Mit Plagwitz hat Heinz Peter Brogiato schon mal angefangen zu zeigen, dass es – genauso wie in Berlin – auch in Leipzig große, berühmte Stadtquartiere gibt, für die es sich lohnt, einen Extra-Tag und einen Extra-Spaziergang einzulegen, um sie zu erkunden. Sie stecken voller Geschichte und laden auch die Einheimischen ein, sich einmal aufzumachen, das Bekannte und das eher Unbekannte wiederzuentdecken. Und Gohlis drängt sich ja geradezu auf.

Hier stehen einige der Musst-du-gesehen-Haben, die bei allen großen Stadttouren auf dem Programm stehen. Auch wenn diese „Sightseeing“-Touren ja gerade deshalb so heißen, weil man sich die Sehenswürdigkeiten nur von außen beguckt und ansonsten mit dem stinkenden „Oldtimer“-Bus weiterfährt, ohne ausgestiegen zu sein, ohne das Pflaster unter den Füßen gespürt zu haben.

Heinz Peter Brogiato kritisiert das zu Recht. Das ist Umweltverschmutzung ohne Bildungsergebnis. Und eine Belastung gerade für die Orte, die die so lauffaul besichtigt werden. In der Gohliser Menckestraße wurde das schon mehrfach kritisiert, ohne dass das zu irgendeiner Art Änderung geführt hat. Hier fädeln sich mit der Gosenschenke „Ohne Bedenken“, dem Gohliser Schlösschen, der Villa Ida, dem Schokoladenpalais und dem Schillerhäuschen die des Sehens würdigen Orte wie an einer Perlenschnur auf. Manche Businsitzer bemerken dabei nicht mal, dass man über einen alten Dorfanger fährt.

Es mag in Mega-Städten wie New York, Peking oder Moskau Sinn machen, sich die riesige Stadt in einer großen Bustour anzuschauen. Aber so recht glaube ich das nicht. In Leipzig wird es geradezu lächerlich, wenn sich 50 Menschen in einem lärmenden Bus von einem näselnden Ansager im Vorbeirollen erklären lassen, was Schiller hier getrieben hat oder Herr Böhme, Johann Gottlob mit Vornamen, jener Professor, der dem Gohliser Schlösschen jene Gestalt gegeben hat, die heute Besucher fasziniert: So schön konnte im 18. Jahrhundert ein Landhaus aussehen. Auch wenn Gohlis nicht mehr wie eine Dorfidylle aussieht.

Aber wie macht man so einen Ortsteil erlebbar, wenn man an die Sache mit den Augen eines Geografen herangeht, denn das ist Brogiato ja. Er hat gelernt, Orte nicht zu romantisieren, sondern Zeitschichten zu entdecken, Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte, Stadtentwicklungsphasen. All das lässt sich in Gohlis prima besichtigen. Aber dazu fängt man am besten in der Nordvorstadt an. Das ist dieses stadtpolitische Niemandsland zwischen Goerdelerring und Nordplatz, das kaum jemand im Blick hat, wenn es um die Entwicklung des Leipziger Nordens geht.

Aber genau hier fing alles an. Deswegen startet Brogiato die Tour auf dem Nordplatz, um erst einmal zu zeigen, dass hier um 1870 die Stadtplanung Fuß fasste und begann, ein bis dahin undefiniertes Gebiet, das zu einem großen Teil von Militärgelände blockiert war, zu gestalten. Das Militär zog ja bekanntlich dann Richtung Möckern um. Und es war Platz für einige Gebäude, die zwar jeder kennt, die aber kaum ein Leipziger jenem nebelhaften Fleckchen Nordvorstadt zuordnen würde. Also macht Brogiato eine große Schleife zum Städtischen Leihhaus, zum Nordbad (das die Leipziger nur noch als Stadtbad kennen) und zum Gelände der Stadtwerke, wo 1838 die erste städtische Gasanstalt entstand. Wenn die beliebte L-Gruppe heute damit wirbt, sie würde Leipzig erst seit 25 Jahren mit Energie versorgen, dann ist das geschwindelt. Sie tut es seit 179 Jahren – und seit dem Jahr 1905 in städtischer Regie. Da kaufte die Stadt nämlich die Gasanstalt.

Mal aus Gohliser Sicht gesagt: Man sollte sich nicht kleiner machen, als man ist. Schon gar nicht, wenn die Ersterwähnung sich in diesem Jahr zum 700. Mal gejährt hat. Auch das ein guter Grund, diesen Stadtteilführer jetzt vorzulegen und zum Entdecken einzuladen. Denn es gibt mehr zu sehen als die Kleinode an der Menckestraße. Auch eine Menge Villen voller Geschichte. Denn der Spruch, den Brogiato gleich zwei Mal zitiert („Wem’s zu wohl ist, der zieht nach Gohlis“), hat ja damit zu tun, dass in Gohlis um das Jahr 1900 viele reiche und berühmte Leipziger ihre Villen bauen ließen – und von etlichen erzählt Brogiato kurz die Geschichte. Er lässt aber auch die Wirtschaftsgeschichte nicht weg, die heute viele Neu-Gohliser gar nicht mehr kennen. Dabei wurde hier mal richtig Geld verdient – ob in Felsches Schokoladenfabrik, in Horns Likörfabrik, in der Aktienbrauerei Gohlis, in den Bleichert-Werken oder in Hupfelds und Lochmanns Musikwerken.

All das ist auf der 46-Stationen-Route zu finden, die Brogiato nach dem Auftakt in der nördlichen Nordvorstadt durch Alt-Gohlis (das heutige Gohlis-Süd) legt. Vom Dorf Alt-Gohlis findet man wenig – wenn auch Besonderes wie Schillerhaus und Schlösschen. Aber er lässt auch die etwas verzwickte Geschichte der Mühle und der Gewässer nicht fort – man denke an die im Untergrund versenkte Nördliche Rietzschke oder die Parthe, die eigentlich mal der Pleißemühlgraben war und eigentlich mal der Flusslauf der Pleiße. Immerhin waren deren Aue und das Rosental der Hauptgrund dafür, dass Gutbetuchte sich in Gohlis ein Plätzchen im Grünen bauten, bevor um 1900 die dichte Bebauung so richtig begann. Was man spätestens an der Georg-Schumann-Straße merkt, die den Norden von Gohlis-Süd durchschneidet.

Da hat man über 70 Jahre Stadtentwicklung durchlaufen, hat auch einige Berühmtheiten wie Georg Mauer, Erich Loest und Werner Tübke getroffen, für die Gohlis Wohn- und Schaffensort war. Auf die Bilanz am Ende, das Brogiato wohl mit Absicht auf den Freisitz am Heinrich-Budde-Haus gelegt hat, können die Gohliser stolz sein. Sie haben etwas vorzuweisen. Wahrscheinlich sogar viel mehr, als den meisten Bewohnern des Ortsteils heute bewusst sein dürfte.

Aber das kann man ja mit diesem handlichen Stadtteilführer erkunden. Und eines ist sicher: Man sieht hundert Mal mehr als die Leute, die glauben, sich Gohlis vom Bus aus erschließen zu können.

Heinz Peter Brogiato Leipziger Spaziergänge: Alt-Gohlis, Lehmstedt Verlag,Leipzig 2017, 6 Euro.

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