Leipzig wirkt manchmal richtig beschaulich und überschaubar. Dass es doch irgendwie eine Großstadt ist, merkt man meistens erst, wenn wieder irgendwo irgendein Jubiläum gefeiert wird. Eigentlich könnten laufend lauter aufsehenerregende Jubiläen gefeiert werden. So wie 2017, als die Universitätskinderklinik feierte. Nicht die zehn Jahre am neuen gemeinsamen Standort in der Liebigstraße, sondern volle 125 Jahre.
Die Festreden sind in diesem Band natürlich auch versammelt, mit dem die Universitätskinderklinik noch einmal das Jubiläum Revue passieren lässt. Aber die vielen Beiträge im Band sind auch ein Versuch der langjährigen Mitarbeiter selbst, die Position ihrer Einrichtung genauer festzustellen. Denn die 125 Jahre sind natürlich etwas Besonderes.
Leipzig hatte zwar schon 1817 so etwas wie eine Kinderpoliklinik. Es war die Zeit, als auch in der Medizin so langsam die Gewissheit um sich griff, dass die Kindheit auch aus medizinischer Sicht etwas Besonderes ist und man nicht einfach alle Heilpraktiken, die man bei Erwachsenen anwendete, auch bei den Kindern praktizieren konnte. Das 19. Jahrhundert ist ja insgesamt das Jahrhundert, in dem sich nach und nach die Grundlagen der modernen Medizin herausbildeten, indem sich aus der alten Allgemeinmedizin nach und nach auch immer mehr Spezialfächer entwickelten.
Und Leipzigs Medizin war immer wieder mit an der Spitze der Entwicklung. Zwar werden die Methoden von Dr. Schreber heute mit viel Skepsis betrachtet – aber man darf auch nicht vergessen, dass Schreber im Grunde noch ganz am Anfang der Entwicklung der modernen Orthopädie stand und einer der ersten Ärzte war, die die ungesunden Lebensverhältnisse der Kinder in der Zeit der beginnenden industriellen Revolution thematisierte.
Und ab den 1880er Jahren machten mehrere Leipziger Ärzte Druck, auch so etwas wie eine selbstständige Kinderklinik zu gründen. 1887 gründete sich – mit starker Unterstützung des Leipziger Bürgertums – der Förderverein zur Errichtung eines Kinderkrankenhauses. Schon 1889 konnte mit dessen Bau begonnen werden, weil die Stadt dafür ein ganzes Grundstück an der Oststraße zur Verfügung stellte. Im Dezember 1891 war die Eröffnung.
Es ist das Grundstück, auf dem die Kinderklinik bis 2007 zu Hause war. Der Gebäudebestand hatte sich natürlich im Lauf der Zeit verändert – auch im Gefolge der massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Und zuletzt entsprachen die räumlichen Bedingungen natürlich nicht mehr den modernen Erfordernissen. Ab 2002 begann der Umzug der einzelnen Einrichtungen in den neuen Standort an der Liebigstraße.
Das lässt sich scheinbar alles schön gerade erzählen. Aber Klinikdirektor Wieland Kiess wies schon in seiner Festrede darauf hin, dass man die dunklen Abgründe der Zeit des Nationalsozialismus nicht verschweigen dürfe. Dazu gibt es auch einen eigenen Beitrag im Buch, der sich dem gar nicht akzeptablen Wirken des Klinikdirektors Catel widmet, der die Kinderklinik zu einem Ankerpunkt im „Euthanasie“-Programm der Nazis machte. Also aus ärztlicher Sicht auch seine Fürsorgepflicht geradezu ins Gegenteil verdrehte. Was natürlich nahelegt, dass sich Charlotte Schubert in einem Beitrag noch einmal mit Sinn und Geschichte des Hippokratischen Eides beschäftigt.
Denn für die Ärzte und Ärztinnen am Kinderklinikum galten sonst andere Werte. Das Wohl der kleinen Patienten stand im Mittelpunkt. Und die 125 Jahre waren auch eine Zeit des Lernens. Das wird spätestens klar, wenn die einzelnen Autorinnen und Autoren eintauchen in die heute stark differenzierten Klinikbereiche – von der Neurologie bis zur Kardiologie. Klaus-Peter John schreibt über das beeindruckende Kunstprogramm im Haus, das von den Klinikclowns über anspruchsvolle Wechselausstellungen bis hin zur künstlerischen Gestaltung gerade jener Räume reicht, in denen die Kinder besonders belastende Situationen erleben.
Richtig spannend wird das Kapitel zur Neonatologie, weil einem heute kaum noch bewusst ist, wie jung dieses Gebiet ist und wie ambitioniert Ärzte und Schwestern schon in der DDR-Zeit daran arbeiteten, die Versorgung der Frühchen deutlich zu verbessern und die Säuglingssterblichkeit in diesem Bereich radikal zu senken.
Andere Geschichten zu Spezialbereichen werden schnell zu einer Geschichte der namhaften Ärzte, die in Leipzig die Möglichkeiten nutzten, ihr Arbeits- und oft auch Forschungsfeld immer weiterzuentwickeln. Gar nicht nebenbei wird die zentrale Rolle der Klinik sichtbar beim Thema Wachstumsstörungen, ein Arbeitsfeld, mit dem sich heute das Wachstumsnetzwerk CrescNet beschäftigt.
Und noch viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommt ja das große Forschungsprojekt „LIFE Child Kohorte“, das am Universitätskinderklinikum zentral angebunden ist und heute schon tausende Kinder und Jugendliche umfasst, die insbesondere auf die gesundheitlichen Folgen unserer heutigen Zivilisation hin untersucht werden.
Denn längst ist es ja wieder so, dass das Leben in unserer modernen Zivilisation Kinder krank macht. Nicht erst die Erwachsenen werden von diesen sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ heimgesucht, auch Kinder leiden schon an Zuckerkrankheit, Asthma, Allergien, Bluthochdruck, den daraus folgenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an psychischen und Verhaltensstörungen. Motorik- und Koordinationsstörungen kommen hinzu. Was viele Ursachen hat – vom Bewegungsmangel über falsche Ernährung bis hin zu den elektronischen Medien, die schon die kleinsten maßlos „konsumieren“.
Die Studie will herausfinden, wo man ansetzen kann, um die Folgeerkrankungen zu verhindern.
Und dann kommt ein Satz, der zeigt, wie sehr auch Prof. Wieland Kiess im Zwiespalt ist: „Diese lebenstilassoziierten Erkrankungen, die sogenannten Zivilisationserkrankungen, gefährden die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung nicht nur in Deutschland. Die Leistungsfähigkeit der Sozial- und Gesundheitssysteme – soweit überhaupt vorhanden – wird überstrapaziert.“
Denn gleichzeitig ist das deutsche Gesundheitssystem seit Jahren einem Effizienzdiktat unterworfen, Krankenhäuser müssen wie Wirtschaftsbetriebe geführt werden. Da bekommt nicht mehr jeder Patient die Behandlung, die für ihn am besten wäre.
Aber natürlich würde das System entlastet werden, wenn eine wild gewordene Konsumgesellschaft nicht systematisch daran arbeiten würde, Menschen krank zu machen und abhängig zu halten. Der Fehler steckt im System. Und der einzige Ausweg sind – wie bei den Adippositas-Programmen – nun einmal aufwendige Kurse und Lerneinheiten mit Kindern und Eltern. Denn wie sollen Kinder ein gesundes Leben führen, wenn sie es von ihren Eltern nicht gelernt haben?
Man lernt also Geschichte und Vision der Kinderklinik in vielen unterschiedlichen Facetten kennen. Oft passiert das aus der direkten Innensicht, sind es langjährige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die versuchen, ihr Arbeitsfeld als historischen Bogen aufzuspannen und wichtige Namen und Akteure zu verorten. Was dann auch im Kapitel zu den Habilitationsschriften sichtbar wird. Viele hochkarätige Forscher haben in Leipzig neue Beiträge zur Kindermedizin vorgelegt.
Im Grunde bringt selbst das Cover-Foto auf den Punkt, was sich da in den vergangenen 125 Jahren verändert hat, wie aus der „Altersvorsorge“ Kind ein behüteter kleiner Mensch wurde, um den sich nicht nur Mütter sorgen, sondern auch hochmotivierte Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger, die ja in Leipzig auch ausgebildet werden.
Nur ganz, ganz am Rande erwähnt wird, dass Leiden und Sterben der kleinen Patienten, die auch mit modernster Medizin nicht gerettet werden können, für die Betreuer auch psychisch belastend sind. Da brauchen dann auch die Helfer Hilfe und Unterstützung.
Und nicht ohne Grund ist auch die Stiftung Kinderklinik Leipzig mit ihren Ambitionen im Buch vertreten, denn sie wird wirksam, wo es an staatlichen Geldern oder Förderprogrammen fehlt. Seit sechs Jahren gibt es sie. Und die Betreuung von Kindern, Eltern und Klinikpersonal steht bei ihr ganz im Mittelpunkt der Arbeit.
Wieland Kiess (Hrsg.) 125 Jahre Universitätskinderklinik Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2017, 33 Euro.
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