Natürlich kommt Joby Warrick am 23. März auch zur Buchmesse nach Leipzig, um sein jetzt auch auf deutsch erschienenes Buch „Schwarze Flaggen“ vorzustellen, für das er 2016 den Pulitzer-Preis im Genre Sachbuch bekam. Ein Buch, das man wie einen Thriller lesen kann. Aber man liest es besser mit nüchternem Blick. Nicht das Brisante ist das Beste an dem Buch, sondern der kluge Blick des journalistischen Aufräumers.

Denn Warrick ist Journalist, einer der Besten seines Faches, seit 1996 bei der „Washington Post“, nach wie vor einem der großen Schlachtschiffe des Journalismus in Amerika. Man hat – so über den großen Teich betrachtet – nur eine schwache Ahnung, was für ein Schlachtschiff das ist, was hier als Journalismus passiert. Nach Europa schwappt die Arbeit der dortigen Journalisten meist nur indirekt – wenn hiesige Medien die Stoffe aufgreifen. Oder eben in solchen Büchern, die aber auch nicht allein entstehen. Denn auch wenn sich Warrick seit Jahren intensiv mit dem Nahen Osten beschäftigt hat, ist das Buch kein Extrakt seiner Artikel.

Im Gegenteil. Hier zeigt einer, der tief in der Materie steckt, wie man in einer völlig chaotisch gewordenen Geschichte, in der kaum ein Zuschauer, geschweige denn Moderator noch irgendeine sinnvolle Erzählungslinie erkennt, trotzdem einen roten Faden findet.

Leute wie Warrick machen deutlich, was Journalisten von Journalisten unterscheidet, die täglichen Windmacher von den Suchern, die Dampfplauderer von denen, die wie Detektive an die sperrigsten Themen gehen, um ein paar wichtige Frage zu klären: Wer hat angefangen? Und warum ging das so weiter?

Darauf findet man in den täglichen Nachrichtenschnipseln keine Antwort. Erst recht nicht, wenn die Tragödie von heute die von gestern überblendet, wenn Mord und Terror die Bildschirme beherrschen und Politiker von einem panischen Statement zum nächsten hetzen. Da vergisst man beinah, dass der Name IS oder ISIS noch gar nicht so lange die Hitparade der Schrecken anführt. Eigentlich erst seit 2011. Vorher hatte Al Quaida allein diese Position inne, als deren Ableger im Irak seit 2003 der IS galt, den damals auch die Amerikaner noch nicht erst nahmen. Das kam erst. Und es kam nicht als Naturereignis.

Hinter dem modernen Terror stecken Persönlichkeiten. In diesem Fall war es der Jordanier Abu Mus’ab az-Zarqawi. Auf dessen Spuren geht Warrick in seinem Buch, denn in seiner Arbeit ist er immer wieder über den Namen gestolpert. Aber woher kam er? Und warum wurde er zur prägenden Gestalt des islamistischen Terrors im Irak?

Logisch, dass Warrick im Irak-Krieg landet, eigentlich schon in den Tagen davor, als alle Welt die Bush-Administration davor warnte, diesen Krieg zu entfesseln. Warrick hat mit ehemaligen Regierungsmitarbeitern, Armeeangehörigen, Geheimdienstoffizieren gesprochen. Wer sich damals mit dem Irak beschäftigte, wusste, was für eine Büchse der Pandora Bush da öffnete mit seinem auf Lügen begründeten Krieg. Und er öffnete die Büchse und schuf etwas, worauf ein Osama bin Laden wohl spekuliert hatte, als er das Attentat auf die Türme des World Trade Centers organisieren ließ: Amerika schuf mit der Liquidierung Saddam Husseins nicht nur ein Machtvakuum, sondern ein neues Schlachtfeld für den organisierten Terrorismus.

Und der Mann, der die Chance wahrnahm, war Abu Mus’ab az-Zarqawi, der sehr wohl begriff, dass die USA dem islamischen Terrornetzwerk genau das präsentierten, was Bin Laden sich gewünscht hatte: eine direkte Konfrontation mit der Supermacht auf irakischem Boden. Den Krieg gegen Saddams Armee hatte Bush binnen weniger Wochen gewonnen. Doch der eigentlich blutige Krieg begann erst, als Abu Mus’ab az-Zarqawi aus einem abgelegenen Nest und Ausbildungslager an der Grenze Irans herabsteigen konnte in die Großstädte und mit Bombenattentaten dafür sorgte, dass die Differenzen der irakischen Gesellschaft zum Pulverfass für einen Bürgerkrieg wurden.

Stück für Stück erzählt Warrick die Geschichte dieses jordanischen (Klein-)Kriminellen, der sich augenscheinlich im Gefängnis radikalisierte und später Al Quaida anschloss. Er kam nicht aus dem Nichts. Solche Männer kommen wohl niemals aus dem Nichts. Sie haben eine Vorgeschichte, meist eine mit einer Latte von Straftaten, die sie immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt bringen. Und wenn dann noch eine radikale Ideologie dazukommt, werden solche Männer zu Terroristen und halten den Terror für ein legitimes Mittel, politische Ziele durchzusetzen.

Was ihnen umso leichter fällt, je mehr Fehler der selbstgewählte Gegner begeht. Und die Fehler, die die USA im Irak gemacht haben, hörten ja mit dem von Bush verkündeten Sieg nicht auf. Als Zarqawi begann, seine Bomben einzusetzen, erschütterte er ein Land, in dem die uralten Konflikte gerade erst wieder in voller Wucht ausbrachen. Es dauerte lange, bis die Bush-Administration begriff, dass sie hier handeln musste. