Was kommt eigentlich dabei heraus, wenn sich die aktuelle Edit-Chefredakteurin Kathrin Jira und der Dichter und Literaturredakteur Jörg Schieke zusammentun, um eine Prosa-Anthologie zusammenzustellen, die zumindest ahnen lässt, was Autorinnen und Autoren in Sachsen derzeit alles so schreiben? Kann man so etwas Typisches fassen? Schreiben sächsische Autor/-innen anders als andere?

Wobei es schon hier eine Einschränkung geben muss: Nicht alle in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren stammen aus Sachsen (wie Hans Ulrich Treichel), manche leben auch nicht mehr hier (wie Kurt Drawert). Einige leben auch nicht mehr und wurden dennoch in den Band aufgenommen, weil sie wesentliche Nuancen beizutragen haben – Wolfgang Hilbig zum Beispiel und Erich Loest. Manche haben noch unveröffentlichte Texte beigesteuert, bei vielen aber haben Jira und Schieke Passagen aus ihren jüngst veröffentlichten Romanen ausgewählt, so etwa aus Isabelle Lehns Roman „Frühlingserwachen“ und aus Anja Kampmanns „Wie hoch die Wasser steigen“.

Manch einer hat auch Passagen aus Büchern freigegeben, die noch nicht erschienen sind – so Christine Koschmieder aus dem für 2020 geplanten „Trümmerfrauen. Ein Heimatroman“ und Uwe Tellkamp aus „Der Schlaf in den Uhren. Lava“.

Das Ergebnis: In gewisser Weise mit drei Dutzend Autorinnen und Autoren doch eine sehr spannende Übersicht. Und da die jüngeren Autor/-innen überwiegen, auch ein recht breiter Einblick in die gegenwärtige Arbeit all derer, die auf verschiedenste Weise mit diesem herb-romantischen Stück Landschaft verbunden sind und versuchen, Gültiges über den Tag hinaus zu schreiben.

Und damit auch noch durchzudringen. Das macht ja schon die Verortung der angegebenen Verlage deutlich: Kaum ein einigermaßen erfolgreicher Roman erscheint auch in einem sächsischen Verlag. Was nicht an der hiesigen Qualität liegt, sondern an den Vernetzungen. Wer nicht in einem der einschlägigen Belletristikverlage in München, Berlin oder Hamburg unterkommt, kann so gut sein, wie sie oder er will: Sie und er werden vom eingefahrenen Feuilleton kaum beachtet. Oder besser: links liegengelassen.

Was guten Autoren auch passieren kann, wenn sie doch in einem der großen Belletristikverlage unterkommen. Ihre Bücher finden begeisterte Leser – aber wenn ihnen die nötige Selbstvermarktungskunst fehlt, bekommen sie trotzdem keine großen Besprechungen und auch keine namhaften Literaturpreise.

Schreiben ist – wenn man es genauer beschaut – ein harter Wettstreit um Aufmerksamkeit. Und um das Überwinden von uralten Mauern und Gräben. Was auch Folgen hat für die Art der ausgewählten Themen. Ein Wunder wäre, wenn es anders wäre. Denn man kann zwar emsig im eigenen Kämmerlein schreiben. Aber wer nicht lernt, wenigstens zu erspüren, was die großen Preisrichter thematisch erwarten, bleibt dauerhaft außerhalb der Scheinwerferkegel.

Das klingt auch da und dort an, denn einige der Versammelten beschäftigen sich auch mit dem Schreiben, dem Leben als Schreibende und mit den Folgen fürs nötige Geld in der Haushaltskasse. Manche sind noch lange nicht fertig mit dem alten Leben, beschreiben hochemotional und plastisch, wie sie das einst in der ummauerten DDR Erlebte bis heute gespenstisch plagt. Wobei auch Uwe Tellkamp und Wolfgang Hilbig unter den „Gespenstern“ landen, die den Textreigen im Buch eröffnen.

Während der eine eine „Trevische Nachrichten-Agentur“ beschreibt, sitzt man mit Hilbig tatsächlich in realsozialistischen Nächten auf dem einsamen Bahnsteig des Bahnhofs in Plagwitz, wartend auf den ersten Schichtzug, Bücher lesend. Ein Text, der so komprimiert die eigentlich nicht auszuhaltende Erstarrung der Zeit beschreibt, in der die materialermüdete DDR am Ende feststeckte, dass man hin- und hergerissen ist – denn darin steckt der doppelte Osten, seine Hoffnungslosigkeit gepaart mit einer fast fröhlichen Gelassenheit. Und damit ein sehr harter Bruch zu den Geschichten, die gerade die viel jüngeren Autorinnen und Autoren zu erzählen haben, die von einem Leben erzählen, in dem es überhaupt keine Gelassenheit mehr gibt.

Nicht mal in der letzten Provinz wie das Liebespaar in Lukas Rietzschels Geschichte „Gute Nacht“ oder als schlecht bezahlter Wachmann in einer Trabantenstadt wie bei Clemens Meyer. Das Leben im Danach ist von einer ganz anderen Ungewissheit geprägt, einer, die sich augenscheinlich nicht aussprechen lässt, weil es dann ans Eingemachte gehen würde, die Unfähigkeit, noch über Nähe zu sprechen, weil Nähe verletzlich macht.

