Das passt schon. Der 30. Jahrestag jenes 9. Oktober 1989 nähert sich, an dem 100.000 Menschen um den Leipziger Ring zogen und die SED-Funktionäre ihre Ohnmacht begriffen. Und Ralph Grüneberger hat seinen Roman fertig, an dem er seit 2012 gearbeitet hat. Am 25. September stellt er ihn in der Stadtbibliothek vor. Und das Titelfoto darf nicht täuschen: Es ist keine weitere Wende-Wunder-Geschichte geworden. Grüneberger blendet nicht ab, als das „Wunder“ vorbei war.
Und man merkt, dass ihm genau das ein Anliegen war. Als Leipziger Autor hat er das alles ja hautnah miterlebt, war mittendrin. Am 5. Oktober moderierte er in der Moritzbastei zusammen mit Michael Brie die Podiumsdiskussion „DDR 50“, doch statt über eine Fiktion der DDR im Jahr 1999 wurde über das gesprochen, was draußen auf den Straßen passierte. Am 2. Oktober hatte es mit 20.000 Teilnehmern die erste große Demonstration auf dem Ring gegeben, gegen die die Polizei auch diesmal mit Gewalt vorging.
Es ist die Demonstration, die Grüneberger für den Auftakt seines Romanes wählt, in dem Jesse – Sohn eines Leipziger SED-Funktionärs – eher zufällig erst zum Teilnehmer wird und dann erstmals auch die Gewalt der Polizei erlebt. Dabei hatte er mit den Bürgerrechtsgruppen, die sich in der Nikolaikirche trafen, bisher nichts am Hut, auch wenn er mit seinem zutiefst überzeugten Vater immer wieder aneinandergerät.
Er arbeitet als Zerspaner in einem Leipziger Exportbetrieb, steckt also tief im tagezehrenden Dreischichtsystem, in jenem Maschinenrhythmus, der die DDR irgendwie noch am Laufen hielt. Mehr schlecht als recht, wie er weiß. Doch die unsanfte Begegnung mit der Polizei bringt ihm nicht nur eine Woche Krankschreibung ein, sondern auch einige Erkenntnisse, die seine Sicht auf die Welt doch noch einmal gründlich ändern. Sein Freund Rainer ist verschwunden, dessen Wohnung steht leer. Erst später wird eine Postkarte vom Wiener Prater ankommen.
Und er lernt in einem alten, leergeräumten Haus die Leute vom Neuen Forum kennen, das gerade in dieser Zeit versucht, von der Staatsregierung offiziell anerkannt zu werden. Aber es ist auch die Woche, in der Polizei und Stasi noch einmal aufrüsten, um die zunehmenden Proteste noch einmal mit Gewalt und Einschüchterung einzudämmen. Was Jesse dann am 7. Oktober noch einmal am eigenen Leib erlebt, als er mit dutzenden anderen in den Pferdeställen auf der Agra landet, die auch am 9. Oktober zur Inhaftierung der Protestierenden vorgesehen waren. Und die Warnungen, die Jesses Arzt ihm mitgibt, gab es tatsächlich.
Nur dass an diesem 9. Oktober alles anders kam.
Doch wer nach diesem Kapitel „Jesse, Oktober 1989“ meint, auch dieses Buch würde mit fröhlichen Tänzen auf der Mauer oder einem anderen Freudenmotiv zum Herbst 1989 enden, der merkt nach dem Umblättern schnell, dass in Grüneberger etwas völlig anderes wühlt. Und nicht nur in ihm. Denn die meisten Ostdeutschen erlebten nach der Maueröffnung, was Jesse, Rainer und Rainers Schwester Monika in den folgenden Monaten erlebten. Rainer war noch im August 1989 über die ungarische Grenze in den Westen geflüchtet, hatte aber seine Arbeitspapiere nicht mitgenommen, sonst hätten ihn westdeutsche Unternehmen sofort als qualifizierte Fachkraft eingestellt. Also kehrte er zurück, frustriert von den Erfahrungen im Aufnahmelager, jetzt aber auch noch wohnungslos, denn längst leben andere Leute in seiner Wohnung.
Und der Betrieb, in dem Jesse und Rainer einst Kollegen waren, hat im Sommer 1990 längst auf Kurzarbeit umgestellt. Mit der Einführung der D-Mark brachen die Märkte weg. Die Industrie eines ganzen Landes war praktisch über Nacht nicht mehr konkurrenzfähig und Millionen Ostdeutsche erlebten jetzt, was es heißt, die sicher geglaubte Existenz zu verlieren. Das ist das, was über die „Wende“ im Osten so ungern erzählt wird – von den einen nicht, weil es die schwarze Kehrseite der Marktwirtschaft zeigt. Und von denen anderen nicht, weil das zu einer tiefen Entwertung und Verunsicherung führte, die für viele auch nach Jahren nicht aufhörte.
Nicht nur Betriebe wurden abgewickelt, ganze Belegschaften in einem Rutsch „freigestellt“, auch Verwaltungen und Hochschulen wurden evaluiert, „Wasserköpfe“ abgebaut und belastete Mitarbeiter entlassen. Und am Beispiel der Leipziger Theaterhochschule erlebt Monika direkt mit, was es bedeutet, wenn nicht nur die Hochschule infrage steht, sondern die eigentlich schon aufgenommen Studentinnen und Studenten nicht immatrikuliert werden. Mit viel Phantasie kämpfen sie zwar um ihre Immatrikulation, an der auch das Bafgög hängt und der Platz im Studentenwohnheim. Aber sie merken auch, dass nichts davon von ihnen selbst abhängt, die Entscheidungen fallen ganz woanders – in Berlin und Dresden.
Und als Monika ihren Studienplatz endlich hat und die Studentengruppe mit einem Impro-Theater das glückliche Ende feiert, bleibt Rainers Stuhl im Publikum leer. Man ahnt nur, dass irgendetwas im Leben des jungen Mannes schiefgelaufen sein muss. Das erzählt Grüneberger dann im letzten Kapitel, das vor allem davon erzählt, wie junge Leipziger noch im Sommer 1990 jede Chance nutzen, in der kommenden Marktwirtschaft Fuß zu fassen, sie als Herausforderung zu nehmen und sich nicht hängenzulassen.
Auch das wird eher selten erzählt, meist überschrieben mit der als einziges Abwracken erzählten Treuhand-Geschichte, die die Ostdeutschen quasi zu Opfern macht, denen das alles nur zustieß. Aber wäre es so gewesen, wäre im Osten ganz anders tote Hose als heute. Denn dass der Osten tatsächlich noch einen ganz und gar nicht so kleinen Besatz an Unternehmen hat, hat mit all den Ostdeutschen zu tun, die sich 1990 am eigenen Schopf aus dem Wasser zogen, die sich in all die eiligst aus dem Boden gestampften Schulungen beim Arbeitsamt setzten und Rollen lernten, die es vorher nicht gab.
Die sich auch in den Drückerkolonnen verdingten, die überall Zeitungsabos vertickten, oder sich – wie Rainer – zum Immobilienmakler schulen ließen. Oder mit ihrem Meistertitel endlich einen eigenen Handwerksbetrieb gründeten. Was auch nicht immer gutging. Denn viele erlebten, wie schnell man scheitern konnte in einer Zeit, in der die Leute noch kaum harte Währung in der Tasche hatten, aber auf einmal schon wieder finanzkräftige Hauseigentümer und Spielhallenbetreiber in den Markt drängten, die Mieten hochtrieben …
Erstaunlich viele Themen, die Grüneberger anklingen lässt und die die oft genug eigentlich unaushaltbare Spannung dieses Jahres nach diesem 9. Oktober spürbar machen. Eine Spannung, die auch die Helden seines Romans zuweilen mutlos zu machen droht. Gerade Jesse und Rainer wollen gar nicht erst in die Lage kommen, ihre Eltern um Unterstützung anbetteln zu müssen. Sie wollen zeigen, dass sie es aus eigener Kraft schaffen können. Und es lässt sich für Rainer, der sogar das noch junge Connewitzer Besetzerprojekt kennenlernt, sogar gut an. Die neue Zeit könnte für ihn eigentlich beginnen. Aber es ist auch eine Zeit, in der die alte Staatsmacht selbst im Übergang ist, von vielen Leipzigern damals regelrecht als macht- und zahnlos erlebt.
