Er gehört zu den eindrucksvollsten Dichtern aus Sachsen. Und zu Recht will Utz Rachowski nicht zur DDR-Literatur gezählt werden. Überhaupt hat er eine nur zu berechtigte Abneigung gegen Schubladen. Auch gegen die Schublade „Dissidenten-Literatur“. Wenn sich der Vogtländer in Essays, Reden und Interviews mit seiner Lebensgeschichte und Literatur auseinandersetzt, dann wird das zu einer Diskussion, für die das deutsche Feuilleton sich meistens zu fein war.
Oder zu faul. Denn auch die Literaturkritiker lieben ihre Schablonen, ihre Welt in Schwarz und Weiß, die Säcke, in die sie Autorinnen und Autoren stopfen, wenn ihnen mal wieder Lust zum großen Haudrauf ist. Da werden die alten Debatten von vor 30 Jahren immer wieder aufgekocht – ohne Erkenntnisgewinn. Wie auch? Dazu müsste man ausgelatschte Wege verlassen. Aber das schaffen ja nicht mal die Nachbarredaktionen von Politik und Wirtschaft.
Ihr Blick auf den Flecken Erde, der mal 40 Jahre lang DDR hieß, bleibt der bebrillte Blick des Voyeurs, des Touristen, der extra mal anreist, um ein paar exotische Eingeborene zu bestaunen. Und dann schulterklopfend weiterzuziehen, alle Vorurteile über die hier Eingeborenen bestätigt sehend.
Vor-Urteile aber machen blind. Sie sorgen dafür, dass nur wahrgenommen wird, was ins Raster passt, eine Handvoll Vorzeige-Autoren aus dem Osten, die man immer wieder beklatscht. Sie passen so schön, weil ihre Bücher (scheinbar) bestätigen, was man so west- und südwärts immer schon über dieses unbegreifliche Stück Deutschland zu wissen vermeinte.
Dass auch einer wie der 1954 in Plauen geborene Dichter Utz Rachowski durch dieses Raster fällt, erscheint fast schon logisch. Er macht es den Kritikern nicht leicht, denn er bedient nicht das Plakative, schreibt keine Bücher, die man als „die Bücher zur Zeit“ bezeichnen könnte. Eigentlich hat er mit der heutigen Kritik dasselbe Problem wie mit den Staatswächtern, die ihn schon als Gymnasiasten plagten, ihm die Zukunft verbauten und ihn am Ende für fünf Gedichte, die sie als „staatsgefährdend“ bezeichneten, in den Knast steckten.
In mehreren der in diesem Band versammelten Texte beschäftigt sich Utz Rachowski mit diesen Vorgängen. Erstmals veröffentlicht er auch die noch erhaltenen Briefe aus seiner Haft. In Essays und Interviews erzählt er, was dieses rabiate Vorgehen der Stasi mit ihm anstellte, führt eigentlich vor, wie die Erziehungspraxis in der DDR tatsächlich funktioniert, wie geistlos und brutal sie war, denn sie zielte immer nur darauf, den Betroffenen zu brechen, kleinzukriegen.
Oder ihn am Ende einfach an den Westen zu verkaufen. Mut, ein aufrechter Gang, ehrliche Kritik waren nicht erwünscht. So, wie das bei unsicheren Herrschenden immer ist: Sie fürchten den Unbeugsamen. Sogar den, der einfach nur ehrlichen Herzens schreiben möchte. Menschen wie Jürgen Fuchs und Reiner Kunze, die Rachowski zu seinen Freunden zählt.
Wer in der DDR zu schreiben begann, hatte immer eine perfide Wahl – nämlich die, nur noch das Erlaubte und Erwünsche zu schreiben und damit einer jener Angepassten zu werden, deren Bücher heute so völlig ungenießbar sind. Oder die Autoren riskierten, die ungebildeten Staatslenker damit zu ärgern, dass sie ehrlich blieben und über das Menschliche schrieben. Das also, was sie wirklich erlebten und fühlten.
Was übrigens viele Dichterinnen und Dichter der sächsischen Dichterschule taten, zu der ich Rachowki unbedingt zählen würde. Die besten unter ihnen hatten und haben ein unverfälschtes Gespür für menschliche Sorgen, Unsicherheiten, Hoffnungen, Träume. Für all das, was einen beim Da-Sein auf Erden berührt, verstört und bereichert.
Ihre Gedichte sind voller Farben, Gerüche, Momente der Authentizität, die sich in kurzen, knappen Versen so schwer ausdrücken lassen, wenn man kein Gespür dafür hat. Gedichte, die spüren lassen, dass hier einer bewandert ist in der Literatur – aber sein Handwerk so gut beherrscht, dass er nicht abkupfern und nicht nachplappern muss. Und wer das kann, der verstört natürlich die Amts- und Uniformträger. Denn er reibt ihnen unter die Augen, dass all ihre Phrasen und Ideologien nichts als Dunst und Nebel sind, dass sich Menschsein nicht in Doktrinen sperren lässt. Und dass diese – das kommt spätestens mit der Jahreszahl 1968 ins Bild – ihre Chance, dem, Land wieder ein menschliches Antlitz zu geben, verpasst und vergeigt haben. Und zwar gründlich.
Da sich der Aufmarsch der sowjetischen und ostdeutschen Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings zum großen Teil im Vogtland abspielte, war der jugendliche Utz Rachowski natürlich Augenzeuge. Und es habe ihn und seine Generation geprägt fürs Leben, schreibt er. Und er kommt nicht nur im Gespräch mit Frederick A. Lubich auf jenen bis heute währenden Dissens zu sprechen zwischen den 1968ern im Osten, die mit der DDR als sozialistischem Vorzeigestaat aus eigener Erfahrung nichts mehr anfangen konnten, und den 1968ern im Westen, denen die Erfahrungen eines Lebens in der DDR so völlig fehlten. So landete er nach seiner Ausbürgerung 1980 zwar in Westberlin – aber zwischen allen Stühlen.
Was selbst beim Thema Polen deutlich wird, denn Rachowski hielt den Kontakt zu polnischen Autorinnen und Autoren gerade in der Zeit, als dort das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Daraus sind Freundschaften über Jahrzehnte gewachsen. Und auch heute mahnt er wieder, wie falsch das deutsche Feuilleton liegt mit seinem verbalen Wüten gegen die polnischen Wahlergebnisse. Woher, so fragt er mit Recht, nehmen diese Besserwisser eigentlich die Überzeugung, wieder so selbstherrlich über Polen urteilen zu dürfen, wie sie es auch vor 40 Jahren taten? Und auch damals lagen sie falsch, schätzten die Kraft und die Bedeutung der Solidarność völlig falsch ein. In den DDR-Medien sowieso. Aber das kann ja nicht der Maßstab sein.
Und das ist die Stelle, an der der Dichter mit diesem Menschen verschmolzen ist, der von Jugend an hungrig auf gute Bücher war und unbedingt selber schreiben wollte, nicht ahnend, dass dieser Wunsch ihm in Ost wie West Entbehrungen auferlegen würde. Denn weder dort noch hier ist das Feuilleton bereit, so über Literatur zu schreiben und zu reden, wie es Literatur eigentlich braucht – unvoreingenommen, hellwach für die leisen und unverwechselbaren Töne und die Stimmen, die sich da artikulieren. Und das ja auch aus einem tiefen Bedürfnis heraus.
Denn diese Art Dichtung, in der Rachowski zu Hause ist, lebt vom Bedürfnis, das Menschlichste auszuformulieren, in wenigen Zeilen ganz da zu sein, ein Gefühl, einen Moment mit ganz wenigen Worten einzufangen. Und das so gut, dass es selbst Übersetzerinnen und Übersetzer freut, die seine Texte in andere Sprachen übersetzen. Ins Polnische zum Beispiel.
Augenscheinlich wertschätzen die Polen diesen Autor aus Sachsen viel mehr als hiesige Preisverteiler und Kritikenschreiber. Sie fühlen sich von ihm verstanden und wertgeschätzt. Eine Tugend, die diesseits der Oder eher selten ist. Wir sind nicht wirklich aufmerksam auf unsere Nachbarn. Wir kommen lieber mit fertigen Urteilen und verstehen deshalb auch nicht, warum manches so anders läuft in Polen.
Obwohl es so ganz anders nicht läuft. Das macht Rachowski ja auch in mehreren Texten deutlich, wenn er sich fragt, was eigentlich aus all den Mitläufern, Opportunisten und Staatsdienern der DDR geworden ist nach 1990? Kann es sein, dass sie den Schritt in die Freiheit nie wirklich gegangen sind, nur all die neuen Freiheiten im vereinigten Deutschland in Anspruch nehmen, aber selbst nie geschafft haben, ein Leben in Freiheit zu leben? Im Text „Freiheit!“ macht er sich darüber Gedanken.
Ein Text, der zwangsläufig mit seiner Kritik an einigen bekannten ostdeutschen Germanisten zusammenfällt, die selbst heute noch versuchen, die ausgebürgerten Schriftsteller aus der DDR nach „hat’s geschafft“ und „jammert immer noch“ zu klassifizieren und den nächsten Generationen die völlig inhaltsleer gewordenen Diskussionen um DDR-Schriftsteller und DDR-Literatur aufs Auge drücken. Ganz so, als würden sie immer noch in einer Abteilung des SED-Politbüros den Kampfauftrag bekommen, ja diese einmalige und ewig siegreiche DDR nicht aus der Literatur verschwinden zu lassen.
Ich kann mir schon vorstellen, welche Autoren letztlich in der Germanisten-Hölle „DDR-Literatur“ zurückbleiben werden. Einige nennt Rachowski an den Stellen, an denen er seine üblen Erfahrungen mit der Bewerbung um ein Germanistikstudium in Leipzig beschreibt. Es wird eine Hölle sein, in der nur noch die abgebrühtesten Studierenden hinabsteigen werden – nämlich zu einer seinerzeit staatlich erwünschten Literatur, die schon aufgrund ihrer grauen Parteilichkeit ungenbießbar ist. Und es auch immer war.
Während all jene, die das Schreiben so elementar verstanden wie Utz Rachowski, natürlich bleiben werden. Als Teil einer großen deutschen Literatur, in der sie auch in 100 Jahren noch lesbar sind. Und die anregen, mit ihnen über das einfache, ganz und gar nicht so simple Leben nachzudenken. Es werden viele Dichter der sächsischen Dichterschule dazugehören. Und manch ein Germanist wird dann froh sein, wenn er in einer Bibliothek diesen Sammelband mit Texten von Utz Rachowski findet, weil hier der Autor ganz elementar von all dem erzählt, was er erlebt hat und wie er es erlebt hat.
Und warum er mit seinen doch so einfachen und zutiefst menschlichen Gedichten so heftig aneckte bei den Wächtern des real Existierenden. Und warum er auch im Alter nicht aufhören mag, sich für die damals Entrechteten einzusetzen und für die inhaftierten Schriftsteller weltweit. Er kennt ja ihr Schicksal und er weiß, was die Wächter diesen Autorinnen und Autoren antun. Und warum sie es ihnen antun. Denn wer die Dichter einsperrt oder aussperrt, der trifft die Verletzlichsten im Land, die, die – wenn sie gut sind – mit wenigen Worten genau die wunde Stelle treffen, an der ihr Land leidet.
Fast vermisse ich noch den Namen von Bettina Wegner, wo doch die anderen Hilfreichen von Bärbel Bohley bis Sarah Kirsch alle genannt sind, Bettina Wegner, die mit ihrem Lied „Kinder“ genau im Jahr der Ausbürgerung von Wolf Biermann das ganze Dilemma der DDR so treffend auf den Punkt gebracht hat. Ein ganz simples Lied. Aber danach standen die raubeinigen Funktionäre noch nackter da als nach der von ihnen verhängten Biermann-Ausbürgerung. Sie hatten auf die allermenschlichsten Fragen keine Antworten mehr. Und das hat sich bis 1989 nicht geändert.
Und das Fatale ist: Auch danach gab es keine große Bühne für die sensiblen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten. Zu denen auch Utz Rachowski gehört, der mit seinen Essays auch beweist, dass man nie aufhören muss, offen für die Nöte und Träume Anderer zu sein. Seien es unsere polnischen Nachbarn, seien es Dichter der Vergangenheit, die wir nicht verlieren dürfen – im Buch beispielhaft vertreten mit Alfred Wolkenstein, Nikolaus Lenau und Günter Ullmann.
Der Buchtitel gehört zum Wolkenstein-Essay. Aber natürlich ist es auch ein richtiger Rachowski-Titel, einer, der eben davon erzählt, dass man als Mensch eine Menge tun kann, um Menschlichkeit in die Welt zu bringen oder sie – wo man sie findet – zu stärken. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass es nicht nur Kerzen waren, mit denen die Machthaber 1989 nicht gerechnet haben.
Schon davor waren es immer wieder Gedichte, viele in West-Büchern hereingeschmuggelt, heimlich kopiert und weitergegeben – Gedichte von Wolf Biermann oder Reiner Kunze zum Beispiel. Bücher mit jenen simplen Wahrheiten, bei denen Gefängniswärter und Verhörmeister zu toben beginnen, weil sie ganz genau wissen, dass hier genau das beschworen wird, zu dem sie nicht (mehr) fähig sind.
Wären da nicht die Passagen über heutige Bürokraten, würde man meinen: Das ist doch seit 1990 vorbei?
Ist es eben nicht. Und anderswo schon gar nicht. Die Zeit, die keine Dichter mehr braucht, ist noch lange nicht angebrochen.
Utz Rachowski „Die Lichter, die wir selbst entzünden“, P&L Edition, Planegg 2019, 14,80 Euro
Die Dinge, die ich vergaß: Utz Rachowskis Gedichte aus fünf Jahrzehnten
Die Dinge, die ich vergaß: Utz Rachowskis Gedichte aus fünf Jahrzehnten
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