„Unsere Gesellschaft ist eine Neidgesellschaft“, schreibt Anselm Grün in seinem Beitrag „Für die Seele sorgen“ in diesem Band mit 50 verschiedenen Beiträgen, die weit über das Thema Gesprächskultur hinausgehen. Das Buch ist im Grunde das Gegenteil zu Claus Strunz' hemdsärmeliger Attitüde, die er in „Geht's noch, Deutschland?“ zelebriert hat. Achtsames Sprechen beginnt nicht damit, anderen die Meinung zu sagen, sondern beim Aufmerksamsein für sich selbst.
Dabei war natürlich auch Strunz’ Buch ein Versuch, die ausufernde Debatte in Deutschland einzufangen. Einer unter vielen. Und die Mehrzahl konstatierte zu Recht, dass etwas in der öffentlichen Diskussion gewaltig ins Rutschen gekommen ist. Wie ja auch Petra Köpping mit ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns!“ und Frank Richter mit „Hört endlich zu!“ Beide bei all ihrer Mühe, das Gespräch zu suchen, am Ende in erstaunlichem Maß erfolglos.
Das mag verblüffen. Aber die Wahlergebnisse in Sachsen sprechen eine klare Sprache. All die Menschen, die nun seit Jahren mit einer verblüffenden Beharrlichkeit fordern, sie mögen doch selbst erst einmal gehört und integriert werden, haben dennoch anders gewählt. Als hätten sie das Gesprächsangebot gar nicht wahrgenommen. Aber die Täuschung liegt wohl eher bei Köpping und Richter, die – voller guten Willens – meinten, sie müssten diesen besorgten Bürgern erst einmal Brücken bauen, damit sie ihre Probleme zur Sprache bringen können.
Aber diese Leute sind weder arm noch benachteiligt. Sie sind auch nicht die Verlierer der jüngeren ostdeutschen Geschichte. Im Gegenteil: Meist sind sie gut situiert, verdienen gut, stehen oft genug sogar im Staatsdienst.
Nur eine Möglichkeit besteht: Dass hinter ihrer aggressiven Wortmeldung tatsächlich eine tiefe innere Verletzung steckt. Über die sie aber nicht reden. Sie geben sich besorgt, aber nicht betroffen. Im Gegenteil. Nicht einmal nach blutigen Anschlägen halten sie die Klappe, gehen in sich.
Also jetzt zu diesem Buch, das seinen evangelischen Ursprung nicht verhehlt. Und das ist gut so. Denn wenn Menschen im RBB christliche Sendungen produzieren, sei es als Redakteure, Moderatoren, Sprecher oder als Senderbeauftragte, dann müssen sie sich mit dem Kern des Sprechens beschäftigen.
Die Praktiker, die in diesem Buch zu Wort kommen, mussten und müssen sich ganz zwangsläufig mit der Frage beschäftigen: Wie bewegt man die Zuhörer und Zuschauer auch dann zum Nicht-Wegschalten, wenn man in direkter Konkurrenz zu dutzenden anderen Medienangeboten steht, die den Leuten schnelle, flotte und einfache Unterhaltung bieten, nichts so Schweres wie eine Andacht, in der sie zum Nachdenken über die ganz simplen Dinge im Leben gebracht werden sollen, zum Nachdenken über sich selbst und die Motive ihres täglichen Handelns.
Das Grundgerüst dieses Buches bilden dann auch einige ausgewählte „Worte zum Tage“ und „Morgenandachten“ von Angelika Obert im Deutschlandfunk, die fast sämtlich mit kleinen Szenen und Begegnungen auf der Straße beginnen, manchmal auch medienrelevante Ereignisse aufgreifen, aber stets versuchen, das eigene Denken und Fühlen dabei zu erkunden. Denn vom Über-Andere-Reden gibt es in Deutschland viel zu viel. Nicht nur von Rechten, die ständig meinen, andere Menschen, die nicht so sind wie sie, bewerten und abwerten zu müssen – von „Gutmenschen“ bis Ausländern.
Aber auch in Politik und Medien findet man fast nur noch dieses Sprechen, in Medien oft sogar als massiven Angriff auf die Persönlichkeit von Menschen, die man geradezu jagt, ganz so, als wäre das Fertigmachen von Menschen eine Art demokratischer Sport und schon der Verdacht, jemand könne einen Fehler gemacht haben, Berechtigung genug, ihn unerbittlich an den Pranger zu stellen.