Ob Rainer am Ende überlebt, lässt Grüneberger offen. Man ahnt schon, wie er beim Schreiben dieses Romans mit sich gerungen hat. Denn ganz eindeutig wollte er keine Heldengeschichte schreiben, nicht schon wieder eine Jubelgeschichte über eine Friedliche Revolution, die andere Leute, die überhaupt nicht dabei waren, nur zu gern auf ihr Konto schreiben. Er wollte eher von Protagonisten berichten, die eher ohne eigenes Zutun mitten in den Strudel der Ereignisse gespült wurden. So wie am 7. Oktober viele Leipziger, die nicht mit dieser Rücksichtslosigkeit eines Systems gerechnet hatten, das diese Brutalität zuvor immer nur an Dissidenten und Unangepassten ausgelassen hatte.
Viele erinnern sich gern an die berauschende Aufbruchsstimmung nach dem 9. Oktober. Über das, was die meisten dann ab dem Sommer 1990 durchmachten, wird eher selten geredet. Grüneberger aber erinnert diese Zeit sehr detailreich, eine Zeit, in der auch Freundschaften, Ehen, Arbeitskollektive sowieso zerbrachen. Rainer und Jesse erleben exemplarisch, was damals fast jeder und jede erlebten, die ihre Arbeit verloren, das ganze existenzielle Gefüge und oft genug auch viele Menschen, die zuvor zum eigenen Kosmos gehört hatten. Wer immer konnte, packte ja seine Sachen und ging in den Westen. Und wer da blieb, musste sich in der Regel entweder völlig neu erfinden oder auf die harte Tour versuchen, irgendwie wieder eine Existenz aufzubauen, in der er seine Wohnung bezahlen konnte und vor sich selbst und seinen Bekannten noch das Gesicht wahren konnte.
Grüneberger beleuchtet damit eine Verschiebung, die eher nichts mit der Treuhand-Debatte zu tun hat. Die aber viel mit der bis heute anhaltenden Verunsicherung vieler Ostdeutscher zu tun hat, von denen viele nie das Gefühl losgeworden sind, dass ihnen das, was sie sich erarbeitet haben, irgendwie nicht zusteht, nur gegönnt wird und vor allem – jederzeit wieder entzogen werden kann. Ein Gefühl, das in der Erinnerung auch ein ewiges Herbstgefühl ist, auch wenn der Buchtitel scheinbar nur an den Herbst 1989 erinnert. Aber richtig ungemütlich, stürmisch und trist wurde eben auch für viele Menschen erst die Zeit danach. Eine Zeit, in der für Besinnung eigentlich nie Zeit war. Auch wenn Grüneberger hier im September 1990 einen Punkt setzt und das Buch mit einer kleinen Chronik der Jahre 1989/1990 beendet.
Und damit lässt er natürlich offen, was aus Jesse, Monika und Rainer geworden sein könnte. Aber genau dieses offene Ende erzählt ja, was so gern wegretuschiert wird mit all den „Wundern der Friedlichen Revolution“: die Mühen der Ebene. Oder Brechts Gedichtzeile von 1949 etwas kompletter zitiert: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ Denn erst in diesen Mühen einer oft tristen, unwirtlichen und unwegsamen Ebene entfalten sich die Schicksale der Menschen, müssen sie im Ringen mit Umständen und Niederlagen lernen, wieder ein eigenes, vollgültiges Leben zu leben. Daraus wird dann tatsächlich erst Geschichte gemacht. Geschichte, die sich nicht so hübsch feierlich erzählen lässt wie der Sturz einer ungeliebten Regierung, Mauerfall und Deutsche Einheit.
Die drei Helden des Buches erfahren sehr schnell, dass den sicheren Siegen erst die Zeiten der Unsicherheit, der Suche und der Irrungen folgen. Und dass ganz wenig genügt – und es geht an die eigene Existenz. Und Grüneberger erzählt das so dicht, als müsste er das endlich einmal loswerden, schildern, wie für viele tatsächlich alles begann. Und nicht wenige haben so wie Rainer begonnen: Ohne alles, nur mit der festen Überzeugung, dass sie sich nicht unterkriegen lassen wollten.
Ralph Grüneberger „Herbstjahr“, Gmeiner Verlag, Meßkirch 2019, 14 Euro.
Veranstaltungstipp: Lesung mit Ralph Grüneberger aus „Herbstjahr“ am Mittwoch, 25. September, 19 Uhr in der Stadtbibliothek Leipzig.
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