Es heimelt mal wieder, auch wenn die riesigen Paletten mit Gebäck und Süßigkeiten in den Supermärkten eher wie Schlachtschiffe aussehen, die sich mit Gewalt durchs Angebot pflügen und den Käufern mit Wucht ins Bewusstsein hämmern, dass jetzt wieder zentnerweise Weihachten gekauft werden sollte. Doch nachdenkliche Verlage werden nicht müde daran zu erinnern, dass es bei Weihnachten um etwas völlig anderes geht.

Der in Weimar heimische Wartburg Verlag hat deshalb ein Buch in sein Programm aufgenommen, das schon 2010 einmal bei SCM Hänssler in Holzgerlingen erschien. Das liegt in Baden-Württemberg, also nicht unbedingt einer Gegend, die man mit diesem Weihnachtslied in Verbindung bringt, dessen Geschichte Sandra Binder hier erzählt.

Denn der Schauplatz war 1816 tatsächlich Weimar. Nicht zu vergessen: Die Napoleonischen Kriege lagen gerade einmal zwei Jahre zurück. Die Straßen Deutschlands waren voller heimatlos Gewordener und elternloser Kinder.

Und dann war da 1815 noch der Ausbruch des Tambora gewesen, einer der größten Vulkansausbrüche, die in der jüngsten Menschheitsgeschichte registriert wurden. Die Atmosphäre verdunkelte sich weltweit und selbst in Europa wurde das Jahr 1816 zum „Jahr ohne Sommer“. Die Ernten fielen schlecht aus und die Menschen hungerten.

Es war also nicht einfach nur ein bitterkalter Winter, der den Waisenjungen Hans in diesem Buch nach Weimar führte, um dort vielleicht ein Stückchen Brot und ein Obdach zu finden. Ein Weimar, in dem es – wie anderorts auch – schon von Bettlern wimmelte. Genug Stoff also für den Grafiker Daniel Fernández, eine richtig traurige Geschichte zu zeichnen. Erst recht, als Hans auf dem Markt beim Versuch ertappt wird, einen Apfel zu klauen.

Wobei Daniel Fernández in seinen Bildern und in den Kostümen eher das Jahr 1916 zum Vorbild genommen hat. Er wollte die Geschichte wohl doch nicht allzu sehr historisieren und den Kindern, die das Buch durchblättern, mehr Raum geben, sich mit Hans und seiner Verzweiflung zu identifizieren.

Und mit strahlenden Augen mitzubekommen, dass es in dieser Geschichte auf einmal ein paar Erwachsene mit Herz gibt – den Polizisten zuallererst und dann natürlich diesen Johannes Falk, der eigentlich kein Musiker war, sondern Theologe und einer der frühesten Sozialpädagogen Deutschlands. Denn die Not des Jahres 1816 ging ihm zu Herzen. Er hatte selbst vier Kinder verloren. Das Waisenhaus, das er für heimatlos gewordene Kinder in Weimar einrichtete, ist legendär.

Und das Lied „O do fröhliche“ hat er tatsächlich geschrieben in jenem eisigen Winter 1816. Vielleicht aus genau dem Grund, den Binder und Fernández in ihrer Geschichte zeigen: Eigentlich reicht auch das Geld im Hause Falk nicht, um zusätzlich zur Verpflegung der Kinder auch noch Weihnachtsgeschenke oder gar Notenpapier für Johannes Falk zu kaufen.

Das kennen ja heute etliche Bewohner Thüringens und Sachsens wieder: Man steht vor einer Wahl, die eigentlich keine ist. Auf irgendetwas muss man schweren Herzens verzichten. Und den Falks tut es sichtlich weh, so eine Entscheidung treffen zu müssen.

So weh, dass Hans dann versucht, auf eigene Faust Papier für seinen herzensguten Gastgeber zu besorgen. Was natürlich schiefgeht. Er ist nun einmal kein richtiger Dieb.

Auch diese Situation wird gerettet.

Und findet dann ihre tröstliche Auflösung in jenem Weihnachtsabend, an dem Johannes Falk mit den Kindern sein neues Lied singt: das „Allerdreifeiertagslied“. Denn in Falks Version war es zuerst ein Festlied für alle drei wichtigen christlichen Feste: Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Jede Hoch-Zeit ist bei ihm auch eine fröhliche. Zu einem reinen Weihnachtslied wurde es erst im Todesjahr von Johannes Falk 1826. Da hat es der Kirchenlieddichter Heinrich Holzschuher zu dem Weihnachtslied umgedichtet, wie wir es heute kennen.

Und man muss schon auf Wikipedia blättern, um auch noch zu erfahren, dass Johannes Falk nur eine zu seiner Zeit schon bekannte Melodie genutzt hat – die des Schlachtenliedes von Theodor Körner: „Hör uns, Allmächtiger. Hör uns, Allgütiger“. Eigentlich ein Schlachten-Gebets-Lied, das nach dem frühen Tod Theodor Körners augenscheinlich weit und breit bekannt und beliebt war. Der Körner-Text ist heute nur noch Spezialisten bekannt. Falks Lied aber (und dann erst recht in Holzschuhers Bearbeitung) wird bis heute gesungen.

Und noch eine Wendung hat die Geschichte, denn auch Körners Lied wurde augenscheinlich auf Grundlage einer schon bekannten Melodie geschrieben. Und die muss dann wieder – der Legende nach – ein sizilianischer Junge in einer von Falks Singstunden gesummt haben: „o sanctissima, o piissima, dulcis virgo Maria“.

So gehen Lieder ihre Wege. Es ist einerseits die Eingängigkeit der Melodie, anderseits auch der kinderleichte Text, der „O du fröhliche“ bis heute so beliebt macht. Als Herkunft der Melodie wird also in der Regel der Weimarer Johann Gottfried Herder (1807) angegeben mit der Ergänzung Sizilien (vor 1789). Herder deshalb, weil das zugrunde liegende sizilianische Marienlied in seiner Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“ auftaucht.

Die Geschichte im Buch geht natürlich gut aus. Ist ja eine Weihnachtsgeschichte. Am Ende werden alle auch noch reich beschenkt. Am Weihnachtsmorgen freilich erst, dann, als es früher tatsächlich erst die Geschenke gab.

Ein farbenfrohes und einfühlsames Buch, das große und kleine Leser wieder daran erinnert, dass es zu Weihnachten vor allem um Herzensgüte und Gastfreundlichkeit geht, nicht um Berge teurer Geschenke. Und vielleicht um das gemeinsame Singen.

Sandra Binder O du fröhliche, Wartburg Verlag, Weimar 2018, 12 Euro.

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