Zum Jahresausklang hat sich der Leipziger Dichter und Herausgeber Ralph Grüneberger noch einen Wunsch erfüllt: einen richtigen New-York-Band in der Reihe „Poesiealbum neu“. Selbst hat er ja schon ein eigenes Bändchen Amerika-Gedichte „Bienen über Brooklyn“ veröffentlicht. New York aber – ist das nicht der große Sehnsuchtsort? Die Traumstadt der Freiheit? Die Stadt, in der sich auch die Träume sächsischer Dichter erfüllen?

Oder doch eher die Stadt, wo die Widersprüche aufeinanderprallen, die Vision des 20. Jahrhunderts im Clinch zwischen Protz und Armut scheitert? Eine Supermetropole der Widersprüche, die auch Sachsens Dichter sehen und spüren, wenn es sie einmal über den Großen Teich verschlägt. Das trifft es wohl eher.

Auch wenn man den Gedichten der in diesem Band versammelten Dichterinnen und Dichter anmerkt, dass sie in ihrem Herzen die Vorstellung einer Stadt haben, die von den Träumen und Poemen der großen amerikanischen Dichter und Regisseure immer gefüttert wurde. Von Walt Whitman bis Woody Allen. Eine Stadt, die man besingen muss – mit all ihren Schäbigkeiten, ihrer Ruhelosigkeit, den Straßenschluchten, U-Bahnen, den Bettlern und dem Sirenengeheul.

Die alten Symbole von Freiheit und Sehnsucht klingen noch an. Aber es sind Ernüchterte, die in dieser Sammlung ihre New-York-Erlebnisse schildern. Denn was da drüben in Amerika geschieht, ist ja nicht mehr sagenhaft. Die Welt ist klein geworden und man muss nicht erst im Flieger übern Teich jetten und sich von strengen Beamten auf dem Flughafen bis auf die Haut checken lassen, um zu wissen, dass hinterm Flughafen keine heile Welt lauert.

Lang ist es her, dass bärtige Männer wie Walt Whitman und Herman Melville hier einen neuen Sound entwickelten, die neue, atemberaubende Welt zu beschreiben, die kapitale und maßlose Welt, die für sie noch eine Verheißung war. Schon Frank O’Hara lebte mittendrin, begegnete dem Moloch mit leicht überdrehtem Humor. Auch so eine Art, sich die Stadt der Slums und Wolkenkratzer anzueignen, sie menschlicher zu denken.

Aber auch darüber sind die in diesem Heft Versammelten hinaus. Allen Ginsberg und Jack Kerouac gehörten zu ihrer Jugendlektüre. Auch wenn die in den abgedruckten Texten nicht auftauchen. Das ist oft so, wenn sich Jüngere versuchen, das Übermächtige in Zeilen gefügig zu machen – sie sind nicht die ersten.

Und sie greifen zum Werkzeug derer, die vor ihnen da waren und versuchten, das riesige Gespinst aus Hochmut, Protz, Rastlosigkeit und steingewordener Attitüde in Verse zu fassen. Ist der Tonfall erst einmal in der Welt, wird man ihn nicht mehr los. Er klingt immer mit, erst recht dann, wenn so ein paar kleine Dichter aus Deutschland versuchen, die hemdsärmelige Haltung nachzuahmen: So etwas beeindruckt mich nicht. Auch wenn ich mich klein wie eine Ameise fühle.

Manch einer sucht die Widersprüche geradezu – obwohl sie so unübersehbar sind wie an kaum einem anderen Ort der Welt. Im Heft eindrucksvoll bebildert mit Fotos von Antonius. Das steinerne, himmelstürmende New York ist auch das New York der Obdachlosen und Einsamen. Und trotzdem zog und zieht es sie immer wieder dorthin, die Dichterinnen und Dichter aus Deutschland.

Denn dieses New York steht auch für einen anderen Traum, ein anderes Amerika, das sich, wenn man erst einmal da ist, in Luft und Lärm aufzulösen scheint. Obwohl man die Typen trotzdem trifft, die glücklich sind, dort gelandet zu sein. Und man steckt doch sofort in Widersprüchen: „Kaum angekommen, war man schon infiziert und reizüberflutet / Wollte man weiter und doch bleiben …“, schreibt Peter Frömmig.

Unübersehbar, wie sie nach Bekanntem suchen, nach den Grabstätten ihrer Lieblingsautoren oder nach Ground Zero, nur um das Gefühl nachzuempfinden, diese Wunde in einem Traum. Was erstaunlicherweise niemand sagt. Nirgends: Dass der Anschlag auf die Zwillingstürme zwar die USA meinten, aber vor allem das Herz eines Traums. Hinter dem Sehnsuchtsort New York steckt der himmelsstürmende amerikanische Traum, den die halbe Welt träumt. Immer noch. Der Traum einer anderen amerikanischen Vision, einer, in der man für seinen Fleiß belohnt wird, in der jeder tatsächlich zählt und jeder Erfolg haben kann.