Ein Thema, auf das in diesem Buch Andreas Nachama in seinem Beitrag „Federn im Wind“ eingeht: „Verleumdungen und üble Nachrede sind nicht nur in der ach so objektiven Presse, sondern ein durch Zeiten und Jahrtausende gehendes Phänomen“, stellt er fest und zitiert dann natürlich aus dem Talmud, der sogar zwischen verschiedensten Formen der Falschrede unterscheidet. Das Problem ist also zutiefst menschlich und uralt. Und eben leider auch immer wieder aktivierbar.
Und es wird nur zu gern genutzt, denn üble Nachrede hinterlässt immer einen Geruch, etwas bleibt hängen, egal, ob jemand die falsche Nachricht aus lauter Leichtgläubigkeit verbreitet hat oder mit festem Vorsatz. Denn das spricht eben leider auch das an, was Anselm Grün in seinem Beitrag versucht zu umreißen: „Wenn ich den Neid auslebe, dann schade ich den Menschen um mich herum. Und ich bin auch nicht glücklich. Denn der Neid ist ein Fass ohne Boden. Es geht darum, die Hintergründe des Neides anzuschauen. Hinter dem Neid stecken immer unbefriedigte Bedürfnisse.“
Denn wer nicht für die eigene Seele sorgt, wer nicht weiß, wonach sein Herz wirklich verlangt, der kommt aus dem Sich-Vergleichen und Andere-Beneiden nicht heraus. Der sieht immer nur, was andere haben, aber nicht, was ihm selbst fehlt. Und das hat Folgen. Das Buch trifft – gerade weil es dutzende völlig verschiedene Sichtweisen vereint – den Nerv der Zeit. Anselm Grün: „Der Münchner Therapeut Albert Görres sagt einmal, keiner tue das Böse aus Lust am Bösen, sondern immer aus Verzweiflung. Und er meint, das Böse, das wir tun, wäre oft ein Begleichen alter Rechnungen bei den falschen Schuldnern.“
Schuldner, die uns fremd sind. Die wir nur aus der Distanz sehen, in die wir unsere Ängste und Ressentiments hineindenken, weil wir uns nicht einfühlen können. Was auch mit dem verloren gegangenen Gefühl für uns selbst zu tun hat. Das uns dann in manchen Situationen regelrecht hilflos dastehen lässt. So wie es Angelika Obert im April 2016 einmal schilderte: „So viele, die sich verkrochen haben, noch verkrochener waren als ich. Was ich auf eine Art verstehen kann, haben wir uns doch hierzulande sehr daran gewöhnt, aneinander vorbeizuhören und so zu tun, als wären die anderen gar nicht da. Aber vielleicht ist es ja so, dass die Ausfälligkeit mancher Leute etwas mit dem Verkrochensein der vielen zu tun hat. Dass manche krakeelen, weil sie irgendwie gehört werden wollen.“
Oder gemeint sein. Das kommt dann in vielen Beiträgen insbesondere von Pfarrerinnen und Theologen zum Ausdruck, die sich allesamt mit der Frage beschäftigen: Wie erreichen wir eigentlich noch die Menschen? Wie müssen Predigten sein, damit sich die Zuhörenden tatsächlich noch gemeint und berührt fühlen? Wie präsent muss eigentlich die Predigerin sein als Person? Alles Themen, die sich ums eigentliche Sprechen drehen. Und eigentlich sprechen kann man nur, wenn man von sich selbst spricht, nicht „von oben herab“, auch wenn der Pfarrer dabei oft auf der erhöhten Kanzel steht. Aber wer nicht das ist, was er predigt, wer es nicht schafft, seine eigenen Gefühle zu übertragen und dabei die Zuhörenden persönlich anzusprechen vermag, der redet ins Leere.
Gerade weil so viele Medien-Theologen zu Wort kommen, wird das Buch natürlich in weiten Strecken auch zu einer Diskussion darüber, welche Rolle die evangelische Kirche überhaupt noch spielt, warum sie nicht der Ort ist, wo die gesellschaftlichen Fragen diskutiert werden, warum sie im gesellschaftlichen Diskurs so überhaupt nicht vorkommt und damit natürlich in Gefahr steht, für die Zukunft keine Rolle mehr zu spielen. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der überall sichtbar wird, wie einsam sich viele Menschen fühlen und wie überfordert. Und wo sie nach Heilmitteln greifen, die alles nur noch schlimmer machen.
