Als Jürgen Gottschalks Geschichte 2006 erstmals in dieser handlichen Reihe erschien, war noch nicht abzusehen, was mit der Gründung der AfD und PEGIDA in Sachsen noch passieren würde, wie eine zutiefst nationalistische Partei gleich noch die Friedliche Revolution versuchen würde zu kapern. Aber was hat das mit der untergegangenen DDR zu tun und ihrem Repressionsapparat? Eine ganz Menge, auch wenn es Gottschalk eher beiläufig feststellt in der deutlich erweiterten Neuauflage.
Er gehört zu den vielen tausend junger Menschen, die sich gegen die allgegenwärtige Bevormundung in der DDR auflehnten. Nicht ganz zufällig, denn seine Eltern waren selbst staatsnah, hielten zu diesem doktrinären Staat selbst noch nach dessen Untergang. Was in gewisser Weise noch erklärbar ist, denn sie hatten das Nazi-Reich erlebt und überlebt. Was für Millionen Menschen auch im Osten bedeutete, dass für sie das neue propagierte „Nie wieder!“ als neue Überzeugung zutiefst attraktiv war.
Die Propaganda, mit der die neue Partei an der Spitze Ostdeutschland überzog, war ein in sich geschlossenes Gebilde, das den propagierten Antifaschismus mit der Behauptung verband, jetzt würden Arbeiter und Bauern regieren und mit dem Sozialismus/Kommunismus die letzte, höchste menschliche Gesellschaftsform errichtet. Das erfolge ganz planmäßig und auf Grundlage einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“.
Und wer Mitglied der SED würde, wäre direkt ein Teil dieser Vorhut, die diese neue Gesellschaft errichten würde. Ein Angebot, das nach dem Ende des Nazireichs im Osten wie ein Opium wirkte und die ostdeutsche Aufbaugeneration prägte. Und natürlich erst recht all jene, die in diesem neuen Staats- und Parteiapparat Karriere machten. Menschen, von denen man oft heute noch nicht weiß: Glauben sie wirklich so felsenfest daran, dass das alles richtig war? Oder ist es wirklich eine Art Denken, die sich durch nichts infrage stellen lässt, nicht einmal durch eine massenhafte „Abstimmung mit den Füßen“ und das Ende ihres Staates?
Jürgen Gottschalk ist ein typisches Beispiel für jene Menschen, die in diesem realsozialistischen System der Anpassung und des Opportunismus erst zum Beobachtungsobjekt für die Staatsorgane wurden, dann „bearbeitet“ und „liquidiert“ wurden. Da er aber das Leben und die Verhaltensweisen seiner Eltern als Blaupause hat, wird etwas deutlicher als in anderen Biografien, wie dieser Staatsapparat mit seiner Disziplinierung eigentlich tickte.
Denn da man ja den berühmten „neuen Menschen“ 1945/1946 noch nicht hatte, hatte auch die neu installierte Ulbricht-Regierung keinerlei Vertrauen in die Menschen, „unsere Menschen“, wie es so schön besitzergreifend hieß. Man hatte 18 Millionen Deutsche quasi zum Experimentieren frei Haus bekommen und durfte nun – an Stalins Moskauer System geschult – ausprobieren, wie man dieses neue „Volk“ dazu bringen könnte, sich im Handumdrehen in ein Volk glühender Sozialisten, Planerfüller und Rädchen in einem zentral gesteuerten Getriebe („demokratischer Zentralismus“) zu verwandeln.
Die Köpfe austauschen konnte man ja nicht. Also wurde das neue Sprechen und Zu-Kreuze-Kriechen verordnet, mit Parteiversammlungen, Selbstverpflichtungen und Tribunalen regelrecht eingetrieben. Die einzige „Klasse“, die dieser Indoktrination weitestgehend entzogen war, war erstaunlicherweise die Arbeiterklasse, denn die konnte streiken und Ulbrichts labiles System durch einen einfachen Ausstand ins Wanken bringen, wie 1953 sehr schön zu beobachten war. Deswegen galt bis zum Schluss eine Art Stillhalteabkommen nach dem Motto: Ihr könnt falsche Planüberfüllungen melden, wir bauen euch trotzdem neue Plattenbauten. Aber bitte streikt nicht.
Anders war es mit all jenen, die man zur Intelligenz zählte. Durch die tatsächlich ein elementarer Riss ging – einerseits gab es die staatstreue Nomenklatura, die zu jeder Schandtat bereit war, wenn es nur darum ging, der Partei(-führung) ihre Treue zu beweisen – und die trotzdem durch die berühmten Reinigungsbäder der stalinistischen Schauprozesse ging. Und auf der anderen Seite gab es die Zweifler, die, die die Parolen ernst nahmen, Marx, Engels und Lenin wirklich lasen oder die – wie Jürgen Gottschalk – einfach ein freier Mensch sein wollten, die sich im Selberdenken und im künstlerischen Äußern nicht einschränken lassen wollten.
