Er schreibt und schreibt und schreibt. Er kann nicht anders. Leben ist Denken für den Schriftsteller, Komponisten, Musikpädagogen und – nicht zu vergessen – Philosophen Sascha Heße aus Leipzig. Und was ihm so durch den Kopf geht, das schreibt er auf. Seine Gedanken-Bücher erscheinen in hoher Schlagzahl. Aber geht es im jüngsten Band tatsächlich um die Leiden des Künstlers?

Das ist ja bekanntlich ein uraltes philosophisches Thema. Manchmal lässt Heße ja durchblicken, dass er parallel immer wieder in den Büchern anderer Leute liest und sich anregen lässt. Was übrigens auch in diesem Bändchen zu der Einsicht führt, dass Literatur nur dann existiert, wenn sie auch rezipiert wird. Wer nicht gelesen wird – für wen schreibt der eigentlich? Oder ist das nicht so wichtig, weil das Tun wichtiger ist als das Haben? Der Weg wichtiger als das Erreichen des Zieles?

Natürlich erinnert Heße daran, dass das eine der ältesten Fragen der Philosophie ist und auch die alten Griechen sich schon den Kopf darüber zerbrachen, wie man dem Leben hienieden einen größeren Sinn geben kann, einen, der über das eigene Leben hinausweist. Oder besser: über den Tod. Über den Heße auch philosophiert, denn die Menschen sind ja voller abergläubischer Vorstellungen über dieses Nicht-mehr-da-sein. Sie wissen darum, dass ihr Leben endlich ist und viele leben die ganze Zeit in Angst vor diesem Ende, jagen durch ihr Leben, betäuben sich, füllen jeden Moment mit irrer Geschäftigkeit – und merken so gar nicht, wie sie ihr Leben tatsächlich vertun.

Manchmal taucht zwar bei Heße auch so ein verständnisvoller Gedanke für Gott, Religion und Glauben auf, aber eigentlich sieht er die Dinge rational, mit wissenschaftlicher Nüchternheit. Der Tod ist nicht schrecklich. Er ist nur die Negation all dessen, was vorher war. Und genau das ist das Geschenk, das so Viele nicht wahrnehmen und annehmen können. Sie behandeln ihr Leben nur als Vorstufe zu irgendetwas anderem, rasen hindurch, lenken sich ab, fragen die dümmste aller Fragen: die nach dem Sinn des Lebens. Als läge der irgendwo anders und nicht in ihrem Hiersein.

Das hat Folgen. Da kennt Heße nichts. Ausreden, warum man sein Leben nicht leben und sich selbst nicht mal kennenlernen sollte? Gibt es keine. Ganz prägnant wird er im siebenten Kapitel in richtig knappen Aphorismen: „Der Grund unseres Lebens ist zunächst und vor allem der Boden, auf dem wir stehen, die Erde.“

Das hat Folgen. Für die Philosophen war es jahrhundertelang das Hineingeworfensein. Sie konnten nicht los von der religiösen Sicht auf das Leben. Religion hat Jahrtausende lang einen Deutungsrahmen gegeben für unser Sein auf dieser Erde. Eigentlich ist er überflüssig geworden, seit die Menschheit ernsthaft Wissenschaft betreibt. Wir haben auf die meisten einst religiösen Fragen längst Antworten gefunden – richtig belastbare. Und die Zunft der Wissenschaftler hört ja nicht auf. Sie fragt immer weiter und findet immer mehr Erkenntnis über das, was unsere Welt ist.

Bis hin zu der, dass es da am Rand der Milchstraße einen kleinen, einmaligen Planeten gibt, der uns ermöglicht hat. Das ist ein Geschenk. Es gibt keine zweite derart faszinierende Welt.

Und was machen wir?

Wir zagen und barmen, ängstigen uns vor dem Tod, versuchen uns fortwährend abzulenken, nicht zu denken, nichts zu erleben, nur ja nicht zu konfrontieren mit uns selbst.