Umso starrer werden die Rollen, steckt selbst in den erzählenden Müttern und Vätern die permanente Überforderung, dem zu genügen, von dem sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Als sei selbst das ganz normale Leben mit Kindern und Freunden ein Leistungstest und man wäre verdonnert dazu, permanent eine Prüfung in Perfektion abzulegen. Ergebnis: Es gibt keine wirklichen Frei-Räume mehr, nicht einmal mehr Sonntage, wie Angela Krauss regelrecht bissig feststellt, jene einst nicht einklagbaren Tage, an denen man sich seiner selbst noch vergewissern konnte und musste.

Aber was passiert mit Menschen, die sich nicht mehr im Gleichgewicht mit ihrem Leben und ihrem Tod befinden? Dann hören Menschen doch eigentlich auf, sich überhaupt noch als beheimatet zu empfinden, rutschen in die Rolle des Mieters, Gastes, dessen, dem das alles nicht mehr gehört, was Anna Kaleri in ihrer Geschichte „Ganz weit draußen“ zu fassen versucht, auch wenn hier erst recht deutlich wird, wie wertlos all das wird, wenn die Menschen gehen. Selbst die Dinge, die sie hinterlassen, werden nicht mehr gebraucht. Fast ein Symbol dafür ist die Frau in der Fischbude vor dem Barockgarten in Marcel Beyers Geschichte von einer recht impulsgetriebenen Exkursion in die Provinz, einer Provinz, die der Autor sonst nur am Fenster vorbeihuschen sah.

Auch so ein Bild vom Nicht-wirklich-da-sein.

Und da das in mehreren dieser Prosastücke aufscheint, bekommt man so eine Ahnung davon, wie sensible Autorinnen und Autoren sich in diesem inhomogenen Sachsen eigentlich fühlen, nicht nur hin- und hergerissen zwischen den permanenten Hochleistungserwartungen der aufgesetzten neuen Welt und dem Gefühl, dass die Landschaft da draußen mit den einst vertrauten Menschen verloren gegangen ist. Die Landschaft wird doppelt gespenstisch, weil der Gelassenheit, die man bei Hilbig noch findet, keine neue Gelassenheit folgt, eher ein permanentes Getriebensein und Sich-rechtfertigen-müssen.

„Die Träume sind ausgeblieben oder in die Museen abgewandert“, schreibt Thomas Böhme in einem seiner kleinen Prosatexte. In einer Traumpassage versucht er sich mit einem Freund zu verabreden: „Die Busse dorthin fahren in unregelmäßigen Abständen, sodass ich beschließe, es zu Fuß zu erreichen. Natürlich verirre ich mich sofort, die Gegend hat alles Vertraute eingebüßt.“

Zuweilen hat man das Gefühl: Das ist sie wirklich, die neuere ostdeutsche Geschichte. Der Verlust des Vertrauten, das zunehmende Gefühl, dass die Dinge nicht mehr wirklich funktionieren, ein Ort, an dem sich aber die handelnden Personen auch nicht mehr wagen, vertraut zu sein. So, wie es Kerstin Hensel in ihrer 80 Jahre in die Vergangenheit versetzten Geschichte „Zweemil“ beschreibt, die ihrerseits schon fast gespenstisch wirkt in der Besessenheit dieses Zweemil, echte Nähe (und gar Unordnung) nicht mehr zulassen und tolerieren zu können.

Man merkt solchen Geschichten an, wie die Autorinnen und Autoren versuchen, die Gefühle einzufangen, die sie mit diesem Leben in diesem Eckchen Welt wirklich verbinden. Da korrespondiert Hensels Geschichte auf erstaunliche Weise mit Lucas Rietschels „Gute Nacht“, finden sich zwei eben nicht, sondern bleiben ratlose Reisende in einer Welt, in der sie sich nicht geborgen fühlen.

Sie leben also unübersehbar ein doppeltes Leben, eines davon nur im Kopf, das sich in der Realität nicht wiederfinden lässt. Was auch den Sammlungstitel doppeldeutig macht. Denn wenn man seine ganze Energie darauf verwendet, das richtige (weil scheinbar von anderen bewertete) Leben zu führen, lebt man kein richtiges Leben. Nicht einmal ein falsches im falschen, sondern gar keins.

Eher so ein Surrogat, das eines Reisenden, der nicht einmal weiß, wohin ihn nun diese Fahrt mit zwei einsamen Trinkern im eisigen Winter bei Danzig (Bernd Wagners „Hel“) führen wird. Oder läuft alles auf die Geschichte hinaus, die Diana Feuerbach in „Monsieur Beauchamp erinnert sich“ erzählt? Landen die Helden der Geschichten alle in einer rekonstruierten Erinnerung an die schönen Momente der Kindheit, werden zu pflegeleichten Insassen eines Heims, in dem die Illusionen dabei helfen, die Betreuungskosten immer weiter zu minimieren …

Kathrin Jira, Jörg Schieke (Hrsg.) Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2019, 21,80 Euro.

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