Politik ist Psychologie. Das weiß niemand besser als die Mitarbeiter des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Uni Leipzig. Seit 2002 untersucht die Leipziger Arbeitsgruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker die rechtsextremen Einstellungen in Deutschland. Mehrfach sorgten ihre „Mitte“-Studien für einen Aufschrei in den Medien. Jetzt heißen sie nicht mehr „Mitte-Studien“. Aus einem guten Grund.
Nicht weil die berühmte Mitte so empört war, als ihr die Studie von 2016 regelrecht Enthemmung vorwarf. Das wäre Forschern wie Oliver Decker und Elmar Brähler herzlich egal gewesen. Sie wussten, dass sie heikle Punkte sichtbar machten. Und dass ihre Ergebnisse auf fester Basis stehen. Und dass sie auf fast 100 Jahren Extremismus-Forschung aufbauen konnten. Denn was Deutschland heute erlebt, ist so neu nicht.
Ganz Ähnliches konnten Psychologen und Soziologen in der Weimarer Republik beobachten. Und auch damals fiel ihnen diese seltsame Mitte auf, die man auch damals so gern als eigentlichen Hort der Demokratie begriff. Beamte, Angestellte, kleine Bürger, die nicht viel Krach machten, auch nicht auf den Straßen herumrandalierten. Leute, denen man zutraute, dass sie für stabile Verhältnisse waren und den Ausgleich wählen würden.
Und dann fanden sich genau diese Leute als Kernwählerschaft der NSDAP.
Na holla. Das überraschte. Sogar die Forscher der berühmten „Frankfurter Schule“ um Horckheimer und Adorno, die noch vor 1933 darangingen herauszufinden, warum das so war – warum ausgerechnet die brave bürgerliche Mitte auf einmal zur radikalen Wahlentscheidung neigte.
Einige der bis heute gültigen Forschungsergebnisse haben die Leipziger Forscher ab 2002 dann konsequent angewendet und in den Büchern zu ihren aktuellen Studien auch veröffentlicht und erläutert.
Deswegen dürfte Lesern der neuen Studie, die am 7. November in Berlin vorgestellt wurde, nicht neu sein, wenn Oliver Decker im Einleitungstext noch einmal ausführlich herleitet, wie Macht in unserer Gesellschaft funktioniert. Was er zwingend tun muss, denn wer die übliche Politikberichterstattung liest, der weiß, dass die Wahlentscheidungen der Bürger dort wie ein Mysterium behandelt werden. Als würden sie wie ein kopfloses Show-Publikum nur das honorieren, was vorn auf der Bühne als Aufreger geboten wird.
Aber Politik ist kein Bestellservice. Politik interagiert mit den Wählern. Sie erschafft sie aber nicht. Und schon die „Mitte-Studien“ bis 2016 zeigten, dass man mit dem üblichen Schema (Rechts-Mitte-Links) nicht weiterkommt und in Wirklichkeit gar nichts erklärt. Schon gar nicht die Tatsache, dass rechtsextreme und autoritäre Einstellungen über das komplette politische Spektrum verteilt sind. Wirklich über das komplette. Sogar bei Linken, Grünen und SPD findet man Menschen mit solchen Einstellungen. Das ist erklärungsbedürftig.
Und es erklärt sich erst, wenn man eine Vorstellung davon hat, wie Macht in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren wirkt. Ist es eine Schmach, wie Decker schreibt, wenn man feststellt, „dass die demokratisch verfasste Gesellschaft nicht von den Rändern bedroht wird, sondern mitten aus ihrem scheinbar stabilen Zentrum“?
Nicht wirklich. Es ist der erste Schritt zu begreifen, warum auf einmal Autokraten und Populisten so viel Zustimmung finden. Denn sie sprechen etwas an, was den Kern unserer Gesellschaft ausmacht. Oliver Decker: „Die Menschen sind nicht unwissend über die Ziele der AfD, sie wählen sie nicht trotz ihrer ordoliberalen Marktradikalität, die den Interessen der meisten Menschen widerspricht, sondern wegen. Ihnen geht es um etwas anderes.“
Und mit diesem anderen haben sich schon in den 1930er Jahre Bloch, Fromm und Horckheimer beschäftigt. Denn ihnen war (ihren Marx im Hinterkopf) so klar wie heute keinem der üblichen Politikerklärer, dass politische Verhältnisse auf Wirtschaftsverhältnissen fußen. Nicht die Politik formt sich ihre Wunsch-Wirtschaft (was die Planwirtschaftler nicht begriffen haben), sondern Wirtschaft formt sich ihre politische Landschaft, quasi ihr Biotop, in dem sie möglichst gute Bedingungen zum Wachsen bekommt. Das Wachstum ist die Heilige Kuh des Kapitalismus. Heute immer noch, obwohl fast alle Leute wissen, dass es unseren Planeten zerstört, wenn das so weitergeht.