Ein verblasster Traum. Einer, der das reale New York zu einer Film- und Traumkulisse macht, durch die der Wind pfeift. „Zerlumpt liegen sie auf dem Abluftschacht / und wie Taubenkot überall / in den Parks streiten Verrückte“, heißt es bei Ulrike Dietz. Muss man dafür noch nach New York fliegen? Hat uns dieser amerikanische Alptraum nicht längst eingeholt und wir können das alles auch bei uns sehen? Und werden trotzdem nicht nüchtern? Denn auch dafür steht ja diese Stadt mit ihren berühmten Vierteln – die Trunkenheit der Maßlosigkeit, die in einem elenden Kater endet.

Aber merkt man das noch, wenn man mit den falschen Bildern anreist, den falschen Bildern von Freiheit? So, wie das bei Johanna Anderka anklingt: „Unsere Götzen / stürzen Stufen hinab / die Freiheitsideale / bedeckt der Rauch / uns’re Sicherheit / unter Asche.“

Ehrlich?

Das hab ich 2001 nicht geglaubt und glaube es heute auch nicht. Aber auch dafür war dieses New York gut: Als Camouflage und Ikone für Egoismus, der sich als Freiheit verkauft, für ein imperialistisches Denken, das sich als Welterlösung verkauft. Arundhati Roy hat es vor einigen Jahren sehr deutlich und schön gesagt. Der Anschlag galt nicht unserer Freiheit.

Das haben wir uns einreden lassen. Aber er galt einer Stadt, von der auch die Attentäter wussten, dass sie für sämtliche Sehnsüchte des Westens steht – die aber nirgendwo auf Erden erfüllt und gestillt werden. Die Täter hätten auch Flugblätter verteilen können: „Ihr sollt nicht träumen!“ oder „Lasst alle Hoffnung fahren, denn wir haben auch keine mehr.“

Wo komme ich da nur hin? Davon steht ja gar nichts in dieser doch eigentlich liebevollen Auswahl. Denn auch Ralph Grüneberger trägt diesen Traum von New York in sich. Er war dort und hat ihn nicht verloren. Findet ihn aber, wenn man seine Gedichte liest, doch wieder nur in den Büchern seiner Lieblingsautoren. Das ist das New York der Phantasie. Das, das unendlich viel Stoff bietet für immer neue Traumromane, Traumfilme, Traumgedichte.

Gerade, weil die vorgefundene Wirklichkeit so eng und ruppig und steinern ist. Ein Ort, von dem man nur träumen kann, dort zu leben. Aber dageblieben ist keiner der hier Schreibenden. Nicht mal Ingo Cesaro, der sich dieses New York versucht, sexuell gefügig zu machen. Was bleibt, ist die unerhörte Dimension dieser Stadt, in der man sich – U-Bahn-fahrend – verlieren kann: „sich treiben lassen / zeitlos / nichts fürchten müssen / als das verlöschende Licht an der Endstation.“

Für manchen ist das Sehnsucht: sich völlig zu verlieren in so einem Moloch von Stadt, sich völlig in Anonymität auflösen, spurlos, unauffindbar auch für die später Suchende, etwa Paul Alfred Kleinert, der in New York die Wohnung des Mecklenburgers Uwe Johnson sucht: „Der Mann ist hier nicht mehr erreichbar; / sein Klingelschild seit 28 Jahren demontiert.“

Eine der vielen Zeilen, die im Grunde das Kosmische an New York ansprechen, einer Stadt, in der man zum Stäubchen wird, regelrecht spürt, wie belanglos man ist in so einem riesigen Monstrum von Stadt: „Am Broadway / Die Zeit steht, die Parkuhren laufen / Das Geheimnis ist: Du bist / Und du bist nicht.“ So fasst es Ralph Grüneberger zusammen. Und Stephan Krawczyk: „Bleiche Frucht Zwiezeit.“

Am Ende geht es um eine Sehnsucht, die sich nicht erfüllen lässt, weil wir keine Orte des Unerforschten mehr zulassen. So wie Jörg Seifert schreibt: „wo sind all die weißen flecken auf der landkarte / geblieben, die unüberschaubar großen / orte der sehnsucht?“

Und was passiert mit einer Gesellschaft, die keine Orte der Sehnsucht mehr hat? Sich also auch nicht mehr sehnt nach etwas, was über das graue So-ist-es hinausgeht?

Ein Sammelband voller Widersprüche. Über eine Stadt, die es eigentlich nur in den Köpfen der Dichter gibt. Und in den Träumen der Menschen, die sich mit den frigiden Märchen von der Sicherheit nicht abspeisen lassen.

Poesiealbum neu „Hauptstadt der Sehnsucht. New York-Gedichte“, edition kunst & dichtung, Leipzig 2019, 8,70 Euro.

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