Ab und zu gibt es solche großen, mächtig gewaltigen Sammelbände zur zeitgenössischen Lyrik, in denen kenntnisreiche Herausgeber alles sammeln, von dem sie der Meinung sind, dass es das Beste vom Besten der aktuellen Lyrik ist. Manche Herausgeber sind noch mutiger und versuchen sich am Standardwerk für die komplette deutsche Lyrik. Und so, wie Nora Gomringer und Martin Beyer Luft holen, versuchen sie es auch.
Eins ihrer Vorbilder für diesen Auswahlband, den sie zur Leipziger Buchmesse vorstellten, war Hans-Magnus Enzensbergers legendäre Auswahl „Museum der modernen Poesie“. Im Vorwort verorten sie ihre Auswahl gleich mal im gesamten Kanon vom Barock über Sturm und Drang und Klassik bis zur Moderne. Man erwartet also irgendetwas in der Dimension „Menschheitsdämmerung“ (Kurt Pinthus, 1919) oder Johannes Bobrowskis gesammelten Lieblingsgedichten. Erst recht, weil diese Anthologie wie ein Lehrbuch beginnt – mit eindrucksvollen Grafiken von Reimar Limmer und kleinen, spritzigen Texten, die in einige der wichtigsten deutschen Literaturepochen einführen. Angefangen mit dem Barock, an dem den beiden Herausgebern gerade dieses innige „Memento mori!“ zu gefallen scheint.
Immerhin sind Dichter aller Art gut beraten, zumindest Grundkenntnisse zu dem zu haben, was in deutscher Sprache schon an großer Lyrik entstanden ist. Genauso, wie ihnen Gomringer und Beyer einige poetische Themenkomplexe ans Herz legen – Terror, Natur, Sex und Gender. Und dann erwartet man eigentlich, das man über Gryphius stolpert, Simon Dach und Paul Fleming. Aber die beiden haben eigentlich nicht vor, die Leser auf eine tour de force durch die Jahrhunderte mitzunehmen. Auch keine Besichtung der Gegenwartslyrik ist geplant.
Eher nehmen sie die Leser mit in eine Welt, die man nicht unbedingt mit Lyrik assoziiert, weil sie meist nicht brav in hübschen Gedichtbändchen daherkommt, sondern eher robust dort, wo junge Menschen gesprochenen oder gesungenen Texten begegnen – in modernen Rocksongs, in Rap-Texten, in Spoken-Word-Auftritten. Da und dort mogeln sich trotzdem ein paar Gedichte jüngerer Dichter und Dichterinnen hinein. Aber man merkt spätestens mit dem ersten Text, einem von Advanced Chemistry (eine Hip Hop Gruppe aus Heidelberg), dass es um das Hörbare geht. Den Ort und den Raum, in dem man als junger Mensch dem Text begegnet, der einem nicht nur Nachrichten runterrattert oder politische Flachheiten erzählt, sondern Botschaften rüberbringen will. Was gute Bands ja genauso wollen wie die besten Stimmen der Spoken-Word-Szene.
Denn dass überhaupt erst einmal über Barock und Klassik geredet werden muss, hat mit einer Urfunktion von Poesie zu tun, die meist vergessen wird, wenn Literaturprofessoren sich der Sache annehmen: Dass es immer um den Versuch einer Verständlichmachung geht, der Überbrückung der Distanz vom Sprecher zum möglichen Zuhörer. Weil die Botschaft wichtig ist. So wichtig, dass man manchmal schreit oder heult, anklagt oder trauert, sarkastisch wird oder richtig spitz. Damit die Botschaft ankommt. Nicht überhört wird. Was schwer genug ist. Es ist ja überall Lärm, die Leute mit den sinnlosesten Botschaften machen den meisten Krach, wollen alles übertönen und müllen die Welt in Wirklichkeit mit Werbung und Trallala voll. Da geht immer wieder all das unter, was uns als Menschen bewegt, besorgt macht, verunsichert, glücklich oder unglücklich. Also das Eigentliche. Das, wofür Herr Shakespeare (Barock) sich nächtelang den Kopf zergrübelte oder der junge Schiller (Sturm und Drang) nach lodernden Worten suchte. Das Menschliche.
Das, was uns so betroffen macht, dass wir manche Lieder nicht aus dem Ohr bekommen und manche Verse nicht wieder loswerden. Denn im Gedicht wird das ganz Persönliche wieder wichtig. Hier darf einer klagen, wenn alle anderen auf den Straßen tanzen, so wie in Jürgen Rennerts Gedicht „Mein Land ist mir zerfallen“ von 1990. Hier darf einer der Gegenwart Blutleere bescheinigen, so wie Theresa Rath in „Postmoderne“. Hier darf der Irrsinn einer Wirtschaftsordnung aufgespießt oder der Geruch des Weltuntergangs wahrgenommen werden. Denn Dichtung fängt da an, wo der Mensch noch eine dünne Haut hat, wo er aufhört, den coolen Hornochsen zu spielen und seine Betroffenheit zeigt.
