Gespannt oder verwirrt? Glauben Sie wirklich, dass „Mordor kommt und frisst uns auf“ eine Art „Herr der Ringe“ auf Polnisch ist? Können Sie. Alles ist möglich. Gonzo-Journalismus ist eben nicht nur die Aufkündigung felsenfester journalistischer Regeln (die Manche wie ein Zwangskorsett betrachten), sondern auch eine literarische Aneignung der Welt. Sogar eine kluge. Auch bei Ziemowit Szczerek.
Er ist selbst Journalist, streitbarer Intellektueller, wie man erfährt, aber auch fleißiger Ukraine-Reisender. Man kann ihm also zutrauen, dass er das Land, durch das er sein alter ego Lukasz mit diversen Freunden und Bekanntschaften reisen lässt, kennt. Man kann auch davon ausgehen, dass Vieles, was er schildert, ein Schatten der Wirklichkeit ist. Oder ein Zerrbild. Was aber keine Überraschung ist. Das kann der übliche, gern für seriös verkaufte Journalismus auch. Denn der Mensch sieht immer durch eine Brille, nimmt seine Erfahrungen, Vorurteile und Stereotype mit, die er den unbekannten Landschaften überstülpt.
Wer die üblichen Hochglanzmagazine liest oder den Kladderadatsch im Fernsehen anschaut, der müsste eigentlich wissen, was das ist. Alles sieht überall gleich aus. Und das hat nichts mit der McDonaldisierung der Welt zu tun, sondern damit, dass die meisten Journalisten losfahren und suchen, was ihnen bekannt vorkommt. Mit dem Fremden und Unverständlichen beschäftigen sie sich gar nicht erst. Deshalb bekommen wir daheim scheinbar eindeutige, gut verständliche Stories und Erklärungen geliefert – merken aber erst, dass sie falsch sind, wenn sich die paradiesischen Bilder hernach in chaotische Ticker-Meldungen verwandeln – die wir nicht mehr einordnen können.
Auch nicht als Reisende. Denn die meisten Reisen, die wir Westeuropäer unternehmen, sind organisierte Reisen in hübsch abgezirkelte Habitate, in denen alles so ist, wie wir es erwarten und kennen.
Dass die Europäer so seltsam auf alles Fremde reagieren, hat auch damit zu tun, dass sie im Kopf eine Schere haben: Das, was sie für gewöhnlich als Fremde konsumieren, hat in der Regel wenig mit dem zu tun, wie die Fremde wirklich ist. Und was die uns Fremden tatsächlich denken und wünschen.
Das wird schon etwas deutlicher, wenn man einfach mal den Blickwinkel verschiebt. Ein deutscher Autor hätte die Gonzo-Backpacker-Geschichten über die Ukraine niemals so schreiben können, wie es Ziemowit Szczerek getan hat. Eigentlich sogar schon vor unvordenklichen Zeiten. Denn als das Buch 2013 erstmals in Krakow erschien, regierte in Kiew noch Putin-Freund Viktor Janukowitsch. Es ist schon erstaunlich, wie viele Freunde Wladimir Putin in der Welt hat. Und was für welche.
Es ist also auch die Ukraine vor der neuen, der Maidan-Revolution und den Putinschen Besetzungen der Krim und der Ostrukraine. Die einem – auch durch die Augen von Lukasz, den Ziemowit Szczerek quasi stellvertretend auf Reisen durch die Ukraine schickt – doch erstaunlich vertraut vorkommt. Zumindest aus ostdeutscher Perspektive, denn bis 1989 war man ja Teil dieses Sowjet-Kosmos, der sämtlichen Landschaften, in denen er herrschte, seinen Stempel aufgedrückt hat. Je stärker der Zugriff, umso stärker dieser Stempel.
Deshalb ist die Ukraine, die Lukasz bereist, eben nicht die USA, es kommt auch eher nicht das schwebende Feeling der Blumenkinder auf – man begegnet übrigens auch keinen. Und trotzdem gibt es das On-the-road-Gefühl, das auch in einigen der sehnsuchtsvollsten Bücher und Filme der DDR auftauchte, nur war das Sehnsuchtsland der ostdeutschen Blumenkinder eher Ungarn, manchmal auch Rumänien oder Bulgarien. Gern auch darüber hinaus – aber wer das wagte, landete ja bekanntlich im Knast.
Den Polen ging es nicht ganz so. Und mit seinem Geburtsjahr 1978 hat Szczerek von diesem Eingesperrtsein auch nicht mehr viel mitbekommen. Dafür hat er das Polen nach 1989 erlebt, wie es schleunigst versuchte, sich nach Westen zu orientieren, die Marktwirtschaft mit Karacho einzuführen und teilzuhaben am großen europäischen Traum. Was ja bekanntlich ganz ähnliche Kalamitäten mit sich brachte, wie sie auch die Ostdeutschen erlebten. Man wurde den Ruch des Primitiven und Ärmlichen nie los und auch nicht den gönnerhaften Blick der Westeuropäer (und Westdeutschen), die einen durchaus spüren ließen, dass sie dem Fleiß, dem Leistungswillen und der Konkurrenzfähigkeit der armen Neulinge zutiefst misstrauten. Sie sagten es nicht. Aber Manches muss nicht gesagt werden, um seine fatalen Wirkungen zu zeigen.
Ganz so Gonzo, wie Szczerek behauptet, ist sein Ukraine-Abenteuer nicht. Denn so, wie es den Ostdeutschen mit ihren lieben Brüdern und Schwestern im Westen geht und den Polen mit den Deutschen, so geht es den Ukrainern mit den Polen. Man ist Europäer – aber je größer die Distanz zur Mitte, umso mehr Abstufungen gibt es. Umso elementarer wird auch der Traum von diesem Europa, über den Szczerek seine Helden gerade in den späteren Kapiteln seines Buches oft und sehr eindringlich diskutieren lässt.
Lukasz schaut zwar mit zunehmender Befremdung auf das, was er da sieht, je weiter er nach Osten und Süden kommt, aber gerade dadurch wird auch spürbar, als wie zerrissen er die Ukraine erlebt. Auch die Westukraine kennt ihre Separationsbestrebungen. Die Zugehörigkeit zu Europa ist ein Traum. Und ganz so Gonzo wird es nicht sein, wenn Szczerek einige seiner Helden das ferne und doch so nahe Europa wie eine Fata Morgana schildern lässt, einen Traum, zu dem sie gern gehören möchten.
Was übrigens auch aus polnischer Perspektive gilt. Gerade die letzten Kapitel beschäftigen sich sehr intensiv mit dem Zwiespalt, in dem der Rucksackreisende Lukasz steckt, wenn er diese gerade durch ihren Verfall beeindruckenden Landschaften im Osten betrachtet, bewundert, sogar regelrecht sucht. Man staunt zwar über die vielen geschäftstüchtigen Großmütterchen, die überall auftauchen und den als reisenden Polen Erkennbaren jederzeit freie Zimmer anbieten können – aber dieser Lukasz sucht auch das Abgewrackte. Und er porträtiert seine Landsleute, die die „primitive“ Ukraine bereisen, als gelte es hier tatsächlich eine aus ihrer Sicht vergangene Welt noch einmal zu besichtigen und sich zu fühlen wie auf der Safari. Vielleicht ist es tatsächlich so. Unbegreiflich wäre es nicht. Genau so bereisen ja die noch viel erfolgreicheren Westeuropäer die ganze Welt, die Amerikaner erst recht. Tourismus ist nicht deshalb zur Plage des 21. Jahrhunderts geworden, weil Menschen für wenig Geld überall hinverschifft werden, sondern weil sie dort hinfahren, als ginge es nur mal in den Zirkus. Sie bleiben in ihren organisierten Reisegruppen, betrachten das Exotische durch Glasscheiben, lassen sich aber nicht auf die bereisten Länder ein und auch nicht auf die dort lebenden Menschen.
Lukasz versucht es zwar, muss sich aber am Ende doch vorwerfen lassen, dass er wohl doch nur mit dem Blick des Überlegenen auf die exotischen Eingeborenen herabschaut, die irgendwie ihr Leben fristen, ihren Traum von Europa träumen und in lauter Versatzstücken der bewunderten europäischen Kultur leben. Am Ende ist Lukasz voller Schamgefühle. Er nimmt die Kritik an, obwohl er – bei all seinen Gonzo-Übertreibungen – ja tatsächlich etwas gelernt hat über diese zerbröselnden Städte und abgewrackten Landschaften – oder besser: über die Menschen, die dort leben, in einem deutlich wahrnehmbaren Zwischenreich zwischen dem „glücklichen“ Europa und dem als bedrohlich empfundenen Nachbarn Russland. Das dann im Kapitel „Reise nach Mordor“ tatsächlich mit dem Tolkienschen Mordor assoziiert wird.
Was dann wirklich die Ebene für die Tolkien-Freunde ist. Denn Tolkien hat ja mit seiner Mittelerde-Welt tatsächlich das Europa der 1930er Jahre vor Augen gehabt. Und zwar immer aus englischer, d. h. westlicher Sicht. Klingt nach Gonzo, ist es auch – aber in einer erhellenden Weise: Denn darin spiegeln sich natürlich die westeuropäischen Vorurteile, Ängste und Distanzen. Das Fremde, Ungreifbare wird nicht nur als bedrohlich empfunden, es wird auch stark simplifiziert. Alles wird eine Soße. Oder ein dunkles Gebräu. Jede mögliche Begegnung wird wieder von Ängsten und Vorurteilen begleitet. Und weil Reaktionen immer Gegenreaktionen auslösen, verhält sich Mordor dann immer wieder verwirrenderweise wie Mordor. Oder Russland. Was egal ist. Was Lukasz aber erschreckt und deprimiert. Obwohl er nicht einmal dem richtigen, originalen Russland begegnet, sondern auch wieder nur einer Kultur, in der „die Russen“ versuchen, westliche Lebensart irgendwie in ihren Alltag aufzunehmen, anzueignen und was Eigenes draus zu machen. Stichwort: Russendisco.
Tatsächlich lernt der Gonzo-Reisende, dass er zwar die ganze Zeit die Gier der polnischen Leser nach neuen und immer schrilleren Gonzos aus dem faszinierenden und zugleich verachteten Nachbarland befriedigt hat, aber dabei hat er sich selbst nichts Gutes getan, verliert am Ende auch einen Freund, der ihm wohl zu Recht vorwirft, er habe bei seinen Touren nur seiner Sensationslust gefrönt, tatsächlich aber nur verächtlich auf die Menschen herabgeschaut, denen er begegnet ist. Etwas, was ihm ganz zu Anfang schon eine schwarzäugige Schönheit ins Gesicht gesagt hat.
Und das Verblüffende ist: Man erkennt sich wieder. Gerade jetzt, wo sich – augenscheinlich mit 27-jähriger Verspätung – Journalisten von „Zeit“ und „Spiegel“ aufmachen, um endlich mal den Osten kennenzulernen. Den deutschen Osten, über den sie die ganze Zeit geschrieben haben und den sie die ganze Zeit mit ihren Vorurteilen zugekleckert haben. Und nun merken sie, dass da augenscheinlich auch noch richtige Menschen leben, mit eigenen Erfahrungen, Hoffnungen und Erwartungen. Die eben nicht zu den westdeutschen Stereotypen passen. Nur scheint das all die Zeit kein Schwein gemerkt zu haben. Das Ergebnis: Augenscheinlich wurden da 27 Jahre lang lauter Gonzos über den Osten geschrieben, und die Verfasser haben es nicht einmal gemerkt.
Womit man bei der eigentlich spannendsten Ebene von Szczereks Gonzo-Roman ist: Wo beginnt eigentlich Gonzo-Journalismus? Und kann es sein, dass hinter der Maske eines überheblichen Objektivismus, der nur sieht, was er sehen will, in Wirklichkeit mehr Gonzo passiert als in Geschichten, die ganz bewusst zeigen, wie subjektiv der Autor die Welt betrachten kann? Wie viel Würde und Respekt steckt tatsächlich hinter diesem Professoren-Journalismus, der sich regelrecht pikiert immer ferngehalten hat von den pöbelnden, saufenden, ungewaschenen Leuten in der realen Welt?
Ziemowit Szczerek macht sehr anschaulich, wie diese Sichtweise dazu führt, dass man ein ganzes Land (wie die Ukraine) samt ihren Menschen in ein Phantom verwandeln kann, eine Spritztour-Kulisse für gut zahlende Touristen, die das Morbide einmal als Abenteuer erleben wollen, um das Gefühl zu haben, dass sie ja doch nicht zu den ganz Unglücklichen auf dieser Erde gehören.
Hübsche Frage, nicht wahr: Wie viele Menschen reisen gerade aus diesen Gründen in die Welt?
Zum Beispiel nach Polen, das aus (reicher) westlicher Sicht ja ganz ähnlich entwicklungsbedürftig erscheint, noch nicht dazugehörig.
Womit man dann auch beim Dilemma der EU ist, deren Granden bis heute nicht kapiert haben, was für eine Magie dieser Traum von Europa all die Jahre ausgestrahlt hat – und warum auch die Osteuropäer unbedingt dazugehören wollten. Und warum sie von dem technokratischen Konstrukt, wie es heute dasteht, so massiv enttäuscht sind. Auch die Polen.
So weit kann es ein Gonzo bringen. Gerade weil er übertreibt und scheinbar lauter Klischees bedient. Aber in Klischees steckt, wie man hier lesen kann, oft eine Menge Wahrheit. Abenteuer sowieso, auch wenn man mit Lukasz regelrecht mitfühlt, wie seine Entdeckerfreude mit jeder Geschichte hinschmilzt (ja, gesoffen wird auch mehr, als die beste Leber aushalten kann). Am Ende ist er nicht nur zerknirscht, er schämt sich regelrecht, als er bei der Rückkehr an der Grenze erlebt, wie die Reisenden geteilt werden – in Osteuropäer, die eine schikanöse Kontrolle über sich ergehen lassen müssen, und EU-Bürger, die einen privilegierten Zugang haben.
Das ist ein Moment, da erschrickt man schon. Da merkt man, dass hinter all den Gonzos eine Menge Wirklichkeit steckt. Mehr, als man in einer einfachen Backpacker-Geschichte überhaupt erwartet hätte.
Ziemowit Szczerek “Mordor kommt und frisst uns auf”, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017, 20 Euro
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