Manchmal ist es das Kleine, das die grรถรten Diskussionen auslรถst. Und die tiefsten Abgrรผnde zeigt. Und vielleicht beginnt jetzt tatsรคchlich eine langsame รnderung der Sicht auf 40 Jahre DDR. Weg von der noch immer in Medien wahrnehmbaren Dominanz der DDR-Propaganda hin zu den tatsรคchlichen Lebenswelten und Weltsichten in dem abgeschotteten Land โhinter den sieben Bergenโ. So heiรt ja eins der berรผhmtesten Bilder von Wolfgang Mattheuer.
Und natรผrlich widmet die Kunstwissenschaftlerin Annette Mรผller-Spreitz auch diesem Bildtitel viele Seiten sensibler Analyse. Denn das ist ihr Thema: die Bildtitel, die der Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer (1927 bis 2004) seinen Bildern gab. Ein Thema, dem Forscher und Kunstkritiker selten einmal Aufmerksamkeit widmen. Funktionรคre und Zensoren schon eher.
Und deshalb war das in der DDR immer ein groรes Thema โ auch wenn niemand drรผber sprach und sich auch die Kunstkritiker hรผteten, das Thema auch nur zu berรผhren. Denn in der DDR galt es nicht nur fรผr Dichter und Schriftsteller, dass man das staatlich Unerwรผnschte im Subtext und zwischen den Zeilen versteckte. Es galt genauso in der bildenden Kunst. Und das Erstaunliche ist: Alle wussten das. Und sie wissen es auch heute.
Aber trotzdem haben wir seit 28 Jahren immer wieder neuen Streit erlebt, wurde mit westdeutscher Brรคsigkeit รผber DDR-Kunst geurteilt, meist aus der Position des Richters, der kraft edlerer Herkunft die โStaatskรผnstler der DDRโ in Bausch und Bogen verurteilte.
Die Staatskรผnstler gab es auch. Keine Frage. Und alle Kรผnstlerinnen und Kรผnstler in der DDR standen zwangslรคufig vor der Frage, inwieweit sie sich anpassten, gar stromlinienfรถrmig wurden. Oder ob sie den radikalen Dissens suchten โ auch das gab es und hat beeindruckende Kunst hervorgebracht. Der Mattheuer-Schรผler Hans-Hendrik Grimmling wird ja im Buch zu Recht erwรคhnt. Auch weil die Titel seiner Bilder sprechen. Das war das Erste, worรผber Annette Mรผller-Spreitz stolperte. Und es regte sie dazu an, auch die Werke seines Lehrers an der HGB einmal unter die Lupe zu nehmen.
Und das Erstaunliche dabei ist gar nicht mal, dass sie รผber lauter Bildtitel stolperte, die mehr verraten, als auf dem Bild zu sehen ist oder fรผr den uninformierten Betrachter auf den ersten Blick erkennbar. Auch nicht, dass viele der Mattheuerschen Bildtitel ironisch sind und hintersinnig. Das weiร man eigentlich seit den groรen Diskussionen um seine Sisyphos- und Ikarus-Bilder, um โHinter den sieben Bergenโ, โKainโ und โJahrhundertschrittโ. Auch wenn man viele der Hintergrรผnde so nicht kennt, weil sie erst durch die Verรถffentlichungen und spรคteren Erlรคuterungen des Kรผnstlers bekannt wurden.
Was aber nur bedingt eine Rolle spielt. Denn gerade dadurch, dass etwa im Zusammenhang mit der Grafik und wenig spรคter dem Gemรคlde โHinter den sieben Bergenโ nicht benennbar war, dass das Land hinter diesen sieben Bergen im Vogtland die CSSR war und die Bildidee aus dem Jahr 1968 stammt, entwickelte das Bild eine Dimension, die genau das zum Gegenstand hatte, worรผber eine Diskussion im SED-Land eigentlich nicht mehr erwรผnscht war.
Deswegen fรคllt auch nicht zufรคllig der Name des Leipziger Philosophen Ernst Bloch, den die SED-Funktionรคre aus dem Land geekelt hatten, der aber mit โDas Prinzip Hoffnungโ genau das Moment beschrieben hatte, ohne das es keine gesellschaftlichen Visionen gibt. Wer behauptet, schon das โEnde der Geschichteโ ereicht zu haben und sich selbst immer wieder (bis zum รberdruss) zum โSieger der Geschichteโ erklรคrt, der sorgt ganz zwangslรคufig fรผr zunehmende Lethargie, Enttรคuschung und Hoffnungslosigkeit. Von Hohn und Spott ganz zu schweigen.
Und Mattheuer litt unter dieser Situation, weil er Zukunft ganz รคhnlich dachte wie Bloch. In seinen Notizen findet er harte Worte fรผr den empfundenen Zustand der Enttรคuschung und Zukunftslosigkeit, der ihn schon in den 1970er Jahren auf Distanz gehen lieร โ erst einmal nur zur HGB. Ab 1974 arbeitete er freischaffend und mied es, sich um staatliche Auftrรคge zu bemรผhen. Bilder wie โDie Ausgezeichneteโ zeigen unverstellt seine ernรผchterte Sicht auf den Propaganda-Zirkus der DDR. Und die Sisyphos- und Ikarus-Bilder zeigen seine zunehmende Enttรคuschung. Wohin will ein Land eigentlich, das keine Utopien mehr hat? Keine Vorstellung davon, was hinter den sieben Bergen noch kommen kรถnnte?
Das gilt fรผr jedes Land, nicht nur die DDR. Und es gilt erst recht fรผr eine utopische Gesellschaftsvorstellung wie den Kommunismus, von dem die Funktionรคre in Moskau und Ostberlin ja behaupteten, sie wรผrden ihn aufbauen. Wer nach dem Aufbaustab des Kommunismus in der DDR gesucht hรคtte, hรคtte keinen gefunden.
Und genau diese Diskrepanz sahen natรผrlich auch die Ausstellungsbesucher in Mattheuers Bildern. Egal, wie โverstecktโ die Botschaft war oder wie interpretierbar. Die zeitgenรถssische Kunstkritik gab sich ja alle Mรผhe, Mattheuers Bilder immer wieder โvom sozialistischen Standpunktโ her zu interpretieren, also durch die Interpretationsschablone der SED, die den Bรผrgern des Landes jeden Tag als Propaganda frei Haus geliefert wurde und als plakative Losung an jeder Fabrikhalle hing. Ungefรคhr nach dem Motto: โSo wie wir heute arbeiten, werden wir morgen lebenโ.
Solche Losungen wurden auch gern als Bildtitel genutzt, meist von Kรผnstlern, die sich den Staatsmรคchtigen andienen wollten. Andere nutzten sie als Camouflage, um den nicht unbedingt dazu passenden Bildinhalt รผber die Titelgebung dennoch den zustรคndigen Jurys und Kommissionen annehmbar zu machen. Im Frรผhwerk von Mattheuer gibt es einige wenige solcher Titel. Aber schon in den 1960er Jahren, so stellt Mรผller-Spreitz fest, wird die Diskrepanz des Leipziger Malers zur offiziellen Propaganda immer deutlicher. Das Verkรผndete passte mit der von ihm wahrgenommenen Wirklichkeit nicht mehr รผberein. Auch deshalb tauchten jetzt vermehrt biblische und mythische Bezรผge in seinen Bildern auf.
รbrigens nicht nur bei Mattheuer allein, stellt Mรผller-Spreitz fest. Das Phรคnomen lรคsst sich in der gesamten bildenden Kunst der DDR nachweisen. Die Kรผnstler hatten genau die Lรผcke entdeckt, in der sie in gewisser Weise wieder frei sein konnten, indem sie die Bestandteile des offiziell kanonisierten Kulturerbes nahmen und die antiken Motive nutzten, um ihre Gegenwart kritisch zu spiegeln. Man kรถnnte riesige Ikarus- und Prometheus-Ausstellungen gestalten und wรผrde sich wundern, wie intensiv die fehlende Utopie der DDR von den Kรผnstlern des Landes diskutiert wurde.
Und das war nicht nur bei Malern, Grafikern und Bildhauern so. Das war auch in der Literatur so. Und wurde es erst recht, als die namhaftesten Schriftstellerinnen und Schriftsteller ganz bewusst die Romantik-Rezeption neu formulierten und sich im Auรenseiter-Gefรผhl der groรen Romantiker artikulierten โ eine Chiffre, die den Kreativen in der DDR nur zu eingรคngig war. Denn wer sich nicht anpasste und die Sprache der Mรคchtigen sprach (oder die Sprache der Schafe), wurde zum Auรenseiter, erlebte es ganz persรถnlich, was es heiรt, in einem durchweg kontrollierten Land zu leben.
Logisch, dass Annette Mรผller-Spreitz auch auf die Bibliothek der Mattheuers verweist, aus der viele literarische Bezรผge zu Mattheuers Bildtiteln stammen. Und mit Caspar David Friedrich gab es ja auch einen groรen romantischen Maler, mit dessen Sujets sich Mattheuer intensiv auseinandersetzte.
