Es waren zwar die Sachsen, die in letzter Zeit medial so unangenehm auffielen. Aber gestern haben ja nun alle den Tag der Deutschen Einheit in gemeinsamem Missmut gefeiert. Jana Hensel, das derzeitige ostdeutsche Starlet aus Leipzig/Ostberlin, hat ja schon via „Zeit“ die Abschaffung dieses ungeliebten Feiertages gefordert. Aber warum sind da gerade die Sachsen so besonders renitent?
Von innen heraus betrachtet ist es ja ein gemütliches Völkchen. Und die Geschichten, die hier die beiden Leipzigerinnen Ethel Scheffler und Sylke Tannhäuser auf Sächsisch erzählen, sind solche Von-innen-heraus-Geschichten. Geschichten über die Bewohner dieses Landstrichs aus ihrer eigenen Perspektive. Welche Art Sächsisch das wirklich ist, müssen die Experten des Idioms feststellen. Mir scheint es eher das Straßen- und Hausfrauen-Sächsisch zu sein als das viel gepriesene Gewandhaussächsisch.
Ich kann mich täuschen. Aber das Letztere klingt für mich weicher, gemütlicher. So wie Bliemchengaffee. Das andere kann sehr grob sein, so wie „Halde de Gusche“, das nebst einigen anderen Gröblichkeiten natürlich auch vorkommt in diesen Geschichten. Denn die beiden Autorinnen erzählen aus der Welt der kleinen Leute.
Also der gewöhnlichen, landläufigen Sachsen, die seinerzeit dageblieben sind, weil man nicht einfach wegläuft, wenn’s hart wird. Irgendeiner muss ja die Arbeit machen und den Laden wieder in Gang bringen. Auch wenn der Job mies bezahlt wird und der Chef aus dem Westen kommt. Es geht ja nicht um den Chef. Da war ein ganzes Land wieder aufzubauen und eine Familie zu ernähren.
Wer die Geschichten liest – und mancher wird mit dem Idiom sicher so seine Schwierigkeiten haben – begegnet einer Grundhaltung, die der der Schwaben mit ihrem sparsamen Fleiß oder dem der Bayern mit ihrer urigen Beziehung zum Arbeiten sehr nahe ist. Es ist der grundständige Stolz von Menschen, die es sich nur „dorheeme“ gemütlich gemacht haben, aber nicht im Leben. Wo Arbeitsethos, Fleiß und Disziplin großgeschrieben wird.
Auch (wieder) in den Zeugnissen der Schulkinder. Was man auch aus der vor-sozialistischen Geschichte Sachsens so kennt. Aber die DDR war eben nicht nur äußerlich ein rot angemalter Arbeiterstaat. Er war es auch inwendig. Nichts wurde so verachtet wie Faulheit und fehlende Einsatzbereitschaft.
Möglich (es fehlen ja sämtliche soziologischen Studien dazu, wie das offizielle Ethos der DDR die Menschen im Land nachhaltig geprägt hat), dass das ein gut Teil Vermächtnis dieses ratlos hinverschwundenen Landes ist, von dem jetzt alle feststellen, dass es irgendwie doch noch da ist. Und wer sich durch die Geschichten liest, ist natürlich weitab von den verordneten politischen Sprechblasen.
Der bekommt es mit Frauen und Männern zu tun, die kein Blatt vor den Mund nehmen, die sich in ihren Rollen eingerichtet haben und auch stolz darauf sind, normale kleine Leute zu sein. Und in einem Humor, der sich aus einer Prise Grobheit und einem gut Teil Eigensinn speist.
Nein, hier hat man ganz und gar kein Völkchen vor sich, das sich als „Bürger 2. Klasse“ fühlt. Da haben die Soziologen augenscheinlich die falsche Frage gestellt. Dieses Völkchen hat ein ganz anderes Selbstbewusstsein, das es auch mit Herz und Schnauze verteidigt. Es hat gelernt, dass es die Erste Klasse im Staat ist, dass ohne es gar nichts läuft und dass es mit seiner Sicht auf Arbeit, Liebe, Leben und Lohn für die Müh richtig liegt. Immer. Ausnahmslos.
Wer aufgewachsen ist mit dem Völkchen, weiß es, hat es selbst erfahren. Dieser Humor kennt kein Pardon. Denn eigentlich meint er es ernst. Mit den Männern, den Liebhabern und auch den Kindern. Schön durchexerziert in der Geschichte „Barrduh ma Forrdraun hamm“, wo es um die durchaus heiklen Telefongespräche von Birgid und ihrer Mudder geht. Birgid ist fast 18 und kämpft natürlich mit allen Finessen darum, von ihren Ollschen endlich ernst genommen zu werden und mehr Freiheiten zu bekommen – und Birgids Mudder ist nicht nur besorgt, sondern regelrecht in Brass, weil das Kind auch kurz vorm Schulabschluss noch immer Fünfen im Zeugnis hat. Ein Punkt, an dem jede erfahrene sächsische Mutter verzweifelt die Hände überm Kopf zusammenschlägt: Was soll aus dem Kind nur werden?