Seine Zeit als Drucker begann für Gottschalk erst nach seiner Ausbildung im Schieferbergbau, seine Arbeit in der Wismut und seiner Zeit bei der Bereitschaftspolizei. Sie war eine Traumerfüllung, nachdem er die faszinierenden Möglichkeiten des Siebdrucks und der Mailart kennengelernt hatte. Neben einem Job als Hausmeister baute er sich eine eigene Druckwerkstatt auf, begründete damit auch eine eigene Existenz als freier Unternehmer, abseits der staatlichen Bevormundungen.
Aber spätestens seine Beteiligung an der grenzüberschreitenden Mailart, bei der künstlerisch gestaltete Postkarten von Künstlern in aller Welt über einen weitverzweigten Verteiler verschickt wurden, rückte ihn ins Visier der Stasi. Seine Umgebung wurde gespickt mit IM. Die von ihm kopierten Stasi-Akten über sich selbst umfassen über 1.100 Seiten. Darunter ist auch eine MfS-Diplomarbeit eines Dresdner Stasi-Hauptmanns, in der die systematische „Liquidierung“ des Künstlers mit intensiver IM-Bearbeitung geschildert wird wie ein wissenschaftlicher Experimentalvorgang.
Quasi als wissenschaftlich belegte Handlungsanweisung, wie man unangepasste Menschen systematisch zu Staatsfeinden macht und Material produziert, auf dessen Grundlage man sie verhaften, verhören und verurteilen kann. So geschehen dann 1983, nachdem man Gottschalk schon so weit getrieben hatte, dass er seine Druckwerkstatt verkaufte und einen Ausreiseantrag in den Westen stellte.
Doch bevor er durch den Westen freigekauft wurde, machte ihm die Stasi noch den Prozess, lernte Gottschalk nicht nur die MfS-Untersuchungshaftanstalt in der Bautzner Straße in Dresden kennen, sondern auch die bedrückenden Bedingungen in Brandenburger Haftanstalten. Eine Zeit, die ihn nicht nur prägte, sondern auch schwer traumatisierte – so wie die meisten von all den Menschen, die diese Haftbedingungen im Osten kennenlernten, die nicht nur auf die komplette Entwürdigung der Inhaftierten abzielte, sondern auch auf ihre seelische Zerstörung. Die meisten litten und leiden unter den Alpträumen, die sie nicht mehr loslassen.
Nur wenige setzten sich dann wirklich hin und versuchten, das Trauma ihres Lebens zu erzählen. Das 2006 erschienene Buch war schon Gottschalks zweiter Versuch, sein Leben zu erzählen, den ersten Versuch hatte er jahrelang unbeendet in der Schublade liegen lassen. So gesehen war die Bitte des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, seine Geschichte in ein Buch zu packen, auch der Antrieb für den Künstler, die Sache wirklich einmal auszuerzählen.
Dabei war er – auch das eher eine Ausnahme – gleich nach 1990 in seine Heimatstadt Dresden zurückgekehrt und hatte dort eine neue Druckwerkstatt übernommen, machte jetzt also wieder – mit interessierten Jugendlichen – was ihm am Herzen lag. Aber als die (erste) Jahrhundertflut von 2002 auch die Druckwerkstatt vernichtete, drohte er in ein tiefes Loch zu stürzen. Das Buch war auch ein Ansporn, sich jetzt nicht geschlagen zu geben.
Später engagierte er sich auch bei der Einrichtung der Haftanstalt in der Bautzner Straße als Gedenkstätte, wo er seitdem – als einst selbst Betroffener – regelmäßige Führungen anbietet. Was ihm nicht nur hilft, sich den Schatten der Vergangenheit zu stellen, sondern auch anderen Menschen zu zeigen, wie ein Repressionsapparat wirklich funktioniert und wie machtlos der Mensch ist, wenn er in die Fänge so eines Apparates gerät. Machtlos, nicht hilflos.
Denn das ist die Botschaft, die er wichtig findet: Auch den jüngeren Menschen, die die DDR nie erlebt haben, klarzumachen, wie sie mit mutigen, selbstständigen und rebellischen Menschen umging, wie sie jedes Andersdenken und Freiseinwollen erstickte und kriminalisierte.
Sein erstes Buch blieb nicht ohne Kritik, weil manche Leser vermuteten, er habe die Zitate aus der MfS-Diplomarbeit willkürlich ausgewählt und damit eigentlich verfälscht. Was schlechtmeinende Menschen immer tun, wenn ihnen die Botschaft nicht gefallen will. Eine Botschaft, die eben auch besagte, dass die meisten ehemaligen DDR-Bürger sich mit ihrer Vergangenheit nie wirklich beschäftigt haben.
Sie haben einfach weitergemacht in einem neuen System, die neuen Sprüche auswendig gelernt und sich wieder – gelernt ist gelernt – in neue Hierarchien eingepasst. Daheim aber leben sie den alten Geist, das alte Denken in Ordnung, Fleiß und Disziplin. Plus die alte Verachtung gegen Andersdenkende und Ausländer.
Mehr muss man zu dem, was da in Sachsen passiert, eigentlich nicht mehr sagen.
Aber besonders angespornt von Nancy Aris, die diese Neuherausgabe betreut hat, hat sich auch Gottschalk noch einmal mit seiner Lebensgeschichte beschäftigt. An der Erzählung von 2006 musste er nichts ändern. Aber das Buch wurde jetzt durch ein ausführliches Interview von Nancy Aris mit Gottschalk auch über seine Erfahrungen nach der Veröffentlichung des Buches ergänzt. Dazu kommt ein kleiner Essay, in dem Gottschalk selbst das Buch, seine Erfahrungen seitdem und die Frage reflektiert, was diese unverarbeitete DDR-Geschichte eigentlich für die Gegenwart bedeutet.
Besonders beschäftigt er sich mit der Frage, warum so viele Menschen geradezu gleichgültig mit der sich immer mehr ausweitenden Überwachung, Datensammelei und Ausspähung durch Internetkonzerne und Geheimdienste umgehen. Als hätten sie aus der Stasi-Vergangenheit und deren ungebremster Datensammelwut nichts gelernt. Nicht einmal das, dass jedem wirklich jede persönliche Äußerung von einem willigen Geheimdienst verdreht und missbraucht werden kann, von wirklich kritischen Gedanken und Meinungen ganz abgesehen.
Und auch die MfS-Diplomarbeit findet man jetzt in voller Länge in fotografischer Wiedergabe im Buch – wozu man dann freilich eine gute Lesebrille braucht, um sie auch lesen zu wollen. Wenn man sie denn lesen will und nicht schon beim selbstherrlichen Ton der Arbeit das blanke Grausen bekommt. Und in einer Fotostrecke sind jetzt auch einige der Mailart-Drucke Gottschalks aus den frühen 1980er Jahren zu sehen, deren Brisanz sich heute kaum noch erschließt, weil solche Äußerungen zu Frieden und Abrüstung selbstverständlich sind.
In der DDR aber wurden sie konsequent als „staatsfeindliche Hetze“ betrachtet und entsprechend verfolgt. Und gerade jene Künstler, die nach eigenen Ausdrucksformen suchten, ihre künstlerische Botschaften zu vermitteln, überschritten sehr leicht die unsichtbare Grenze, die die Staatsschützer gezogen hatten zwischen dem, was gesagt werden durfte, und dem, was „einen Vorgang auslöste“.
Abgedruckt ist auch der Ausschnitt aus einem Interview mit dem Regisseur Clemens Bechtel, der an der Bürgerbühne des Dresdner Staatsschauspiels 2013 das Stück „Meine Akte und ich“ inszenierte, in dem auch Jürgen Gottschalk auftrat und das drei Jahre lang immer wieder für ausverkaufte Vorstellungen sorgte, bis es dann recht unverhofft abgesetzt wurde.
Am Ende findet Gottschalk dann noch ein paar deutliche Worte über die „Eitelkeiten der Moderne“, die „Verführungen“, die wir so gedankenlos nutznießen. „Wir wollen zumindest fragmentarisch, wenigstens ein wenig vom falschen Glanz eines dekadenten Verschleißes erhaschen, ohne in der Regel zu fragen oder es wahrhaben zu wollen, auf wessen Kosten wir leben.“
Seinen kritischen Kopf hat er behalten. Und eigentlich ist es auch noch dieselbe Haltung, mit der er vor 40 Jahren seine Mailart-Kunst machte: sich nicht verbiegen, sich nicht von falschen Versprechungen einfangen lassen. Und eigentlich auch: anderen Leute nicht die Macht über das eigene Leben in die Hand zu geben. Also auch zu verhindern, dass Staatsmächte ihren Zugriff auf das Leben der Menschen wieder ausweiten und wieder anfangen, „Andere“ auszugrenzen, zu schikanieren oder abzuschieben.
Jürgen Gottschalk Druckstellen, 2. erweiterte Auflage, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2019, 10 Euro.
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