Unser Blick auf Kindheit verändert sich – er wird, na ja, etwas komplizierter. Jedenfalls für alle, die noch irgendwie die grimmigen Erziehungsregeln eines vergangenen Jahrhunderts im Kopf haben. Und das sind noch verflixt viele. Jene zum Beispiel, die über die antiautoritäre Erziehung der 68er wettern. Weil sie das Eigentliche nie verstanden haben. Das steckt in dieser kleinen Gute-Nacht-Geschichte des schwedischen Kinderbuchautors Ulf Stark.
Grimmige Autoritäre glauben immer, dass es in familiären Beziehungen um Macht geht, darum, wer die Regeln vorgibt und der Bestimmer ist. Bei ihnen ist das meist der „Ernährer der Familie“. Entsprechend geht es in diesen Familien auch zu. Die psychotherapeutischen Beratungsstellen können über die Folgen dieser familiären Übergriffigkeit ein Lied singen. Denn so werden keine selbstbewussten und sensiblen Menschen groß, die ihre Wünsche kennen und Zugang zu ihren Gefühlen haben. So erzieht man Opportunisten, Untertanen und Kanonenfutter.
Ich hole da nicht weiter aus. Die Betroffenen wissen, was derart hinter ihrer „Macht“ versteckte Eltern an ihren Kindern anrichten. Denn die Schattenseite der Macht ist in der Regel: Wer das nötig hat, ist selbst ein traumatisierter Mensch, der sich aber nicht mit dem frühzeitigen Gefühlsentzug der Eltern beschäftigt, sondern selbst in die Ersatz-Rolle schlüpft und jetzt ebenfalls als verhärteter Erzieher gegen andere – in der Regel Schwächere – operiert. Auch in der Politik. Gerade dort.
Dabei gibt es keine einzige Tierart, bei der der Nachwuchs mit Gewalt, Korrektion und Gefühlsverweigerung erzogen wird. Wirklich keine. Und auch die wenigen indigenen Menschenstämme, die es auf der Erde noch gibt, zeigen solche Verhaltensweisen nicht. Sie wissen noch, dass man Kinder vor allem durch Sorge, Einfühlsamkeit und Vorbild erzieht. Kinder lernen, weil Erwachsene ihnen zeigen, wie es geht. Dazu ist ihr kleines Gehirn gemacht. Es sucht nach Mustern und den richtigen Verhaltensweisen. Es lernt sich selbst kennen, indem es die Welt begreift. Stück für Stück.
Kinder sind keine Maschinen. Eltern wissen das, auch wenn das zuweilen an die Substanz geht, weil manche Dinge wirklich erst eingeübt werden müssen. Zum Beispiel der Tagesrhythmus der westlichen Zivilisation. Der ist nicht angeboren. Den lernen Kinder erst nach und nach, während ihr Körper sich mit dieser Justierung schwertut. Denn die Natur kennt keine an die Uhr gebundenen Schlafenszwänge. Das kann Eltern zum Wahnsinn treiben – und zwar gerade dann, wenn sie am nächsten Tag „früh raus müssen“. Auch das ist kein natürliches Verhalten, sondern ein gesellschaftlicher Zwang, den auch die Erwachsenen im Urlaub versuchen, wenigstens einmal zu durchbrechen.
Kinder können das noch. Deswegen passen sie oft so schlecht. Und können selbst dann, wenn die Eltern am Tag alles richtig gemacht haben und das Kind eigentlich hundemüde sein müsste, mit Überraschungen aufwarten. Nur dass der Junge in dieser Geschichte ein aufgewecktes Kerlchen ist, der seinen Teddy zum Kumpel gemacht hat. Dann ist es nämlich Teddy, der nach dem Zubettgehen nicht schlafen kann, der unbedingt mit ins Bett will, herumhüpft und weint und sich lauter solche Fragen stellt, die einen beim Versuch einzuschlafen stundenlang beschäftigen können.
Denn auf einmal hört man lauter Geräusche, die man tagsüber gar nicht wahrgenommen hat. Da beginnen von ganz allein Geschichten im Kopf abzulaufen, die Ohren werden gespitzt und das Rätselraten beginnt. Natürlich nur bei Teddy, der dabei so unruhig wird, dass er den Jungen dazu bringt, aufzustehen und nachzuschauen, was da eigentlich hinter der halboffenen Tür los ist.
Also so eine richtige Einschlafgeschichte, mit der vorlesefreudige Eltern ihre Knirpse genau da abholen können, wo sie sowieso landen, wenn irgendetwas noch in ihrem Köpfchen rumort. Das kann man ernst nehmen. Und einer wie der Vater des Jungen in dieser Geschichte nimmt das auch ernst. Bestimmt, weil er nicht vergessen hat, dass ihn alle diese Einschlaffragen auch mal beschäftigt haben. Vielleicht sogar heute noch beschäftigen.
Natürlich schickt er den Jungen nicht mit strengem Vaterwort zurück ins Bett. Er nimmt den Kleinen – beziehungsweise den unruhigen Teddy – ernst und damit auch die Frage, warum es nachts so dunkel ist. Nicht ganz dunkel. Lichter sieht man ja auch im dunklen Kinderzimmer noch. Lichter, die noch viel mehr Fragen nach sich ziehen, denn so ein kleines Kindergehirn ist hungrig. Es will alles wissen, wirklich alles. Da unterscheidet es sich wirklich vom disziplinierten Gehirn so vieler Erwachsener, die ihre Freude am Fragen und Neugierigsein verloren haben. Oft schon früh. In der Schule zum Beispiel.
Aber bei Ulf Stark dürfen Kinder ihre ungehemmte Neugier ausleben. Und sie werden von verständnisvollen Eltern dabei ernst und an der Hand genommen. Auch in dieser Geschichte, die ganz anders ausgeht, als es die üblichen Erzieher für richtig halten würden.
Was einen – wenn man das so schreibt – dazu bringt, über das Wort „richtig“ nachzudenken. Eigentlich ein brandgefährliches Wort, das auch in den Worten Gericht und Korrektur steckt. Also auch in einer korrekten Erziehung, nach der das Kind hinterher korrekt und funktionstüchtig ist. Aber nicht mehr neugierig aufs Leben, weil man dafür ja den korrekten Weg verlassen müsste.
Wer Glück hat, hat so einen Vater, wie ihn Charlotte Ramel zu dieser Ulf-Stark-Geschichte gezeichnet hat. Einen Vater, der sichtlich gelassen ist und bereit, auch mit Teddy und Sohnemann zusammen was zu lernen. Kinder können einem ganz schön was beibringen, wenn man sich nicht hinter lauter Allmacht und Allwissenheit versteckt, sondern die schöne Chance wahrnimmt, mit ihnen auch wieder den neugierigen Blick auf alles was da ist zurückzugewinnen.
Na gut: Da ist man dann für einige „Arbeitgeber“ nicht mehr zu gebrauchen. Aber vielleicht ist es auch andersherum und diese „Arbeitgeber“ sind zu nichts zu gebrauchen, wenn in ihrer Angeberei kein Platz mehr für die unbändige Neugier und Lebensfreude der Kinder ist. Mal so formuliert, aus der Sicht von Teddy, der am Ende der Geschichte natürlich auch prima schlafen kann. Denn manchmal braucht man eben doch noch ein kleines, erfüllendes Erlebnis, damit der Tag rund wird und man mit gutem Gefühl im Bauch die Augen schließen kann.
Ulf Stark Eines Nachts, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2019, 13 Euro.
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