Der Umschlagtext gibt noch Hoffnung: „Die Tochter kämpft und überlebt.“ Das klingt fast so, als hätte es die Heldin in Magdalena Jagelkes Geschichte am Ende geschafft, hätte das Trauma der fehlenden Mutter überwunden und ihren Platz im Leben gefunden. Ist es denn „ein gutes Verbrechen“, wenn Mütter ihre Töchter verlassen?
So, wie es die Mutter dieses hochbegabten Kindes tut. Da ist die Tochter gerade 14 Jahre alt, eigentlich in dem Alter, in dem andere Kinder schon längst an ihren Träumen basteln, das Elternhaus baldmöglichst zu verlassen. Endlich raus aus der gefühlten Kontrolle und Bevormundung. Endlich ein unabhängiges Leben führen. Aber bei Tara ist das alles ein bisschen anders. Ihre Mutter verschwindet ohne jegliche Erklärung, lässt die Tochter allein in der Wohnung. Der Vater ist irgendwo im fernen Polen Offizier. Die Mutter hatte sich schon lange von ihm getrennt.
Man ahnt nur, was die Mutter bewegt haben könnte, einfach ihr Ding zu machen und wegzugehen. Eigentlich ist es auch ein Buch über Mütter pubertierender Kinder, die merken, dass sie eigentlich auch noch was vom eigenen Leben haben möchten. Andere legen sich dann – wie bei Mira – lauter tolle neue Liebhaber zu, suchen also einen neuen Lebensabschnittsgefährten, der ihren möglicherweise sogar gewachsenen Erwartungen genügt. Die Tochter lernt also den Reigen der Liebhaber ihrer Mutter kennen. Und das muss nicht unbedingt ein Drama sein.
Aber Miras Geschichte ist ja eine Geschichte aus Schweden, wo Frauen mit Gleichberechtigung und Partnerschaft schon lange sehr viel selbstbewusster umgehen. Magdalena Jagelkas Wurzeln liegen in Polen, auch wenn es sie – oder auch nur ihre Heldin – längst ins Dreiländereck Frankreich / Deutschland / Schweiz verschlagen hat. Zumindest ihre Heldin lebt da und muss nun irgendwie ohne Vertrauensperson zurande kommen. Dabei überweist ihr ihre Mutter jeden Monat ausreichend Geld für Miete und Leben. Es fehlt ihr an nichts. Andere Mädchen würden auf dem Tisch tanzen vor Freude.
Aber Tara ist ein grüblerisches Kind. Sie kommt mit der neuen Rolle nicht zurecht. Und je älter sie wird, umso weniger kommt sie damit zurecht. Schule und Studium bekommt sie noch problemlos auf die Reihe. Die Probleme beginnen zu dem Zeitpunkt, an dem ihr bewusst wird, wie sehr ihr ein Mensch an der Seite fehlt, dem sie vertraut, der Rückhalt gibt. Bei Männern kommt sie gut an. Sie erntet Komplimente.
Und eines führt auch zur ersten großen Liebe ihres Lebens. Und trotzdem fehlt etwas. Vielleicht das Bedingungslose, das sie irgendwie erwartet. Als Didé nicht mitkommt auf den kurzerhand von ihr bestellten Wochenendausflug nach Paris, beginnt ihr ganzes so mühsam zusammengehaltenes Selbstbild zu zerbröseln.
Und wer so einem Mädchen schon mal begegnet ist, der weiß, was für eine Katastrophe so ein Ultimatum sein kann. Denn in diesem Fall ist es Didé, der nicht bedingungslos folgen will. Der augenscheinlich um seine Selbstbestimmung in dieser Beziehung kämpft. Was auch für junge Männer nicht leicht ist. Das muss hier mal gesagt sein. Gerade schöne und kluge Frauen können so eine Beziehung schnell zur Kollision werden lassen, wenn sie solche Ultimaten setzen und erwarten, dass das blitzschnelle Erfüllen der Bedingungen ein Zeichen für die bedingungslose Liebe ist.
Vielleicht hat Tara auch zu viele falsche Bücher gelesen. Ganze Schnulzenserien leben ja von so einem falschen Bild von Liebe. Und zu Prinzen werden die Männer dort, wenn sie alle Räder in Bewegung setzen, um auch noch den verrücktesten Wunsch der Prinzessin zu erfüllen. Und Prinzessin nennt sich auch Tara.
Mit Liebe hat das wohl eher nichts zu tun. Eher etwas mit Abhängigkeit oder Jagdeifer.
Aber auch Didé spielt in Taras Geschichte eher eine Nebenrolle. Dazu ist sie zu viel mit sich selbst beschäftigt, denn ihre innere Leere füllt sie nicht mit neuen Lebenspartnern. Im Gegenteil: Innerlich schwelt wohl die ganze Zeit die Verzweiflung über die Abwesenheit der Mutter. Tara sucht sich sogar eine Anwältin, eine kluge Frau in dem Fall, die Tara auch noch erklärt, wie sehr andere junge Frauen darunter leiden, dass deren Mütter gar nicht loslassen können. Sie prägt auch den Spruch vom „guten Verbrechen“. Denn eigentlich ist die Abwesenheit von Taras Mutter ja eine regelrecht Aufforderung: Nimm dein Leben in die Hand, Kind!
