Die Latte lag hoch, die sich der Leipziger Autor Thomas Bachmann gelegt hat. Er wagte „den bittersüßen Versuch, einen Zeitabschnitt von gut 20 Jahren zu spiegeln“ und dabei den Blick über ein Land zu richten, „welches, geographisch verortet, die ‚neuen‘ Bundesländer sind.“ Aber eigentlich ist es die kleine Kneipe um die Ecke.

Ort des stillen Sinnierens über die Schwermut der Welt, die anderen Kneipengäste, ihr Schweigen und die große Betrübnis der Welt. Bei Thomas Bachmann ist es oft so, dass man das Gefühl nicht loswird, dass seine Helden mental alle im Jahr 1988 zurückgeblieben sind, im großen Gefühlsstau, den Hans-Joachim Maaz dereinst diagnostizierte. Eine Diagnose, die wahrscheinlich zutrifft. Bis heute. In ihrer Sehnsucht nach D-Mark, Bananen und Reisen in alle Welt haben viele Ostdeutsche einfach vergessen, sich um sich selbst und ihr Gefühlsleben zu kümmern. Und um das, was ein System mit ihrem emotionalen Korsett angerichtet hat, das ungezügelte Gefühle für 40 Jahre unter eine Käseglocke gesperrt hatte.

Deswegen scheint in Bachmanns Geschichten die Zeit stillzustehen, ganz und gar nichts zu passieren. Seine Heldinnen und Helden schauen aus dem Fenster und sehen das Leben draußen vorbeiziehen, als hätte es nichts mit ihnen zu tun. Und wenn sie es schon einmal hereinlassen, dann passieren schreckliche Dinge – auch wenn der Leser nicht so recht weiß: Passieren sie wirklich oder sind sie nur die entfachte Phantasie der Helden, die davon nur träumen, einmal tatsächlich der große Held zu sein?

Obwohl sie immer nur Voyeur der Dinge sind, die da passieren. Eremiten in einer Welt, deren Geschäftigkeit sie eher entmutigt, verwirrt und widerborstig macht. Wobei immer wieder Erzähler im mittleren Alter auftauchen mit langsam ergrauenden langen Haaren, die sie zum Zopf gebunden haben, und die in der Kneipe sitzen und beobachten, was diese Gestrandeten gerade anstellen. Still für sich interpretierend, urteilend, einsortierend. Als wären sie selbst tatsächlich nur unbeteiligte Beobachter und diese Betrunkenen, Entmutigten, Sex- und Liebesuchenden wären nur die Randfiguren der eigenen Beobachtung. Was dann zu scheinbar abgebrühten Dialogen führt, in denen sich die Helden dieser nächtlichen Kneipen gegenseitig in Abgebrühtheit zu übertreffen versuchen, Dinge andeutend, die niemals passieren. Die auch nie ausgesprochen werden.

Auch dann nicht, wenn Bachmann tatsächlich von echten Versuchen des Aussteigens erzählt. Denn in vielen seiner Figuren steckt auch ein Stück von ihm selbst, eine tiefsitzende Überdrüssigkeit, weil ihn die Geschäftigkeit, die Oberflächlichkeit und die Armseligkeit des großen Geschachers eigentlich anöden. Eigentlich will er das alles nicht. Aber es verändert sein direktes Umfeld. Nachbarn versumpfen in Trostlosigkeit, der Bäckerladen verwandelt sich in eine Filiale einer Kette, die die beschäftigten Frauen nur noch ausplündert, die Stadt wird zunehmend gesichtsloser, die Sommer zu einer einsamen Qual.

Und immer wieder stehen seine einsam sinnierenden Helden an Orten, an denen sie sich nicht recht entscheiden können: springen, flüchten oder doch wieder zurückkehren ins große Einerlei?

Und immer wieder deuten sich die eigentlichen Konflikte an, wie in der vorletzten Geschichte: „Die Abrechnung oder das Elend der Männer“, in der der Held einen recht seltsamen Versuch unternimmt, die Frau, die sich vor Jahren von ihm hat scheiden lassen, zur Rede zu stellen, endlich ein offenes Wort von ihr zu bekommen, eine ehrliche und offene Erklärung für alles. Aber die bekommt er nicht. Sie will nicht. Man ahnt nur, dass sie auch nicht kann, dass das ihr genauso wenig gegeben war wie ihm. Und damit endet dieser Versuch wie all die anderen Szenen und Nicht-Geschichten zuvor: In ihren Gedanken reden all diese Figuren zwar jede Menge, sind voller enttäuschter Erwartungen und unausgesprochener Vorwürfe. Aber mehr als die Flucht in die Gartenlaube oder die abgeklärte (und trotzdem stumme) Pose bleibt ihnen nicht. Seltsame, alt gewordene Hippies irgendwie. Ostdeutsche Hippies. Wobei man nicht so recht weiß, ob es den westdeutschen Hippies nicht genauso geht, wenn sie sich nicht in die blendende Pose der erfolgreichen Macher geflüchtet haben. Das schwingt mit am Rand. Denn diese Zeit danach ist – aus der Position des Beobachters – eine Zeit der Oberflächlichkeiten, der polierten Fassaden und der sinnentleerten Jagd nach Geld.

