großteil ihres Erbes der Armenfürsorge überließ, ging sie deutlich weiter als andere bekannte Stifter dieser Zeit, die deutlich kleinere Geldbeträge stifteten – vielleicht in der Annahme, das würde schon reichen.

Das Testament und die Erbeauflistung sind dem Buch übrigens beigefügt, sodass der Leser auch nachvollziehen kann, wie die Erbin jeden ihrer testamentarischen Wünsche begründete und welchen Hausrat sie tatsächlich hinterließ.

Im Ergebnis ist das Buch ein profunder Beitrag, der erstmals sehr detailliert zeigt, wie dieses neuzeitliche Fürsorgewesen in Leipzig funktionierte. Und wie das reiche Leipziger Bürgertum überhaupt erst einmal begann, sich die Sorge um die Armen in der Stadt tatsächlich zur Aufgabe zu machen, also nicht nur den eigenen Erfolg zum Maßstab des Handelns zu machen, sondern auch das Wohlergehen der Stadtgemeinde.

Denn man wohnte ja auch oft in engster Nachbarschaft, was Richter am nachbarschaftlichen Verhältnis von Fürbittern und Spendenempfängern punktuell zeigen kann. Aber die richtig Armen wohnten zum Teil auch mitten in der Stadt, nicht nur draußen in den ungeschützten Vorstädten.

Von Mägden und Dienstboten ganz zu schweigen, die ja in der Regel im Haushalt ihrer Dienstherren lebten und – wie auch bei der verwitweten Apollonia – am Ende oft die wichtigsten Bezugs- und Vertrauenspersonen und Pfleger waren. Natürlich tauchen auch sie im Testament auf.

Das Testament ermöglicht einen erstaunlich reichen Blick in ein Kapitel der Leipziger Fürsorgegeschichte, die in weiten Teilen noch völlig unbearbeitet daliegt. Die Autorin will sich dem Thema weiter widmen, das erstaunlicherweise sehr modern anmutet, weil der Grundkonflikt auch heute wieder aufreißt: Welche Verantwortung tragen die Reichen in einer Gesellschaft dafür, dass auch die Schlechtbezahlten, Armen und Bedürftigen gut versorgt sind? Oder wenigstens ausreichend versorgt sind und nicht dauerhaft abhängig von Almosen?

Gerade diese Frage zeigt, dass man der Zeit der Apollonia von Wiedebach nicht gerecht wird, wenn man sie als „Vorabend der Reformation“ bezeichnet. Das wird der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche, deren Resultat die Reformation war, nicht gerecht. Und es wird auch Persönlichkeiten wie Apollonia von Wiedebach nicht gerecht, die auf die für alle sichtbaren Veränderungen in der sozialen Schichtung der Stadt mit einer klaren Gewichtung in ihrem Testament reagierte. Die zwar auch noch viel Geld in ein kirchliches Totengedenken investierte – aber das war nicht der Löwenanteil. Den überließ sie den Bedürftigen. Und natürlich einem Rat, dem sie zutraute, die Gelder klug und sinnvoll einzusetzen.

Angie-Sophia Richter Das Testament der Apollonia von Wiedebach, Universitätsverlag Leipzig, Leipzig 2019, 34 Euro.

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