Aber das Kapital wirkt rücksichtslos. Und ungreifbar. Das spürten die Menschen auch schon 1929, als die Weltwirtschaftskrise durch Europa fegte. Eine Krise, mit der die Bürger der Weimarer Republik noch schwerer umgehen konnten als die Bürger des 1918 hingegangenen Kaiserreichs. Denn natürlich war die Revolution von 1918 eine Zäsur: Sie fegte eine Autorität hinweg, die über Jahrzehnte hin sehr gut funktioniert hatte. Die Gesellschaft war klar gegliedert und die braven Bürger hatten die Autorität verinnerlicht. So ähnlich wie in Heinrich Manns „Der Untertan“.
Nur dass Mann mit seinem Diederich Heßling eben nicht nur den typischen autoritären Typus des Kaiserreichs beschrieb. Denn dieser Typus überlebte das Kaiserreich. Und dieser Typus war – ganz anders als die Radikalen – ab 1918 in einer permanenten Krise. Denn die Wirtschaftsverhältnisse hatten sich ja nicht verändert. Im Gegenteil: Die Republik taumelte von einer Krise in die nächste, die Macht war fragil, Regierungen wechselten oft im Monatsrhythmus.
Das heißt: Die einst als stabil empfundenen Autoritäten funktionierten nicht mehr. Sie gaben nicht mehr das gute alte Gefühl von Verlässlichkeit, Ordnung und Sicherheit. Wo aber die alten Autoritäten nicht mehr funktionieren, suchen sich die Menschen in einer Gesellschaft, die trotzdem voller Zwänge ist, neue Autoritäten.
Was man nur versteht, wenn man sich – wie die Leipziger Sozialpsychologen – auch mit der Frage beschäftigt, unter welchen Zwängen Menschen eigentlich in einer Gesellschaft wie der unsrigen stehen, wie sie sich – freiwillig – optimieren, flexibilisieren, anpassen, um den Erwartungen der neuen Autorität zu genügen und dafür belohnt zu werden. Natürlich mit Wohlstand. Und Sicherheit.
Und die neue Autorität ist die Wirtschaft. Das weiß eigentlich jeder, der einen Job gesucht und sich für einen Spitzenjob wirklich verbogen, gequält und eine raue Schale zugelegt hat. Die vielen psychischen Krankheiten von heute erzählen ja von den Folgen dieser Anpassung. Millionen Menschen fügen sich in schikanöse Arbeitsverhältnisse, um nicht die Gnade der einzigen innerlich akzeptierten Autorität zu verlieren.
Was nämlich ein völlig anders Licht auf „Hartz IV“ wirft. Denn mit diesem Reformpaket hat die Politik selbst den stillschweigenden Deal zerstört. Sie hat den Menschen, die auf einmal zu Bittstellern wurden, regelrecht unterstellt, sie würden sich nicht (mehr) genug anstrengen, um die Gnade der Autorität zu bekommen. Wie ungezogene Kinder wurden sie in die Ecke gestellt und dafür bestraft, dass sie auf einmal nicht mehr gebraucht wurden.
Jeder Psychologe weiß, dass Kinder, mit denen so umgegangen wird, psychisch kaputtgehen.
Erstaunlich, dass die SPD volle 15 Jahre gebraucht hat, um das zu begreifen. Vielleicht aber auch nur Zeichen dafür, wie kaputt diese Partei selbst ist. Denn wenn man die Gedanken von Oliver Decker weiterdenkt, dann haben auch Politiker und Parteien mit dem Problem des Autoritarismus zu kämpfen. Erst recht, wenn die politische Elite (von rechts bis links, AfD eingeschlossen) vor allem aus autoritären Persönlichkeiten besteht. Das geht deutlich über die Befunde zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hinaus, die meist erhoben werden, um das Rechtsextreme in Menschengruppen einzugrenzen.
Oder besser: Sie ist dessen Ergebnis. Denn die autoritäre Persönlichkeit ist sich sehr wohl bewusst, dass sie einer Macht ausgesetzt ist, gegen die sie sich nicht wehren kann, der sie sich nur unterordnen kann. Und diese Unterordnung sucht einen Ausgleich. Denn sie bedeutet ja Zwang und Verzicht.