Eine Frage, die vor 40 Jahren genauso gültig war wie heute. Die heute Erwachsenen haben es ja am eigenen Leib erlebt, dass „von nüschde nüschd gommt“. Dass man die Zähne zusammenbeißen und Leistung zeigen muss, um seinen Job zu behalten, das Auto abzubezahlen und die Kinder auf einen Lebensweg zu schicken, auf dem sie wieder eine Stufe nach oben kommen. Denn wie es ganz unten aussieht, haben die meisten erlebt. Es spricht also auch eine Ecke Erfahrung aus dieser Haltung. Mal so zusammengefasst: Glabbe haldn, Gobb hoch un nüschd anmergn lassn. Sonst wird alles gegen dich verwendet.
Und das Erstaunliche: Diese durchaus liebevoll groben Kleindarsteller des Lebens kennt man so auch aus der DDR. Da waren sie die viel gefeierten Arbeiter und Maschinenschmierer, die den Laden immer am Laufen gehalten haben. Den Stolz kann – wer will – in einigen der großen Fotobände des Lehmstedt Verlages sehen. Oder in alten DEFA-Filmen. Sie waren nie die Elite. Mit den Bonzen hatten sie nichts am Hut. Aber sie wollten für ihre Schinderei wenigstens geachtet und ordentlich bezahlt werden.
Und der Verdacht keimt auf – und wahrscheinlich ist er richtig: So haben sie auch die „Wende“ verinnerlicht. Nicht die Friedliche Revolution. Das ist unser Irrtum. Für uns war es eine Revolution. Und wir sind es, die den März 1990 als einen Verlust empfinden, manche sogar als „gestohlene Revolution“.
Aber wenn man sich in die Welt von Birgid, Alwin und Heidi („Dängsde, ich habbe Domaden offn Oochen?“) begibt, ändert sich die Perspektive völlig. Dann haben sie sich die Deutsche Einheit mit all ihren Früchten verdient – im Schweiße ihres Angesichts, in harten Jobs, mit manchmal miesen Chefs. Aber immer in dem Bewusstsein, dass sie jetzt wieder alles aufbauen, wie schon nach 1945. Und dass dieses wieder fleißige Ranklotzen belohnt werden muss. Die Reisefreiheit ist kein Geschenk, sondern etwas, was sie sich alle redlich verdient haben.
Etwas, was in der Geschichte „Nie widdorr in de Forrgangenheid“ sichtbar wird, wenn sich Glara und Heige am Cossi über Heiges Italienurlaub unterhalten. Der eigentlich ganz schön war – nur die Unterkunft kam Heige dann doch viel schäbiger vor als einstens im FDGB-Urlaub. Den Ton kennt man. Nicht nur die Sachsen reisen ja mit diesem Von-oben-herab-Blick durch die Welt. Sie haben ja wieder was aufgebaut, das sich sehen lassen kann. Warum kriegen das die anderen nicht hin? Muss man doch nur anpacken!
Nur dass halt nicht alle Sachsen – wie Glara – einen ausgebauten Vierseithof in Grimma besitzen und sich Erdbeerkuchen im Café am Cossi leisten können. Man merkt schon, warum so viele Sachsen ihr Kreuzchen bei „Mitte“ machen, wenn sie von Soziologen gefragt werden. Einige haben sich wirklich was aufgebaut und können am Cossi seufzen wie Heige: „Mir wurde widdorr ämah bewussd, wie scheen wir’s jäddse hamm, im Gegensadz zu frieher, wo die Geechend grau in grau war.“
Aber Mitte ist eben Mitte. Das war auch schon so, als so etwas noch Kleinbürgertum hieß: Es schaut vorsichtig nach oben und hofft, vielleicht doch ein Stückchen hinaufzukommen. Und es schaut auch immer misstrauisch nach unten. Denn wer sich in die Mitte hinaufgearbeitet, Haus, Auto und Italienurlaub erarbeitet hat, der schaut – wie in diesem Buch Arno und Rida – immer auch mit einem Auge auf die „bedürfdschen Leude“ – die, die es eben nicht geschafft haben. Die auf Almosen angewiesen sind. Man schaut mit ein bisschen Mitleid und ein bisschen Verachtung.
Und man hegt die Symbole von Herkunft und Aufstieg, wie man nur die kostbarsten Trophäen hegt und pflegt. Und die Cossi-Szene mit Heige und Garla wird ein bisschen verräterisch, wenn sie sich Rotkäppchen-Sekt bestellen, der ja bekanntlich aus Sachsen-Anhalt kommt, und die Moral ausläuft in den Satz: „Hiesische Feinschmegger wissen Qualidäd ähm zu schäzn, egal, woher se schdammd.“
Da ist alles beisammen: der sächsische Lokaltrutz, vermischt mit dem Stolz des kleinen Bürgertums und dem seltsamen Blick auf die Ausländischen, denen man dann ein Lob für feine Arbeit gönnt, wenn sie doch mal was Gescheites auf die Reihe kriegen.
Womit zumindest greifbarer wird, dass es „den Sachsen“ gar nicht gibt. Aber ein erstaunlich markenprägendes sächsisches Kleinbürgertum, das seine Art, die Welt zu sehen, gern für das Maß aller Dinge setzt. Und wer es nicht ahnt, bekommt die ganze Breitseite deftigen sächsischen Mutterwitzes zu spüren. Und sanft oder schonend ist der ganz gewiss nicht.
Ethel Scheffler; Sylke Tannhäuser So isser, dor Sachse! Geschichten auf Sächsisch, Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 2018, 12 Euro.
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