Dichter waren immer der Widerspruch zum Zeitgeist. Denn der Zeitgeist ist ein Irrer. Ein Irrender sowieso, der jeder Schalmeienkapelle hinterherläuft und hämisch grinst, wenn einer zeigt, dass er noch verletzlich ist und verletzt. Nur dass die Verletzlichkeit unserer Gegenwart nicht mehr in barocken Kirchenliedern anklingt, sondern in wütenden Liedern und Textcollagen, in Wortspielen, die ihre Heftigkeit erst im Vortrag zeigen, oder in Wortkaskaden, die das Fremd- und Befremdetsein zum Stakkato werden lassen.
Die Auswahl ist also eine sehr eigensinnige Auswahl sehr gegenwärtiger Texte, ganz und gar nicht fein, eher derb und deutlich. Und weil sie hier alle hübsch alphabetisch hintereinanderstehen, wird auch deutlich, dass poetische Texte Teil unseres gesellschaftlichen Sprechens sind – gehört, wenn einer seine CD einwirft oder zur Session geht, mit seinen Freunden diese Lieder teilt oder einfach mal stolpert über einen dieser gar nicht glatten Texte. Und ihn aufmacht wie eine Flaschenpost. Denn viele dieser Texte sind subversiv, weil sie das Selbstverständliche einer oberflächlich gewordenen Welt unterlaufen. Trotzig werden, bissig, auch bösartig.
Denn wie bedichtet man das Bösartige einer Welt, in der die Bosheit sich als Geschäftserfolg und Datenkrake entpuppt? „Wir sind in deinem Kopf“, textet die Tom Combo. Was man sieht, ist also ein Blick hinter die Kulissen der vom Konsum eingeschmierten Welt, in die Räume, wo junge Leute das Instrument benutzen, mit dem sie die verdrehten Verhältnisse der Welt am besten benennen können: die Sprache. Die hier durchaus in der ganzen Bandbreite von nachdenklich bis rockig-scharf daherkommt. Denn es ist etwas dran, wenn Bas Böttcher textet: „Ich bin Fehler im System“.
Denn wo nur widerspruchslose lila Kühe auf Wiesen gebraucht werden, ist jeder ein Fehler im System, der nicht in die Verkaufsmuster passt, der nicht mitmacht beim großen Reibach-Machen und Überdrehen und Nicht-mehr-Zuhören.
Denn die blanke Welt des guten Funktionierens duldet keine Misstöne, keinen Widerspruch, keine Widerhaken. Meistens walzt sie lieber mit wortloser Gewalt über alles und alle, die sich das nicht gefallen lassen wollen. Kostet nichts. Geiz ist geil.
Doch: Es kostet immer unser Leben, immer zahlen wir mit unseren Träumen, unserer Liebe, unseren Gefühlen. Und wer nicht das Gefühl hat, dass tagtäglich auf seinen menschlichsten Erwartungen herumgetrampelt wird, der lebt möglicherweise hinterm Mond. Oder hat sich mit dem teuflischen Pakt abgefunden: Geld gegen Träume.
Was tun?
Irgendwie haben sich viele junge Leute dafür entschieden, da lieber die Nächte in versteckten Clubs und Bühnen zuzubringen und Dichtern und Sängern zuzuhören, wie sie in diesem Band zu finden sind. Leuten, die all das noch sagen, was nicht ins verlangte Schema passt. Und das Schema verkauft sich gern mit den hirnlosen Marken „Freiheit“ und „Individualität“.
Nur die Seele geht dabei vor die Hunde, wenn alle sich nach Schema F selbstverwirklichen.
Was bleibt?
Dasselbe wie anno Barock: Die Suche nach dem Menschgebliebenen in uns.
Oder mit Jürg Halters Worten: „Der Raum ist durchschaubar und dicht / und ich bin, ist zuviel gesagt“.
So geht’s uns derweil. Wieder mal. Oder auch hier mal einen Burschen aus der Sammlung zitiert, Ron Winkler: „Anschauung to go“.
Ertappt, nicht wahr?
Nora Gomringer & Martin Beyer (Hrsg.) #poesie, Voland & Quist, Dresden & Leipzig 2018, 20 Euro.
Gedichte sind Musik und Heimat ist der Strohhalm für die Ahnungslosen
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