Der Schmerz sitzt tief. Und manchmal hat man den Eindruck, dass der Abschied vom 1999 in Leipzig geschlossenen Teubner Verlages noch lange dauern wird. Denn damit verschwand der berühmteste Leipziger Wissenschaftsverlag aus der Stadt. Ein Verlag, für den „der Grimsehl“ genauso stand wie „der Kohlrausch“. Physiker wissen sofort, was das war.
Und bestimmt hat auch Angela Merkel ihren „Kohlrausch“ noch daheim im Regal stehen, den sie ab und zu zur Entspannung herausholt, wenn sich die studierte Physikerin mal wieder über die Unberechenbarkeiten des politischen Alltags geärgert hat.
Es gibt einige Autoren, deren Name wird im Lauf der Zeit regelrecht zum Markenzeichen, weil ihr Buch zum Handwerkszeug ganzer Generationen von Wissenschaftlern wird. Friedrich Kohlrausch gehört dazu, seinerzeit Physikprofessor in Göttingen, als er wohl die Hilflosigkeit seiner Studenten nicht mehr mit ansehen konnte. Also schrieb er 1867 einen „Leitfaden der praktischen Physik“ mit lauter praktischen Anleitungen fürs Experimentieren. Er baute auch das erste physikalische Kabinett an der Uni Göttingen auf, was von der Fachwelt sehr aufmerksam beobachtet wurde. Denn die Wissenschaftswelt war komplett im Umbruch. Gerade die Naturwissenschaften zwangen die Forscher und Lehrenden, neben der theoretischen Vermittlung einen praktischen Forschungsbereich aufzubauen. Entdeckungen machte man nicht mehr nur im Kopf, sondern man entwickelte ein immer besser ausgetüfteltes Instrumentarium, den Gesetzen der Natur auf die Schliche zu kommen.
Das hatte Friedrich Kohlrausch schon bei seinem Vater, dem früh verstorbenen Physiker und Universitätsprofessor Rudolf Kohlrausch, gelernt. Aber er wollte es nicht mehr dem Zufall überlassen. Viel zu bewusst war ihm, dass er ganze Generationen von Physikern ausbildete, die wissen mussten, wie man prüft und misst und experimentiert. Die Wissenschaft blühte regelrecht auf, weil auch die Industrie begriffen hatte, wie nützlich die neu entdeckten physikalischen Phänomene waren.
Auch Friedrich Kohlrauschs erste, noch in Göttingen erschienene Veröffentlichung, war eine Teubner-Publikation. Es war nur logisch, dass die nächsten Auflagen dann tatsächlich ins Leipziger Teubner-Programm wechselten und der Leitfaden immer dicker wurde, sich mit immer neuen Experimenten und auch neuen Forschungsbereichen füllte. Alles bis 1910 unter direkter Regie von Friedrich Kohlrausch, der aufgrund seiner Kompetenz 1895 auch Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR) in Berlin-Charlottenburg wurde.
Aus dem Leitfaden wurde ein richtiges Lehrbuch, das für Generationen von Studierenden zum Begleiter durchs Physikstudium wurde. Und auch nach Kohlrauschs Tod 1910 wurde dieses Standardwerk im Teubner-Verlag – nun in der Regel von mehreren kompetenten Autoren – immerfort erweitert. Längst war es so dick, dass auch das „Lehrbuch“ im Titel eher verwunderte. Also wurde irgendwann einfach der Titel „Praktische Physik“ daraus, zuletzt zweibändig mit über 2.000 Seiten und immerfort erneuert, ein Standardwerk, wie es für den Teubner Verlag typisch war.
Wenn Werner Stolz und Jürgen Weiß jetzt an den „Kohlrausch“ erinnern, dann ist das auch ein weiterer nachdrücklicher Hinweis darauf, was für ein hochkarätiger Verlag Leipzig da verloren ging. Ein Verlag, der mit seinen Büchern eben nicht nur Standards fürs Studium setzte, sondern auch das aktuelle Wissen in wichtigen Wissenschaftsfeldern bündelte. Und das verband sich immer mit namhaften Autoren. Wenn die Edition am Gutenbergplatz jetzt Autoren wie Ernst Grimsehl oder Friedrich Kohlrausch mit eigenen Biografien würdigt, erinnert sie auch daran, wie sehr Persönlichkeiten das Verlagsprogramm bei Teubner prägten – auch wie viel Fleiß und Ernsthaftigkeit in den immerfort überarbeiteten Titeln steckte.
So nebenbei wird mit Kohlrausch natürlich auch eine markante Forscherpersönlichkeit gewürdigt, einer, der seine Bestätigung in präzis protokollierten Experimentalreihen sah und sich sogar noch im hohen Alter an den Protokollen seiner frühen Forschungszeit erfreuen konnte. Freilich fällt auf, dass sich die Autoren vor allem auf Quellen rund um den Teubner Verlag berufen. So wird zwar ein Professor sichtbar, „wie er im Buche steht“. Aber diese Quellen erzählen natürlich wenig über den Menschen jenseits seiner universitären und wissenschaftlichen Arbeit. Wo und wie lebte er, fragt man sich beim Lesen. Dass er sich über allerlei Berufungen nach Zürich, Würzburg, Straßburg freute – man versteht es. Aber wie intensiv (und persönlich) waren eigentlich seine Beziehungen zu den Männern, denen man im Text begegnet: Hermann von Helmholtz, Emil Warburg, Wilhelm Eduard Weber? Gibt es dazu nicht mehr? Keinen Briefwechsel? Keine Erinnerungen? Dampft sich so ein Wissenschaftlerleben am Ende tatsächlich in eine trockene Biografie der akademischen Karriere zusammen? Oder war der Mann tatsächlich so ganz und gar nur Akademiker, dass für ein Leben jenseits von Schreibtisch und Experimentierkabinett kein Raum mehr blieb?
Fast das Persönlichste ist, wenn man erfährt, dass er sich über die elektromagnetischen Störfelder der Straßenbahn in Berlin-Charlottenburg ärgerte und sich sechs Jahre lang mit der Berliner Straßenbahngesellschaft stritt, bis die das Problem endlich technisch in den Griff bekam. Man ist ja neugierig als moderner Zeitgenosse – und hellhörig, wenn das Leben eines solchen Mannes augenscheinlich nur aus Arbeit bestand. Das ließ zwar das berühmte Physik-Buch entstehen. Aber man vermisst doch den lebendigen Menschen dahinter, der ab und an auch aufschaut und ein wenig von seiner Persönlichkeit durchblicken lässt. Was – wie schon Kohlrauschs Zeitgenosse Theodor Fonante wusste – vor allem durch das Anekdotische passiert. Vielleicht steckt das ja noch irgendwo in einem Archiv, ordentlich registriert. Nur hat sich bislang keiner für den Kohlrausch hinter dem „Kohlrausch“ interessiert. Den es gegeben haben muss.
Sein Großvater, der Pädagoge und Schuldirektor Friedrich Kohlrausch, hatte sogar noch „Erinnerungen aus meinem Leben“ geschrieben und 1863 veröffentlicht. Sein Enkel hat das Buch garantiert gelesen. Nur selbst scheint er seine Erinnerungen nicht aufgeschrieben zu haben. Und wenn man nach Literatur sucht, findet man ihn zumindest als Briefeschreiber in dem 2002 erschienenen Band „Briefliche Begegnungen: Korrespondenzen von Wilhelm Ostwald, Friedrich Kohlrausch und Hans Landolt; unter Einbeziehung von Zuschriften an Svante Arrhenius sowie von und an Karl Seubert“. Zumindest das: ein bisschen Korrespondenz mit wissenschaftlichen Kollegen.
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