Aber gerade das kann Tara irgendwie nicht. Und das kommt einem, je länger man sie durch ihre Denkschleifen begleitet, immer vertrauter vor. Sie erlebt im Grunde im Kleinen, was ganze Jahrgänge mittlerweile im Großen erleben – sie sind zwar finanziell abgesichert, aber die Geborgenheit ist verschwunden, das einst so verpönte Behütetsein, das junge Frauen genauso mit ihrer Mutter assoziieren wie junge Männer.
Erstaunlich, aber es ist so: Mütter sind noch immer der Nabel der Welt, der verlässliche Punkt, an den man immer wieder zurückkehren kann, wenn man draußen mal in wilderes Fahrwasser geraten ist. Und gute Mütter müssen gar nicht viel tun dafür, dann genau dieses Gefühl zu vermitteln, das heute so vielen fehlt: Vertrauen, bedingungslose Akzeptanz, vollstes Verständnis.
Ich weiß: Das schaffen nicht alle Mütter. Und vielen geht es längst so wie Miras und wie Taras Mutter: Sie sind selbst damit beschäftigt, ihrem Leben einen neuen Dreh zu geben. Sie sind also nur noch bedingt jederzeit verfügbar. Aber sie sind da. Und so wirklich viel braucht man ja nicht mehr. Oft eigentlich nur noch jemanden, der zuhört und einer oder einem das Gefühl gibt, dass alles, was passiert, nicht so schlimm ist. Das geht vorbei.
Aber für Tara geht nichts vorbei. Denn sie findet niemanden, der ihre Mutter ersetzen kann. Und das, obwohl sie ihre Mutter eigentlich eher formlos in Erinnerung hat. Der trockene Stil, mit dem Magdalena Jagelke schreibt, verhüllt eher, wie sehr dieses bekümmerte Mädchen seine Mutter vermisst. „Mutter kochte selten und nahm mich kaum in den Arm.“ Auch das schwingt die ganze Zeit mit. Das Gefühl des Nichtgetröstetseins ist also älter als jener Moment, in dem die Mutter sagte „Du bist alt genug“ und einfach aus der Tür geht.
Am Ende kommt sie wieder. Und wir erfahren, dass der Satz vom Buchumschlag eine falsche Spur gelegt hat. Da hat man schon mehrere kleine, trocken formulierte Kapitel hinter sich, in denen man gehörig aufpassen muss, um zu verstehen, was die junge Frau da anstellt und wie sehr ihr ihr Leben gerade in dem Moment aus der Hand gleitet, als sie eigentlich alles im Griff zu haben scheint.
Aber etwas fehlt. Und das hat viel mit dieser Stärke zu tun, sich anderen zu öffnen und anzuvertrauen.
Und damit wird diese am Ende ganz und gar nicht tröstliche Geschichte auch zu einer Geschichte über das Jungsein in unserer Zeit, das umso vieles verstörender ist als die Jugend der Eltern und Großeltern. Denn wenn selbst die Eltern beginnen, ratlos zu werden und einen Ruhepol in einem zunehmend beschleunigten Leben zu bilden – wo findet man dann noch die Gelassenheit, sich nicht zu fürchten und zu ängstigen da draußen?
Denn darum geht es ja Tara die ganze Zeit. Sie ist weder bei sich selbst noch in der Welt richtig zu Hause. Und trotzdem hat sie die ganze Zeit das Gefühl, dass sie etwas aushalten muss, mithalten muss, sich immer neu überwinden muss, um am Ball zu bleiben.
Was natürlich ermüdend ist, wenn man darin eigentlich keinen Sinn sieht. Und eher – wie Tara – das Gefühl hat, lieber aufgeben zu wollen.
Ihre abwesende Mutter steht also auch für das, was heute vielen so spürbar fehlt. Vielleicht kann man es Selbstvertrauen nennen. Das kann man kaschieren, aber nicht wirklich ausfüllen, wenn man sich nirgendwo geborgen fühlt. Auch nicht in sich selbst.
Denn eines stimmt nun einmal: Die ganze rasende Gesellschaft, die immerfort erwartet, dass man dranbleibt und fit bleibt und im Rennen den Kopf oben behält, kann dieses Loch nicht füllen. Sie kann keinen eigenen Sinn stiften. Den findet man nur selbst. Und das hat mit Vertrauen zu tun und einem Gefühl von „Alles ist gut“. Und das können Mütter noch immer am besten vermitteln, wie es scheint.
Abnabeln ist so leicht gesagt. Aber vielleicht sollte man es doch nicht so machen wie Taras Mutter. Das geht schief, wie es ausschaut.
Magdalena Jagelke Ein gutes Verbrechen, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2018, 16 Euro.
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