Hartmut Zwahr hat sich Großes vorgenommen. Die Leipziger kennen den 1936 geborenen Bibliothekar und Historiker noch als Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Uni Leipzig. Die Position bekleidete er bis 2001. Der Sax-Verlag hat schon sein Buch „Ende einer Selbstzerstörung“ übernommen, in dem Zwahr das niederschrieb, was viel zu wenige ostdeutsche Wissenschaftler 1989 taten: Die realen Ereignisse dieses Herbstes zu erfassen. Man ahnte schon, wie er tickt.
Nämlich wie ein Wissenschaftler. Was auch unter Wissenschaftlern selten und kostbar ist. Man muss sich nur die gesamte Tragödie der ostdeutschen Geschichtsforschung anschauen. Eigentlich der gesamtdeutschen. Aber an der ostdeutschen fällt es mittlerweile auf, wie stark und unüberwindlich nach wie vor die Mauern sind, die die Forscher von der Aufarbeitung der faktisch belegbaren Realität trennen.
Es sind nicht nur die Tabus aus DDR-Zeiten, die daran hindern, das Stück Land, das Adenauer so gern schon mit Sibirien assoziierte, in seiner wirklichen Existenz zu erfassen. Es sind auch die dominanten westdeutschen (Fern-)Interpretationen der ostdeutschen Geschichte, die die 45 oder auch 70 Jahre ostdeutscher Geschichte geradezu sakrosankt machen. Da bleibt man lieber auf Abstand, packt den ganzen Kram in die Kiste „2. deutsche Diktatur“, fertig der Lack.
So kann man mit Geschichte nicht umgehen.
Und mit Menschen auch nicht.
Denn weder die Menschen noch die Geschichte sind schuld daran, dass die DDR so war, wie sie war. Das weiß eigentlich jeder Historiker, der einmal mit kritischem Interesse auf die Welt schaut und herauszoomt aus dem provinziellen Spiegelblick. Dann verändern sich Maßstäbe, schrumpfen die Blasen der offiziösen Politik – dafür rücken die eigentlichen Protagonisten auf einmal groß und lebendig ins Bild.
Unter den wenigen, die das in der DDR schreiben durften, gehörte Jürgen Kuczynski, dessen vielbändiges Werk „Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ bis heute maßstabprägend ist. Wer es weiß, bemerkt die großen tektonischen Bewegungen in der Geschichte, die von ganz unten kommen, dort, wo Welt und Leben im Arbeitsalltag gebrochen sind, wo es um das tägliche Essen geht, eine warme Wohnung, Kleidung für die Kinder, ein paar Sonnenstrahlen.
Dort, wo Menschen oft wirklich nur im bitter Nötigsten leben. Man denke nur an die herrlichen Zeichnungen von Heinrich Zille. Oder an die eindrucksvollen Romane, die in der Weimarer Republik Furore machten und das Leben des „kleinen Mannes“ erstmals zum viel gelesenen Romanstoff machten – man denke nur an Döblin und Fallada.
Die freilich in diesem Buch nicht vorkommen, auch wenn der Junge Johannes, der eigentliche Mittelpunkt der Geschichte, geradezu süchtig ist nach guten Büchern und auch deshalb am Ende eine Ausbildung als Bibliothekstechniker macht und genau die Laufbahn einschlägt, die auch Hartmut Zwahr gegangen ist.
Das Buch kann das Autobiografische nicht verleugnen, auch wenn Zwahr versucht, die Distanz zu vergrößern und auch auf den Ich-Erzähler verzichtet. Beinah. An einigen Stellen taucht dennoch so ein kleines, überraschendes Ich auf, als würde sich der Autor auf einmal wieder bewusst, dass er mit seinen Protagonisten am Straßenrand steht und zuschaut, was passiert.
Seine Technik ist keine ganz einfache, auch wenn sie überraschend vertraut ist. Er erzählt die Geschichte dreier Familien aus der Lausitz wie einen Flickenteppich aus Erinnerungen, Geschichten, Dialogen, kleinen Szenen – in vollem Sinne assoziativ. So, als fiele ihm das beim Schreiben so ein. So, wie Erinnerung funktioniert, wenn man wirklich beginnt, sich erinnern zu wollen – und wenn man ein gutes Gedächtnis hat. Dann entsteht so ein Teppich aus lauter prägnanten Szenen, die in der Erinnerung einer Familie aufbewahrt werden.