Doch was bleibt dann diesen gestrandeten Menschen, die nicht gelernt haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, denen der Mut zur Begegnung fehlt und die deshalb einen Panzer aus Wortblasen und Allgemeinplätzen mit sich herumtragen? Gut geht es ihnen sichtlich nicht. Nichts wird geklärt, nichts ausgefochten. Die Gefühle brodeln unterm Panzer. Aber wer sein Leben nicht anpackt, der bekommt nichts als die fortwährende Enttäuschung seiner Erwartungen. Der wird zum ewigen Wanderer.

Keine leichte Kost. Eher jede Menge schwermütige Kost. Aber auch ein Stück Wahrheit über die östliche Seite des deutschen Schinkenbrötchens, die stille, oft genug vorwurfsvoll schweigende Seite. Was Bachmann nur andeutet, aber wie Rauch über den Kneipenbegegnungen liegt, in denen jeder versucht, sein eigenes Selbst zu verbergen. Schamvoll verbirgt auch jeder seine Vergangenheit.

Nur bedeutet das eben auch, dass auch die Gefühle unterm Deckel bleiben, dass nichts ausgesprochen, ausdiskutiert oder gar ausgelebt wird. Die alte Unterdrückung aller Emotionen lebt fort. Eigentlich ist das Buch selbst ein Psychogramm. Psychogramm eines Landes, das auch nach dem großen Aufbruch nicht gelernt hat, die Gefühle rauszulassen. Sich lieber verkapselt hat und verkrochen. So wird man nicht souverän, auch nicht den Menschen gegenüber, denen man nahekommt.

Oh ja, diese andeutenden Sätze, unterschwelligen Vorwürfe, Andeutungen möglicher Erwartungen, das kennt man alles. Das ist in den ostdeutschen Provinzen noch überall zu finden. Mitsamt der Glut darunter, die unverhofft in Verdrossenheit, Wut und laute Aggression umschlagen kann. Auch wenn sich das Bachmanns Helden lieber verkneifen, sich lieber verkriechen in ihr Schneckenhaus und sich dort vor sich selbst rechtfertigen, dass sie ja mit den ganzen Zumutungen da draußen nichts zu tun haben wollen.

Manchmal bricht es trotzdem auf und es kommt zu tatsächlich unverhofften Begegnungen. Man staunt. Begegnungen, die auch davon erzählen, dass sich die alternden Helden in Bachmanns Geschichten auch einmal Frauen-Begegnungen wünschen, die nicht die übliche Schauspielerei sind, dieses Einander-Tolles-Vorspielen, wo es eigentlich nur um echte, unverstellte Annäherungen geht.

Denn all das Fake-Geschrei, das da draußen wabert, hat seinen Ursprung in nicht gelebten Gefühlen, in unterdrückter Lebendigkeit. Da tobt sich ein Verdruss aus, der tatsächlich aus lauter ungelebten Träumen kommt. Da stauen sich noch immer jede Menge Gefühle, runtergeschluckt, verdrängt, nicht eingestanden. Geredet wird darüber sowieso nie. Was dann für Bachmann natürlich die Diagnose ergibt, dass dieser ganz spezielle Osten ganz und gar nicht Geschichte ist, nicht wirklich untergegangen ist. Die „Zone“ ist noch immer da: maulend, schweigend, zutiefst verdrossen.

Eigentlich nicht auszuhalten.

Aber vielleicht noch eine Wendung mehr, denn das alles dem (alten) Osten anzulasten, wäre vielleicht ein bisschen billig. Denn einige der verirrten Typen in diesem Buch kommen auch aus der geschäftigen, scheinbar lebendigeren Welt da draußen – und sind höchst ratlos und desorientiert.

Denn das mit den unterdrückten Gefühlen, der Unfähigkeit, über Verletzungen und Beziehungen zu reden, das gehört auch zur Gegenwart und zu den von Ablenkungen übertünchten Welten der falschen Erfüllungen. Das ist im Osten nur eine sehr seltsame Melange eingegangen. Oder sollte man sagen: eine verunglückte Menage? Kuschelig ist es in diesen Lebensnischen eher nicht. Dafür wird sehr viel gegrübelt beim Rauchen und Trinken. Alles nicht sehr gesund.

Thomas Bachmann East Side, Lychatz Verlag, Leipzig, 19,95.

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