Egal, ob einer als kleiner Beamter in einer Behörde arbeitet und Anweisungen erfüllen muss, ob er als Buchhalter jeden Tag Zahlenkolonnen addiert und keine Fehler machen darf, oder als Verladearbeiter Nachtschichten auf dem Flughafen schieben muss. Der größte Teil der Jobs, egal wie gut sie bezahlt werden, sind Jobs, die einen nicht erfüllen, die zum Funktionieren zwingen und den Betroffenen einen riesigen Teil ihrer Lebenszeit stehlen.
Weiß eigentlich jeder: Man ist nicht wirklich frei. Aber jeder geht von einem stillen Tausch aus dabei. Wenn man sich schon so einfügt und unterordnet, dann erwartet man eine Gegenleistung. Nämlich die, dass die Autorität Wohlstand, Sicherheit und Ordnung schafft. Gerade der autoritäre Typus erwartet eine starke, beschützende Autorität. Wenn alles reibungslos läuft, ist der Autoritätshörige zufrieden. Dann funktioniert er, wählt meist Volkspartei und genießt die Früchte seiner Arbeit.
Die Leipziger Forscher sprechen freilich lieber vom autoritären Syndrom, denn es besteht aus mehreren Merkmalen, die bei manchen Menschen komplett in Erscheinung treten, bei anderen nur in Teilen oder sehr abgeschwächt. Und wenn man die Umfrageergebnisse so betrachtet, wird einem eigentlich auch bewusst, dass irgendwie jeder ein bisschen davon in sich trägt.
Vielleicht nur bedingt die Autoritäre Aggression, die sich gegen Fremde und Schwächere richtet, aber bestimmt ein bisschen Unterwürfigkeit, ein Stück Konventionalismus, da und dort ein bisschen Verschwörungsmentalität und auch etwas Verschlossenheit. Man merkt schnell, dass das die AfD-Agenda sehr gut abbildet. Die AfD spricht Menschen an, die Angst vor Veränderungen haben, das Überkommene bewahren wollen und jeden Fremden als Bedrohung empfinden. Selbst wenn der Fremde gar nicht nebenan wohnt.
Hinter der autoritären Aggression steckt jede Menge Verunsicherung. Die Unterwerfung gegen existierende Autoritäten ist aufs Engste verbunden mit dem Misstrauen gegenüber allen Menschen, die sich nicht so verhalten. Oder denen man zutraut, die Konventionen nicht zu respektieren oder gleich ganz anders zu sein und Freiheiten auszuleben, die sich so ein braver verschlossener Bürger niemals (mehr) herausnehmen würde. Und da passen die Aggressionen gegen Juden, Muslime, Homosexuelle, Linke, Sinti und Roma und Flüchtlinge insgesamt genau hinein.
Und keine Überraschung nach all den „Mitte-Studien“ vorher ist nun die Feststellung, dass alle diese psychologischen Grundmuster nicht neu sind. Sie waren immer da. Ältere Studien deuten darauf hin, dass sie seit 1945 latent immer vorhanden waren. Und zwar genau in der hohen Ausprägung, die nun 2018 wieder für Überraschung gesorgt hat, als wäre das jetzt unverhofft neu entstanden. Ist es aber nicht. Es ist nur mit Phänomenen wie PEGIDA und AfD ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Ohne diese Menschen, die widerspruchslos Unterordnung ausüben und selbige auch wieder einfordern, würde unsere Gesellschaft gar nicht funktionieren. Das ist seltsam, aber wahr.
Fatal ist nur, wenn diese Menschen nun gegen die anderen Teile der Gesellschaft ausgespielt werden.
Denn unsere Gesellschaft besteht ja nicht nur aus Autoritären, auch wenn die Forscher deren Anteil nach ihrer jüngsten Befragung auf 42,1 Prozent beziffern. Darunter die Unterwürfigen, die neu-rechte Funktionselite (aus der sich die AfD besonders speist), die paranoiden Konformisten und die verschlossenen Konventionellen. Man merkt schon an den Bezeichnungen, dass nicht alle diese Leute zwangsläufig Wähler der AfD oder einer rechtsextremen Partei sein müssen.
Viele finden sich auch in den Angeboten von CDU, SPD, FDP oder Grünen wieder. Jeder Mensch ist eine andere Mischung. Und jemand kann ein paranoider Konformist sein und trotzdem die Ideen der Linken toll finden.