Ein Thema, das auf besondere Weise Eckart von Hirschhausen aufgreift, der die Sache natürlich von der Seite des Humors angeht. Denn „nicht nur Moralisten haben wenig Humor, Ideologen und Fundamentalisten kennen offenbar auch keinen …“. Und das hat einen Grund.
„Was dabei allen von der eigenen Position restlos Überzeugten fehlt, nennen Psychologen ,Ambiguitätstoleranz‘. Gemeint ist damit die Fähigkeit, für möglich zu halten, dass man selbst irrt. Dass es nie die eine Wahrheit gibt, sondern wir immer nur Teile davon kennen und deshalb jemand anderes auf seine Art auch recht haben könnte.“
Ohne diese Fähigkeit, sich selbst als fehlbar, suchend und nicht-allwissend zu sehen, ist weder Humor möglich (das Lachen über die ganzen verblüffenden Fallstricke des Lebens) noch Kommunikation, wie Hirschhausen feststellt. Aber auch nicht die Entkrampfung, die einen die Rolle des Bescheidwissers und Besserwissers erst verlassen lässt. Denn zur Fähigkeit, das Irren für menschlich zu halten, gehört auch das Wissen darum, dass das Böse nicht die anderen sind und wir nicht die Guten, egal, zu welchem eingeschworenen Haufen wir uns bekennen. Das ist eine von den vielen Stellen, an denen die Bibel erstaunlicherweise richtig Futter zum Denken gibt. In diesem Fall aus einer „Morgenandacht“ von Angelika Obert aus dem Jahr 2016: „,Das versteht ihr nicht?‘, wunderte sich Jesus. ,Überlegt doch mal, was so alles in einem Menschenherzen rumort: Böse Gedanken, Hochmut, Selbstsucht, Gier, Hinterlist, maßloser Ehrgeiz und noch einiges mehr – diese ganzen Antriebe wohnen in euch und verschmutzen euch die Seele, weil ihr sie unbeachtet wuchern lasst. Das vergiftet eure Urteile, euer Reden, euer Handeln – und darum kommt ihr aus der sozialen Klimakatastrophe nie heraus.‘“
Da ist zwar ziemlich modern formuliert, was Jesus in Markus 7,12 zu seinen Jüngern gesagt hat, die beim Brotessen mit schmutzigen Händen erwischt wurden. Aber es stimmt bis heute: Alle äußere Reinlichkeit nützt nicht die Bohne, wenn wir nicht die Abgründe in uns selbst wahrhaben wollen, uns gar für besser und reiner dünken als andere. Gar für unfehlbar in unseren Meinungen und Überzeugungen, die wir dann gar für Wissen verkaufen.
Doch wenn ein Mensch sich selbst für unfehlbar hält und sein Meinen für Wissen, hört er nicht nur auf zu lernen und die Welt besser zu verstehen. Er wird auch unfähig zum Gespräch, zum achtsamen Streiten erst recht. Denn dazu muss man ja dem anderen zuhören und wenigstens zu verstehen versuchen, was er sagt, darauf eingehen und auch bereit sein, die eigene Position zu hinterfragen. Aus guten Gesprächen gehen hinterher beide reicher und erfüllter hervor.
Die Achtsamkeit beginnt also in uns selbst. Gegen uns selbst, unsere Verletzungen, Wünsche und Unsicherheiten müssen wir achtsam sein. Dann gewinnen wir vielleicht keine Redeschlachten, weil wir den „Gegner“ nicht mit „Totschlagargumenten“ niederbügeln. Aber höchstwahrscheinlich gewinnen wir ein paar richtige Freunde (keine „Gesinnungsgenossen“) und einige aufregende Momente, in denen uns andere berühren. Und wir uns berühren lassen. Aber das schafft man nur, wenn man sein Verkrochensein auflöst und sich traut sich einzulassen auf andere, auf achtsame Gespräche und – ja, wirklich – auf das eigene Ungesagte, das man so gern hinter verbissener Rechthaberei und Moralisiererei versteckt.
Das hat dann – wie der Theaterwissenschaftler Felix Ritter in seinem Beitrag „Glauben Sie eigentlich, was Sie sagen?“ als Authentisch-Sein bezeichnet. Und zum authentischen Reden gehört nun einmal auch, dass man bei sich ist und weiß, was einem wirklich im Bauch rumort. Und was nur fremder Leute Anziehsachen sind.
Barbara Manterfeld-Wormit, Frank-Michael Theuer, Reinhold Truß-Trautwein (Hrsg) Achtsam streiten, Edition Chrismon, Leipzig 2019, 16 Euro.
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