„Wer ein Refugium nicht in sich selbst hat, der hat es nirgends“, stellt Heße fest. Denn das große Abenteuer beginnt nicht damit, dass wir uns von anderen fertige Abenteuer vorsetzen lassen. Die meisten leben nur aus zweiter und dritter Hand. Sie „lassen alles nur auf sich einwirken“. Als wären sie nur Zuschauer ihres eigenen Lebens, nicht Schaffende, Schöpfende. Schöpferische schon gar nicht, die unter dem fortwährenden Druck stehen, sich selbst zu verwirklichen – in Kunst zum Beispiel. Das Thema, um das Heße in mehreren Kapiteln kreist, weil er fassen will, was diese ganzen Hungerkünstler dazu treibt, dennoch fortwährend zu schaffen, selbst wenn sie am Hungertuch nagen. „Brotlos glücklich“ nennt er das Kapitel, in dem es eben nicht nur um das Glück des Künstlers geht, fortwährend am vollendeten Kunstwerk zu arbeiten.

Dabei streift er natürlich auch ein paar steile Thesen, die so im Lauf der Zeit entstanden sind, um den Künstler als Genie zu glorifizieren. Welches dann Unerhörtes aus sich schaffen muss und fortwährend innovativ sein soll. Eine Gratwanderung. Aber keine Erklärung. Die steckt in anderen Gedankensplittern, in denen Heße für sich versucht, den modernistischen Müll von dem zu trennen, was ihn selbst berührt. Denn gelungene Kunst wirkt nicht, weil sie modern und innovativ ist, sondern weil sie die Betrachter, Zuhörer und Leser ergreift.

Sie spricht also das Menschlichste an, berührt die Menschen da, wo sie lebendig sind. Und wo viele gar nicht berührt werden wollen – siehe oben: „Lass dich nur nicht ergreifen – du wirst die Ergriffenheit nie wieder los!“

Denn Kunst erreicht die Menschen nur, wo sie vom eigenen Da-Sein berührt sein wollen, wo sie sich öffnen dafür. Was Aufmerksamkeit bedeutet und den Mut, gegenwärtig zu sein. Was die Meisten gar nicht wollen. Sie fliehen lieber in Unterhaltung und in Zeitvertreib. Heße: „Mit der Zeit vertreiben wir uns das Leben.“

Wenn man so wie dieser Leipziger Philosoph einen Schritt beiseite geht, dann merkt man erst, dass es beim Kunst-Machen tatsächlich um das Eigentliche geht: die Fähigkeit, die Schönheit und die Einmaligkeit dieses Lebens zu ergreifen und erfahrbar zu machen. Deswegen kann er mit Zwölftonmusik und anderen Gehirnturnereien der modernen Musik nichts anfangen. Musik hört auf, Sinn zu machen, wenn sie uns nicht mehr ergreifen kann, wenn sie nur noch den Intellekt anspricht und nicht mehr das Herz. Wenn sie diesen gekünstelten Weg weiter geht, macht sich Kunst überflüssig.

Aber wie ist das nun mit der Sinnsuche? Leben davon nicht die Religionen?

Ein Irrweg, stellt der Philosoph fest, der seine Mitmenschen mit zunehmender Skepsis beobachtet: „Das Leben zahlreicher Menschen besteht in nichts anderem, als sich über die Zeit, in der sie nicht glücklich sind – und das ist die allermeiste Zeit – mit Hilfe von Beschäftigung, Zerstreuung und Konsum hinwegzuhelfen. Diese Art zu existieren wird so zur Gewohnheit, dass sie kaum noch bemerken, wie ihnen ihr Leben – das gar kein wahres Leben ist – zwischen den Fingern zerrinnt.“

Von „Simulation der Sinne“ spricht er, „der schönen Welt des Scheins, die sirenengleich uns anzieht, unsere eigene Wirklichkeit zu opfern.“ Denn da, wo wir nicht da sind und nicht mal die Stille zulassen, unsere eigenen Gedanken wahrzunehmen, da leben wir nicht. Wir verpassen alles, weil wir uns nicht ergreifen lassen wollen.

Sascha Heße: „Wer den Willen verspürt, die Welt zu ergreifen, sollte zunächst damit beginnen, sich von ihr berühren zu lassen.“

Das Buch ist eigentlich ein kleines Plädoyer für den Mut zum eigenen Leben. Jetzt, nicht irgendwann. Manche Leute warten ja die ganze Zeit darauf, dass irgendjemand ihnen sagt, dass sie jetzt bitteschön glücklich sein dürfen. „Wir warten darauf, Glück zu haben – und vergessen dabei, glücklich zu sein.“

Eine schwere Übung – gerade für alle, die ein Leben lang versuchen, den Erwartungen anderer gerecht zu werden, ständig glauben, sie seien falsch, unfertig und fehlerhaft. Sie versuchen zu lernen, „was sie wollen sollen“ – und erfahren nie, was sie wirklich wollen. Sie sehen ihr Bild im Spiegel – aber nicht sich selbst.

Und da fließt es natürlich zusammen. Der Künstler ist keine Ausnahmeerscheinung (bestenfalls in seinem Drang, fortwährend an einem vollkommenen Werk zu arbeiten). Tatsächlich versucht er – wie es auch die alten Griechen sahen – fortwährend nur das Bestmögliche aus seinen Gaben zu machen. Und das – Heße betont es nicht extra – gibt dem Leben aller Menschen eigentlich erst einen Sinn: „Mehr kann keiner leisten, als aus dem etwas zu machen, was er bekommen hat.“

Der neu geborene Mensch ist ein Bündel aus Gaben, Möglichkeiten und Begabungen. Und er hat ein Leben lang Zeit, daraus etwas zu machen – nämlich sich selbst. Dann kommt man zwangsläufig auch zur Antwort auf die Frage, was Glück ist und was Sinn macht. Man muss sie sich nicht mehr von anderen Leuten beantworten lassen, die so tun, als wüssten sie es. Hier auf Erden spielt die Musik. Und das große Verzweifeln beginnt bei den Meisten in dem Moment, in dem sie merken, dass sie aus ihren Gaben und ihrem Leben nichts, aber auch gar nichts gemacht haben. Dass sie das Glück nicht genossen haben und immer nur zugeschaut, wie sich alles abspulte vor ihren Augen. Nur ja nicht berühren lassen. Disziplin, bitte!

Und wer – wie Heße – nur ein bisschen weiter drüber nachdenkt, der fragt sich natürlich auch, was dieser bekloppte Traum vom ewigen Leben eigentlich soll. Gerade der Tod gibt unserem Leben Wert, weil er es begrenzt, weil er eigentlich jedes Verschieben auf die lange Bank unmöglich macht: Was wir vorher nicht leben, wird auch nachher nicht mehr kommen. Das Geschenk liegt vor uns und es ist unsere ureigenste Aufgabe, diesem Geschenk einen Sinn zu geben.

Natürlich bedeutet der ewige Wechsel von Leben und Tod, dass wir entbehrlich sind – aus kosmischer Sicht ist sogar die Menschheit entbehrlich. Der Kosmos braucht das alles nicht. Aber es könnte sein, die Menschheit braucht das und sollte ein bisschen über das Jetzt und die nächsten paar Jahre hinausdenken.

Und wir selbst?

Oder mit Heßes Worten: „Wir sind frei, zu tun, was wir wollen, und sind eingeladen, das geringe Quantum Leben, das uns zugeteilt ist, mit Glück und Liebe zu erfüllen!“

Sascha Heße Dass die Strömung uns nicht forttrage …, Parodos Verlag, Berlin 2016, 12 Euro.

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Keine Kommentare bisher

“Wer den Willen verspürt, die Welt zu ergreifen, sollte zunächst damit beginnen, sich von ihr berühren zu lassen.“

Und deshalb sitze ich jetzt im Garten, hör den Vögeln zu und les diesen Text heut schon zum zweiten mal. Das letzte mal wirds wohl nicht sein, so viel Nachdenkstoff kann man ja mal öfter rausholen. Erschreckend richtig, was da steht.

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