Und die zum Vorschein kommen, wenn man sich wieder einmal gemeinsam erinnert – bei einem Familientreffen, beim Durchblättern eines Fotoalbums, oder auch, wenn man durch die Orte seiner Kindheit geht und auf einmal an markanten Ecken so ein Bild auftaucht, ein Name, ein Geruch, ein Gefühl, die Gestalt eines Menschen. Und auf einmal taucht auch die Geschichte dazu auf, manchmal mehrere, manchmal eine ganze Geschichtenwelt, wenn dieser Mensch wichtig und prägend war für das eigene Leben.
So wie Gustav, der Großvater des Jungen, der für den frühen Teil der Geschichte die tragende Gestalt ist. 1904 hat er bei Strahwalde eine Wassermühle gekauft und sie fortan immer wieder umgebaut und ausgebaut, ein kleiner erfolgreicher Unternehmer, der aber mit der Wirtschaftskrise 1930 alles verlor und nie wieder an den Erfolg von früher anknüpfen konnte, auch wenn er immer weiter rackerte. Bis zum Schluss.
Der Leser sieht ihn noch keuchend einen Teich entschlammen, um mit dem Schlamm einen Dorfplatz fruchtbar zu machen. Man landet mit Gustav in der kargen, von Hunger geprägten Nachkriegszeit. Und ist nicht verwundert. Zumindest nicht, wenn einem die eigenen Großeltern und Eltern noch von dieser Zeit erzählt haben. Den Jahren nach dem verlorenen Krieg, in dem sie fast alle damit zu tun hatten, überhaupt zu begreifen, was geschehen war. Warum dieser Krieg so endete und die einrückenden Russen so wütend und rücksichtslos waren. Und warum das Land über Jahre nicht aus der Not herauskam.
Nur wird das bei Zwahr kein Schuld-und-Sühne-Roman. Schuld und Sühne fordern nur dumme Politiker, genauso wie sie Willfährigkeit und Anpassung fordern. Gustav stirbt, er hat sein Herz völlig überanstrengt und – den Vorwurf muss er sich gefallen lassen: Er hat sich und den Seinen nie Urlaub gegönnt, keinen Tag der Muße. Alle Tage sind draufgegangen für die Mühle, alles Geld. Geblieben ist nichts. Seine Frau, die kurz vor ihm stirbt, trägt es ihm nicht nach. Und trotzdem steht es mitten im Raum, das so deprimierende Gefühl, dass andere den großen Reibach gemacht haben, die sich nie so anstrengten, aber die Kunst beherrschen, sich ins gemachte Nest zu setzen. Und Karriere zu machen, egal, wie finster die neuen Mächte sind.
So handelt das Buch auch ein wenig vom Verschwinden der Nazis im Schatten der Nachkriegszeit. Viele gingen in den Westen und machten dort munter Karriere. Und wer im Osten blieb, lernte sich wie ein Chamäloen zu verhalten. Wieder hat man eine neue Macht bekommen, die ihre Untertanen nach Willfährigkeit bewertete. Was Johannes früh lernt, denn an die Oberschule darf er nicht, weil seine Mutter den Fragebogen ehrlich und treuherzig ausgefüllt hatte. Aber ein Beamter als Vater? Da wurde die neue „Arbeiter-und-Bauern“-Macht gnadenlos.
Auch Johannes’ Vater Georg wird zur vielschichtigen Gestalt. Nicht zur tragischen, auch wenn ihn die neuen Machthaber bürokratisch aussortieren und nicht mehr in seinem Beruf sehen wollen. So malocht er für Groschen in der Zwiebackfabrik. Selbst seine fünfjährige Kriegsgefangenschaft wird ihm augenscheinlich misstrauisch angekreidet. Eigentlich bräuchte er jede Unterstützung nach diesen fünf Jahren Entbehrung. Aber eine Willkommenskultur gibt es nicht in diesem neuen Land, in dem Leute regieren, die schon wieder alle Menschen sortieren in „Gute und Schlechte, Angepasste und Beargwöhnte“. Alles schon übertönt vom Gesang vom „neuen Menschen“.
Georg freilich lässt sich nicht brechen. Er ist seinem Sohn etwas, was Väter damals selten waren: ein kluger Ratgeber, ein väterlicher Aufklärer. Er will das Beste für ihn, weiß aber, dass nur ein Weg wirklich gangbar ist – der Umweg, auf dem man lernt, die Klappe zu halten, nichts über sich preiszugeben und den großen Kontrollierern eine Maske zu bieten, die sie akzeptieren. So wird in Johannes’ schriftlichem Lebenslauf aus dem Beamten-Vater ein simpler Angestellter.
Aber dahin muss man erst einmal kommen. Leicht macht es Hartmut Zwahr den Lesern mit seiner Erzähltechnik nicht. Es ist, als würden fortwährend die Erzählpositionen wechseln, neue Assoziationen in neue Seitenstränge führen, unverhoffte kleine Szenen im Gedächtnis auftauchen. Ein fortwährendes Wispern, Erleben, Schauen, Erinnern.
Man bekommt genau das nicht, was bei den meisten Romanerzählern und bei fast allen Historikern immer so verführerisch wirkt: die rote Linie, den eindeutigen Erzählstrang, der geradlinig von Anfang bis Ende führt, der dem Leser eine Deutung regelrecht aufzwingt. Am Ende scheint in solchen Erzählungen ja alles klar zu sein, dann hat sich die Geschichte die ganze Zeit richtig gesetzmäßig auf das Ziel, das Finale zubewegt, das der ganzen Geschichte einen Sinn verleiht.
Menschen sind so: Sie erzählen gern einen Sinn in ihr Leben und in die Welt. Das tröstet ein bisschen, schafft scheinbar klare erzählerische Strukturen. Ohne solche Geschichten scheint die Welt keinen Sinn zu haben.
Und Zwahr macht eigentlich genau das klar: Das menschliche Leben hat keinen solchen Sinn.
Den kann man ihm geben, indem man selbst daran arbeitet. Darauf deutet ja auch der schon angekündigte zweite Erinnerungsroman hin, der dann „Leipzig“ heißen soll und die Studentenzeit von Johannes in der großen Stadt abbilden soll. Möglicherweise mit großen Protagonisten, wie sie auch in Zwahrs Leben eine Rolle spielten: der Historiker Walter Markov, der Historiker Ernst Engelberg (der die große Bismarck-Biografie vorlegte), der Mittelalterspezialist Theodor Frings, der Germanist Hans Mayer … Immerhin ist es das Leipzig der 1950er Jahre, das Johannes erleben wird, ein Leipzig zwischen Aufbruch (in „eine neue Zeit“) und ersten, auch gewalttätigen „Korrekturen“.
Stalins Tod erleben wir noch im Lausitzroman – mitsamt der gewaltigen Inszenierung, die in einem Teil der Geschichtsschreibung regelrecht dramatische Züge annimmt. Die Zwahr freilich emsig hinterfragt. Viele Szenen, die er erinnert, passen nicht zur verordneten Erinnerung an ein „ganzes Volk in Trauer“. Aber er lässt auch den Zweifel zu: Vielleicht wehklagten wirklich viele Gläubige, als dieser Mann mit dem Schnauzbart starb, der „Vater aller Völker“.
Geschichte passiert nie eindeutig, sondern als ein breiter Echoraum diffusester Erlebnisse, Dialoge, Handlungen. Nichts ist so eindeutig, wie es die großen Geschichtserzählungen behaupten. Dazu passiert schlichtweg zu viel, und zwar auch noch synchron und asynchron. Was sich jetzt als Formulierung geradezu aufdrängte, weil sich Johannes und seine Freunde in der Bibliothekarsausbildung mit Stalins vier kruden Thesen zur Dialektik beschäftigen müssen und auch an der grausamen Konstruktion von „antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen“ verzweifeln.
Mit dem Quatsch wurden die Kinder in der DDR-Schule ja bis zum Schluss gequält. Doch ein Rebell ist dieser Johannes noch lange nicht. Er will es ja alles verstehen. Er ist hungrig nach Wissen. Und man nimmt es ihm ab, dass er sich im Keller der Bautzener Stadtbibliothek die Bände der nun neu verbotenen Bücher geben lässt.
Denn nach dem Aussieben der ganzen Nazi-Literatur begann schon bald auch das Aussieben jener Autoren, die von Moskau und (Ost-)Berlin aus dem Himmelreich der akzeptierten Linken verbannt wurden. Darunter auch Theodor Pliviers grandioser „Stalingrad“-Roman, der schon 1945 im Aufbau-Verlag erschienen war. Wurde das Buch wirklich aussortiert? Auf Wikipedia ist dazu nichts zu finden. Da muss also noch jemand nacharbeiten.
Denn Simone Barck erzählt in „Zensurspiele“, wie auch „Stalingrad“ 1947 im Osten auf den Index kam, weil Plivier – nach massiven Anfeindungen durch die neuen, dogmatischen Parteifunktionäre – in den Westen ging. Erst Hermann Kant machte 1984 Druck, dass Pliviers grandioser Antikriegs-Roman in der DDR wieder erscheinen konnte.
Eine Abschweifung?
Wahrscheinlich. Eine nötige. Denn Zwahr regt ja genau dazu an: Geschichte nicht mehr so eindeutig und geradlinig zu betrachten, wie sie in den Geschichtsbüchern immer dargestellt wird. Es gibt keine „Sieger der Geschichte“. Die Wirklichkeit ist viel diffuser, uneindeutiger und zielloser, als es uns meist weiszumachen versucht wird. Und aus überzeugten Kommunisten (wie auch Plivier einer war) wurden und werden oft geradezu überzeugte Antikommunisten (wie Plivier in seinem Spätwerk), und das nicht, weil sie ihre menschlichen Grundwerte über Bord geworfen haben, sondern weil sie erlebt haben, wie selbst die besten Ideen von Dogmatikern, Fanatikern und Fundamentalisten in etwas Unmenschliches, Gefühlloses und Gnadenloses verwandelt wurden und werden.
Während die Menschen, die den ganzen Laden am Laufen halten, eher zu stillen Zynikern werden. So wie der Vater von Johannes. Wobei das nicht nur auf diesen sehr harten Neubeginn zutrifft, von dem Hartmut Zwahr noch die ersten acht Jahre schildert. Es gilt für alle Zeiten, in denen die Selbstwahrnehmungen der neuen oder alten Eliten nicht mehr mit den Wahrnehmungen all derer übereinstimmen, die sich jeden Tag ums Allernotwendigste sorgen müssen. Man produziert keine „neuen Menschen“, indem man einfach behauptet, „eine neue Zeit“ sei angebrochen. Und man kann sie mit Parolen und schönen Selbststilisierungen auch nicht wirklich betrügen.
An einer Stelle wird dieser Widerspruch sehr markant, da, wo der gerade aus der Gefangenschaft zurückgekehrte Georg mit dem Bürgermeister des Ortes, dem von den Nazis ins KZ gesperrten Korn, über die gemeinsame Erfahrung des Gefangenseins spricht. Eine Ebene, auf der sich diese beiden Männer auf einmal gut verstehen. Beide haben die tiefen menschlichen Abgründe kennengelernt. Aber Georg weiß aus dieser Erfahrung heraus auch, dass er gerade deshalb auch Korn nicht alles sagen darf. „Ich habe den Verdacht, dass die Leute meist gar nicht bis an den Punkt kommen, wo das Erschrecken anfängt.“
Diese Erfahrung teilt er mit Korn. Aber er weiß auch, dass nicht die Korns das Sagen haben in diesem neuen Land. Auch das gehört zum diffusen Geschichtshintergrund dieses kleinen Landes, aus dem schon zu dieser Zeit die Menschen zu tausenden fliehen. Aber Georg will schon aus einem einzigen Grund nicht „abhauen“: Denn dann würde er da drüben im Westen wieder den alten Kollegen begegnen, den waschechten Nazis, die allesamt wieder reibungslos Karriere gemacht haben. Und die allesamt schon in der NSDAP gewesen waren, als der kleine Beamte Georg noch zögerte. Auch eine Entscheidung.
Manchmal verzichtet so einer auf ein ganzes, wohlwattiertes Leben, lässt sich auf richtig harte Zeiten ein – und hat für sich vielleicht doch die richtige Wahl getroffen.
Nur schnell durch kommt man durch dieses Buch nicht. Es verwöhnt nicht mit einem „Erzählen aufs Finale hin“. Eher bremst es, weil immer wieder neue Namen auftauchen, neue Szenen erinnert werden, die sich einfügen in eine große und breite Erkundung der eigenen Herkunft, wie Zwahr sie hier vornimmt. Er sortiert nicht aus. Alles hat Bedeutung, alles ist wichtig. Erst alles zusammen ergibt den breiten, eher pfefferfarbenen Untergrund eines Lebens. Wer behauptet, sein Leben sei klar und geradlinig, ohne Schnörkel und Umwege, der lügt entweder. Oder er ist ein aalglatter Karrierist. Aber selbst für die wird es wohl nicht stimmen. Sie tun nur so.
Hartmut Zwahr Abschiednehmen, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2018, 19,80 Euro.
Ende einer Selbstzerstörung: Hartmut Zwahrs Buch über die Revolution in der DDR jetzt im Sax Verlag
Ende einer Selbstzerstörung: Hartmut Zwahrs Buch über die Revolution in der DDR jetzt im Sax Verlag
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