Am Ende kommt zusammen, was zusammengehört. Auch wenn die Fotografie in Ost und West über 40 Jahre scheinbar getrennte Wege ging. Mit beeindruckenden Fotografien gerade im Ostteil des geteilten Landes, wie nun schon Dutzende Fotobände aus dem Lehmstedt Verlag eindrucksvoll belegen. Aber manche Bände zeigen auch, dass sich die Welten berühren konnten – so wie bei Norbert Bunge.

Der eigentlich Westberliner ist – aber Westberlin war bis 1990 eben nicht nur eine Insel, sondern auch Transitraum und Experimentierfeld. Hier trafen sich die aus dem Osten geflüchteten Freiheitssucher und die aus dem Westen kommenden Sucher nach Freiräumen. Es herrschte ein anderes Klima als im eher behäbigen Westen. Und das hat auch Bunge dokumentiert, wenn auch erst nebenberuflich, denn seine erste Karriere machte er beim Fernsehen, war Kameramann und Kameraassistent, Mitarbeiter erst beim liberalen „Kennzeichen D“, wie Mathias Bertram im Vorwort schreibt, dann beim konservativen „ZDF-Magazin“, wo der „antikommunistische Journalist Gerhard Löwenthal den Ton angab“.

Was Bunge lieber kündigen und den Weg in die künstlerische Selbstständigkeit gehen ließ – weiterhin mit eindrucksvollen Filmprojekten. Aber die Freiheit nutzte Bunge auch, um auf seinen Reisen durch die Welt Fotos anzufertigen, die die tiefe Verwurzelung in der modernen Dokumentarfotografie zeigen. Bertram erwähnt – wie so oft – den französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson als Bezugspunkt, den Mitgründer der Fotoagentur Magnum, die auch deshalb Furore machte, weil sie einen neuen Stil in die Fotografie einbrachte – eine Verschmelzung des konsequent künstlerischen Blickwinkels mit der dokumentarischen Treue zu Ort und Moment. Auf einmal waren in den illustrierten Magazinen der westlichen Welt Fotos zu sehen, die zu Ikonen wurden und sich ins Gedächtnis der Menschen brannten.

Oder die so aussahen, als wären sie Ikonen, weil ihre Perspektiven, Blickwinkel und Kompositionen so vertraut waren.

Das machte Schule. Selbst im eingemauerten Osten, wo junge Fotografinnen und Fotografen sich die Freiräume jenseits aller Auftragsfotografie nahmen, den „stillen Osten“ mit künstlerisch-dokumentarischer Intensität abzulichten und dabei den Menschen in seinem irdischen Dasein zu zeigen – in seiner stillen, manchmal auch rührenden Größe.

Und ganz ähnlich betrachtete auch Bunge die Welt durch den Sucher seiner Kamera. Viel zu kurz ist für den Betrachter natürlich die Bilderstrecke zu Westberlin, wo er spielende Kinder an der Mauer, Studentenproteste und seinen Lieblingsmusiker Bill Haley auf der Waldbühne festhielt.

Den größten Teil dieses Auswahlbandes nehmen seine Reisefotografien aus aller Welt ein. Das eine wie das andere eine Entdeckung. Denn bislang machte sich Bunge vor allem als Galerist und als Förderer für andere Fotografen einen Namen. In seiner Berliner Galerie „Argus“ waren die Großen des Genres zu sehen. Der Galerist selbst hielt sich meistens zurück, auch wenn viele seiner Fotos über die Jahrzehnte in den renommierten Magazinen der Republik erschienen. Insofern ist dieser Band auch eine Entdeckung – die Entdeckung des anspruchsvollen Fotografen im anspruchsvollen Galeristen. Und natürlich eines Fotografen, der die Kunst, eindrucksvoll komponierte Bilder zu machen, verinnerlicht hatte.

Denn eines machen ja alle diese sehr professionell gewichteten Bildbände deutlich: Bei dieser Art, die Welt des Menschen in Bildern festzuhalten, die auch über den Tag hinaus ihre Gültigkeit behalten, geht es nicht um Technik oder Brillanz oder Inszenierung, sondern um die Fähigkeit, den Moment zu erfassen, der ganz für sich spricht. In dem die ganze Geschichte steckt. So entstehen Bilder, die ganz für sich eine komplette Erzählung tragen und eigentlich auch ohne Erklärung auskommen.

Wobei man natürlich trotzdem gespannt ist, was da unter den Bildern steht. Denn der Band vereint ja Fotografien aus sechs Jahrzehnten und von sechs Kontinenten. So begegnen sich auch Szenen, bei denen man ins Stutzen kommt – ist das nun ein beschauliches Bild aus Nordafrika oder eines aus dem sonnengefluteten Südamerika? Selbst die Zeiten greifen ineinander, Bilder aus den 1960er Jahren im aufblühenden Südamerika begegnen sich mit Bildern aus dem heutigen Kuba. Bilder aus den USA treffen auf Aufnahmen aus dem Macao der 1980er Jahre. Und immer wieder stehen Menschen im Mittelpunkt dieser Bilder – Menschen, die das Alltägliche tun und sich vom Fotografen (scheinbar) überhaupt nicht stören lassen. Oder die ernst und gelassen in die Kamera schauen. Manchmal auch nachdenklich oder verschmitzt. Aber ganz so, als würden sie sich mit sich selbst und ihrer Rolle im Bild wohl fühlen.

Ein Zustand, der fremd vorkommt, da wir zunehmend in einer Zeit der inszenierten Bilder leben, in der auch kaum noch jemand gelassen ist und kaum noch jemand ohne Maske in die Öffentlichkeit geht. Da ist unübersehbar etwas verloren gegangen in den letzten Jahren. Und halt nicht nur im Osten, sondern weltweit. Diese Bilder erzählen von einer Menschheit, die noch Zeit hatte und niemanden durch aufgesetzte Geschäftigkeit beeindrucken musste.

Sie spielen Boule, lesen auf Pariser Treppenstufen ein Buch, schieben den Würstchenwagen vor sich her, sitzen umschlungen auf Metro-Bänken oder pausieren im New Yorker Getümmel: Menschen, die wieder (oder noch) bei sich sind und nicht versuchen, den Betrachter zu beeindrucken.

Das Buch reiht sich tatsächlich nahtlos ein in die großen Fotobände bei Lehmstedt. Konsequent in Schwarz-Weiß, was auch das aufdringliche Schreien der Farben aussperrt und das Gefühl verstärkt, dass diese festgehaltenen Momente nicht um Aufmerksamkeit buhlen müssen. Sie springen den Betrachter nicht an, sondern lassen ihn unverhofft Teil einer Szene werden. Noch ein Schritt weiter, und er wird selber nassgespritzt oder steht mitten auf einer verlassenen Straße in einem Berlin irgendwo in Amerika, das Bunge bereist hat.

Die Fotos erzählen – was gute Dokumentarfotografie eigentlich schaffen sollte – von der Intensität des Lebens der Menschen. Die man so leicht vergisst, wenn man sich von der Oberflächlichkeit des Konsums anstecken lässt. Sie laden regelrecht dazu ein, sich auszuklinken und nie wieder ein touristisches Rundum-sorglos-Paket zu bestellen, bei dem man die Menschen am Reiseziel nie kennenlernt.

Wahrscheinlich hat es mit der modernen Sucht nach Fertigprodukten zu tun, die uns so fertig werden lässt und so rastlos in allem, was wir am Ende nur halb tun, weil wir keinen Sinn mehr haben für die Intensität des Moments.

Vielleicht werden solche Bildbände sogar einmal dafür sorgen, dass das 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert der Sehnsucht empfunden wird. Eines, in dem Menschen in aller Würde noch sie selbst sein durften. Wer weiß. Aber die Ahnung ist da.

Norbert Bunge Fotografien, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 29,90 Euro.

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