Heißt im Klartext: Unsere Gesellschaft muss nicht zwangsläufig nach rechts driften, auch wenn es jetzt eine laute und von Verschwörungsphantasien getriebene neu-rechte Partei gibt.
Viel entscheidender sind jene Emsigen und fast immer Stillen, die tatsächlich die psychologische Mitte unserer Gesellschaft ausmachen: die Angepassten, die jungen Entgrenzten und die Stabilitätsorientierten. Diese Gruppe beziffern die Forscher mit 28,3 Prozent. Diese Menschen wählen eher ausgewogen als radikal und sind für extreme Politik eher nicht zu haben. Wenn der Laden läuft, stützen sie in der Regel die Demokratie.
Was dann erst recht die Demokraten tun: die konservativen Demokraten und die Performer, wie sie die Forscher nennen. Zusammen 28,8 Prozent. Sie sind auch für die ganzen Verschwörungstheorien nicht zu haben, denn in der Regel leiden sie nicht unter einem autoritären Syndrom, fühlen sich als Herr ihrer Entscheidungen, haben Erfolg im Leben und sind auch kommunikativ und lösungsorientiert. Sie kämen nie auf die Idee, nach einem „starken Mann“ zu rufen, der die ach so bedrohte Nation retten soll. Sie sind auch für alarmistische Weltzustandsbeschreibungen nicht zu haben.
Auch das ein Grund, warum unsere Gesellschaft derzeit medial so auseinanderfällt: Die Offenen und Souveränen können mit dem ganzen Panikgeschrei der Verschwörungstheoretiker nichts anfangen. Sie fühlen sich durch die Veränderungen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft nicht bedroht, weil sie sich ihrer Fähigkeiten und Qualifikationen bewusst sind. Sie machen sich nicht vom Urteil anderer abhängig.
Aber ich sehe schon: Das wird jetzt ausführlicher und ist doch nur meine Sicht auf das, was die Leipziger Forscher in mehreren Kapiteln sehr sauber aufdröseln, um deutlich zu machen, dass wir es die ganze Zeit mit dem Autoritären Syndrom zu tun haben, das lange Zeit überhaupt keine Rolle spielte, das sich aber seit ungefähr 1999 immer stärker zu Wort meldet.
Die erste „Mitte-Studie“ entstand ja 2002 im Gefolge einer weiteren Welle rechtsextremer Straftaten um das Jahr 2000. Und es deutet viel darauf hin, dass es der deutlich spürbare neoliberale Schwenk in der Bundespolitik war, der diese Prozesse ausgelöst hat. Nicht erst mit „Hartz IV“, mit dem aber ein zentrales Störelement sichtbar wurde: Immer mehr Menschen fühlen sich als Bürger und Mensch nicht mehr anerkannt.
Das ist der Topos „Bürger 2. Klasse“, der gerade in Ostdeutschland massiv zu Buche schlägt. Und der damit zu tun hat, dass der Staat sogar deutlich autoritärer geworden ist. Viele politische Entscheidungen sind nicht mehr nachvollziehbar, werden auf Ebenen getroffenen, die für den Bürger nicht mehr einsehbar und beeinflussbar sind.
Wenn dann aber auch noch funktionierende Strukturen direkt in seinem Umfeld abgebaut und die Direkterfahrungen mit Behörden frustrierend werden, weil sie als Demütigung empfunden werden – dann schürt das alle Unsicherheiten des autoritären Typus.
Die Forscher setzen dem mittlerweile massiv gewordenen Politikansatz von autoritärer Staatlichkeit das Gegenbild einer anerkennenden und solidarischen Politik entgegen. Nur als Vorschlag. Kein politischer Trend ist alternativlos, auch wenn das seine Befürworter oft behaupten.
Man bekommt mit diesem Buch im Grunde das Handwerkszeug in die Hand zu verstehen, was die nun als „Autoritarismus-Studien“ bezeichneten Forschungen tatsächlich aussagen, was selbst menschenfeindliche und chauvinistische Einstellungen in diesem Gesamtgefüge eigentlich besagen und was sie mit den psychologischen Befindlichkeiten der Menschen zu tun haben. Und mit der Frage, warum die meisten Deutschen die Demokratie an sich vorbehaltlos befürworten – aber einige sehr aggressiv werden, wenn sie die Freiheiten des Grundgesetzes auf einmal mit anderen teilen sollen.
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