Das heiรt aber auch: Die oft sehr poetischen und hintersinnigen Bildtitel des Leipziger Malers gehรถren auch in den groรen Kontext einer kรผnstlerischen Diskussion, die offiziell nicht stattfinden durfte, in Literatur und Kunst aber trotzdem stattfand. Etwas, was dem westdeutschen Kunstgeschรคft vรถllig fremd ist. Wie kann man รผber Kunst diskutieren, wenn das eigentlich Kritisierte gar nicht genannt und gezeigt werden durfte?
Und damit ist man bei etwas, was diese Kunst-Diskussion der DDR zu etwas Auรergewรถhnlichem macht. Denn es geht auch weit รผber die รผbliche Wahrnahme von Dissidenten-Kunst hinaus. Zu der rechnete sich ja auch ein Wolfgang Mattheuer nicht, auch wenn er โ in eigenen Aussagen immer wieder belegt โ zutiefst litt unter der Deformierung der Gesellschaft, die ihren Stillstand hinter leeren Formeln und Losungen verbarg und selbst die offene Diskussion unter Gleichgesinnten unmรถglich machte. Auch darรผber schrieb Mattheuer โ wie schon allein das Wissen darum, dass der Staatsapparat immer mithรถrte, dafรผr sorgte, dass sich selbst die Mitglieder der Hochschulparteigruppe nicht mehr trauten, unzensiert miteinander zu reden.
Das kryptische Reden wurde regelrecht zur Norm. Und zur Sprache der Kunst. Seit den groรen Kunstausstellungen der 1970er Jahre war auch den vielen Besuchern dieser Ausstellungen klar, dass nicht die riesigen Schinken der Staatsmaler das eigentlich Interessante und Relevante waren, sondern die eher subversiven, ironisch und poetisch betitelten Arbeiten von Malern wie Mattheuer. Der damit nicht allein war.
Ganz am Ende des Buches รผberlegt die Autorin ja, ob sie sich jetzt nicht auch einmal die Werkkataloge anderer Kรผnstler aus der DDR vorknรถpfen sollte. Sie wird bei den wirklich guten und sensiblen auf ganz รคhnliche Muster treffen. Die Bildbetitelung geht zwar fast immer unter, wenn Kunst rezipiert wird. Aber die grรถรten Diskussionen รผber Kunst in der DDR entstanden immer da, wo die Bildtitel scheinbar weit รผber das gewรคhlte Bildmotiv hinausgriffen. Sie regten geradezu an, das Gesehene mit anderen Augen und anderen Hintergedanken zu interpretieren.
Natรผrlich war das subversiv. Die DDR ist am Ende auch am Erlรถschen ihrer eigenen Utopie gestorben. Und sensible Kรผnstler wie Mattheuer haben jahrelang darunter gelitten. Das Scheitern der โleerenโ Utopien hat er ja im โJahrhundertschrittโ gestaltet. Und die Verstellung, zu der sich jeder gezwungen sah, wurde fรผr ihn zum Bildmotiv der Schafsmaske. Jener Schafsmaske, die er in der Plastik โGesichtzeigenโ dann abnimmt. Die Plastik steht heute auf seinem Grab, sie steht aber โ irgendwie seltsam in die Ecke gerรผckt โ auch im Museum der bildenden Kรผnste.
Es ist ja nicht so, dass unsere Zeit nicht ganz รคhnliche Maskeraden kennt und nicht ganz รคhnlich unter dem Fehlen einer Utopie leiden wรผrde. Aber die Zeit nach 1990, in der Mattheuer durchaus auch sehr sarkastische Bildtitel fand, untersucht Annette Mรผller-Spreitz nicht weiter. Das wรผrde den Rahmen ihrer Untersuchung gesprengt haben.
Aber das, was sie fรผr die Arbeiten zwischen 1950 und 1990 zeigen kann, lรคsst ein Stรผck jenes subversiven Diskurses aufscheinen, ohne den die sensiblen Bewohner des abgesperrten Landes im Osten das alles nicht ausgehalten und รผberlebt hรคtten. Wenn das offene Gesprรคch unerwรผnscht und sanktionabel ist, dann findet es eben im subversiven Raum der Bilder, Analogien und Gleichnissen statt. Vor aller Augen.
Und die Funktionรคre sehen es trotzdem nicht. Das war ein wichtiges Agens fรผr die Kunst in der DDR und auch fรผr den so oft verkitschten Herbst 1989. Da liefen Leute wie Wolfgang Mattheuer nรคmlich vorneweg im Demonstrationszug und zeigten Gesicht. Und nur er selbst wusste, wie viel Angst er dabei hatte, wie viel Hoffnung und wie viel Freude.
Annette Mรผller-Spreitz Autonomie und Anpassung, Leipziger Universitรคtsverlag, Leipzig 2018, 39 Euro.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher