50 Jahre. Das ist ein halbes Jahrhundert. So lange ist „1968“ schon her, ein Jahr, das wir mit Studentenunruhen in Westberlin und Paris verbinden, mit Rudi Dutschke und dem „Marsch auf Bonn“. Und einige Leute verbinden es auch noch mit etwas anderem. Deswegen kommt in Wolfgang Kraushaars Essay auf dieses markante Jahr auch die AfD vor, die immer so tut, als müsse sie sich an „den 68ern“ rächen. Was aber mit den alten 68ern nichts zu tun hat, sondern mit dem erzreaktionären Weltbild der AfD.

Denn die Welt, in die die Programmschreiber der AfD zurückwollen, das ist die Bundesrepublik der 1950er Jahre, die Zeit Adenauers und einer finsteren Gesellschaftsmoral, wie sie im vom ZDF produzierten „Ku’damm 59“ sehr gut zu sehen ist.

Man könnte sich auch einlesen in die trübe Moral dieser Zeit, die großen Schriftsteller der Zeit haben darüber geschrieben. Aber vielleicht hilft es ja, wenn man es verfilmt sieht. Da wird einiges klarer. Denn wenn man nur ein wenig am Lack des „Wirtschaftswunders“ kratzt, kommen die verdrucksten Moralvorstellungen der Nazi-Zeit zum Vorschein. Die nach 1945 nicht verschwanden, sondern sich in einer verklemmten Gesellschaftsmoral versteckten, zu einem großen Teil auch noch aus der Kaiserzeit stammten – einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Prügel in der Schule noch genauso erlaubt waren wie die Gewalt der Männer in der Familie. Alte Nazi-Richter saßen noch in den Gerichten. Die alte braune Gesellschaft war nur notdürftig übertüncht. Wobei das nicht weiter auffiel. Denn auch die Alliierten, die Deutschland befreit hatten und nun die neuen, stolzen Bundesgenossen waren, waren genauso patriarchalisch, vormundschaftlich und verklemmt.

Deswegen steht „1968“ ja nicht allein da. In der ganzen westlichen Welt und punktuell auch in der östlichen Welt rebellierten die jungen Menschen, waren es vor allem studentische Bewegungen, die sich gegen die Alte-Herren-Moral wehrten und die Gesellschaft, wie sie sie vorfanden, infrage stellten. Im Zentrum des Protests standen überall die alten Autoritäten. In den USA kam der Vietnam-Krieg hinzu. Kein anderer Krieg hat das Ansehen der USA so beschädigt, keiner hat weltweit so viele Protestaktionen hervorgebracht. Auch das ist „1968“, auch wenn es in den USA eine deutlich längere Zeitspanne war, die heute als die „Sixties“ bezeichnet werden, manchmal auch als die „roaring sixties“.

„1968“ war also viel mehr als die ganzen Uni-Besetzungen, Demonstrationen, Sit-ins, die tatsächlich von einer ziemlich kleinen Gruppe initiiert wurden. Wenn man die tatsächlichen Aktionen und Ereignisse beschreibt – wie es Kraushaar in seinem 100-Seiten-Essay tut – bleibt recht wenig übrig. Dann bekommt man einen sehr kurzen Zeitraum voller Aktionen, Diskussionen, der im Sommer 1966 begann mit der Gründung der ersten Kommunen, 1967 seinen ersten dramatischen Höhepunkt erlebte mit der Demonstration gegen den Schah und dem Mord an Benno Ohnesorg und 1968 ebenso dramatisch weiterging mit dem Anschlag auf Rudi Dutschke und dem „Marsch auf Bonn“, mit dem die Verabschiedung der Notstandsgesetze verhindert werden sollte.

Und schon ein Jahr später war alles vorbei. 1970 löste sich nach dem Tod von Hans-Jürgen Krahl auch der SDS auf. Viele Bilder dieser kurzen Zeit haben sich in Ikonen des gemeinsamen Gedächtnisses verwandelt. Manche werden auch von den radikalen Rechten als Vorlage genutzt, um zum Sturm auf die 68er zu blasen, als wäre ihnen tatsächlich geglückt, wovon 1968 manch ein couragierter Redner träumte: ein Marsch durch die Institutionen und damit so eine Art Machtübernahme in der Bundesrepublik. Eine Fiktion, mit der man sich selbst zu neuen, konservativen Revolutionären aufzuschwingen versucht.

Die Wirklichkeit ist ernüchternder. Und komplexer. Ernüchternder, weil viele prominente Gestalten der Jahre um 1968 längst gestorben sind – manche auf tragische Weise, manche auch desillusioniert. Komplexer, weil die eigentliche Wirkung von „1968“ tatsächlich in all den vielen kleinen Veränderungen bestand, die dieser Protest gegen vermuffte Zustände in Gang gebracht hat. Denn Kraushaar, der als 20-Jähriger selbst dabei war, als die 60.000 sich zum „Marsch auf Bonn“ trafen, arbeitet den eigentlichen Zentralgedanken diese Jahres 1968 heraus, der sehr viel zu tun hat mit den parallelen Entwicklungen in Paris, Prag, Warschau und den USA. Das zentrale Wort lautet Emanzipation.

Die männlichen Protagonisten des Protests bekamen es selbst zu spüren, als mitten in ihren schönsten Reden die Frauen rebellierten und den Herren mit den wilden Frisuren klarmachten, dass die ganze so klug untermauerte Emanzipationsbewegung bis dahin auf Kosten der Frauen ging. Ein Aufstand, mit dem auch die klugen Herren nicht wirklich umgehen konnten. Zumindest in dieser Situation. Fast alles, was diese wilden Monate anstießen, entfaltete sich erst im Nachhinein – angefangen von der bis heute wirksamen Emanzipationsbewegung der Frauen (die eng mit dem Namen Alice Schwarzer verbunden ist), über die Etablierung neuer Familienbilder und moderner Vorstellungen von einer gewaltfreien Erziehung.

Nur zur Erinnerung: Noch 1958 war das Züchtigungsrecht der Eltern als Gewohnheitsrecht in § 1626 BGB festgeschrieben worden. Erst 1998 und 2000 bequemte sich der Bundestag, den Kindern in Deutschland ein Recht auf eine gewaltfreie Kindheit zuzusichern. So lange dauern viele Prozesse, die in den Sechzigern ihren Anfang nahmen als Formulierung – und von einer konservativen politischen Mehrheit immer wieder blockiert und verhindert wurden. Wer da von einem Sieg der 68er schwafelt, hat entweder 60 Jahre Vollschlaf hinter sich oder ist blind wie ein Maulwurf.

Aber gerade das macht deutlich, dass „1968“ eben nicht als personifizierte Revolte funktionierte, die am Ende die Republik erobert hat, sondern als Zündfunken, der eine ganze Zahl kleiner Rinnsale emanzipatorischer Bewegungen in Gang brachte, von denen viele erst in den 1980er Jahren und später Wirkung zeigten. Und viele noch immer unerfüllt sind. Die AfD kämpft also gegen das, was 1968 als emanzipatorische Modernisierung der Bundesrepublik begonnen hat, was die Republik offener, heller, menschlicher gemacht hat.

1969/1970 standen natürlich alle Protagonisten des Aufruhrs vor der Wahl, welchen Weg sie nun einschlagen wollten. Einige wenige haben sich radikalisiert und glaubten, die neue Welt mit Gewalt erzwingen zu können – das war dann die RAF, die die Republik über Jahre terrorisierte.

Andere resignierten. Kraushaar spricht von den vielen, die in der Folgezeit gescheitert sind und nirgendwo mehr namhaft auftauchten. Da viele Akteure damals studierten, haben sie im Anschluss eben oft auch akademische Laufbahnen betreten und dort für nachhaltige Forschung gesorgt, die zum Beispiel die Sozialwissenschaften bereicherte. Dass sie prominent in die Politik gingen, war eher die Ausnahme – wenn man an Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer denkt.

Aber ganz ähnlich war es ja auch in den USA und Großbritannien – die großen Proteste wurden zum Futter für die Medien, auf das sie auch heute noch gern zurückgreifen, um eine dramatische Zeit zu bebildern. Aber was aus dieser internationalen Protestbewegung folgte, das wird selten benannt. Es lässt sich nicht so gut erzählen, obwohl es die Gesellschaft tatsächlich verändert. Wenn auch nicht so, wie die Kampfhähne vom rechten Ufer immer behaupten. Denn Emanzipation ist nun einmal anstrengend. Sie fordert Mitgefühl und Verstehen, also auch die Bereitschaft aller Menschen, sich aus alten Denkverboten zu befreien und die „Freiheit des anderen“ auch akzeptieren und respektieren zu lernen. Was eben nicht heißt, dass man „das mal sagen muss“ und das eigene Gebrüll unwidersprochen alles andere übertönen darf.

Auch das freie und nicht-hierarchische Sprechen gehört zum Erbe von „68“. Was man beinah vergisst, wenn man all die Rechthaber aller Farben auf allen Kanälen hört und sieht, die wieder zum „Basta“-Denken und „Basta“-Reden zurückgekehrt sind, weil ihnen ein wirklich offener Diskurs zu anstrengend ist.

So gesehen ist „1968“ ein offenes Projekt, das 1968 tatsächlich erst begonnen hat. Eines mit vielen Rückschlägen (wenn man nur an die verbohrte Diskussion über Abtreibungen und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen denkt), mit kleinen Erfolgen (wie der gleichgeschlechtlichen Ehe), aber auch alten Verkrustungen, die vielen Menschen, die darunter leiden, das Leben schwer machen. Und gerade der Verweis auf Prag zeigt, dass es im Osten die ganze Zeit um dieselben Themen ging, auch wenn hier logischerweise eine kommunistische Gesellschaftsutopie nicht mehr vermittelbar war, eher ein reformierter Sozialismus, der Mitsprache und demokratische Teilhabe möglich machen sollte. Also auch hier ein emanzipatorisches Element – hier für Arbeiter und Staatsbürger. Das, wie wir alle wissen, dann 1989 zum Ausbruch kam und zeigte, wie viel Kraft in emanzipatorischen Gedanken steckt.

Im Osten gehört 1989 eindeutig zu 1968. Im Westen eigentlich auch. Und auch wenn die Helden von damals alle alt und grau geworden sind, manche unermüdlich auch noch im Unruhestand, manche freilich auch schon tief betrauert auf dem Friedhof, ist der Mythos eben nicht nur ein Mythos. Hinter dem Mythos verbirgt sich ein ganzes Knäuel von Anfängen, die seither das Leben in der einst muffigen und reaktionären Bundesrepublik etwas lichter und offener gestaltet haben. Friedlicher übrigens auch, auch wenn das in den Schlagzeilen der Gazetten immer schriller klingt. Oder in den überhitzten „social media“, wo sich augenscheinlich alles trifft, was mit der scheinbar komplizierter gewordenen Welt hier draußen nicht mehr zurechtkommt.

Was natürlich mit einem nicht zu verkennenden Umstand zu tun hat: In einer zunehmend emanzipierten Gesellschaft muss man selbst emanzipiert sein, wenn man nicht das dumme Gefühl haben will, das eigene Leben völlig verpennt zu haben und nun auf einmal mit Menschen zu tun zu haben, die nicht einfach kuschen und strammstehen, wenn einer brüllt. Denn das ist das Problem von Diederich Heßling, dem Mann, der den Rohrstock so liebt und den Kaiser.

Wolfgang Kraushaar 1968. 100 Seiten, Reclam, Ditzingen 2018, 10 Euro.

Ein Gespenst geht grinsend um in Europa, ein Gespenst namens Karl Marx

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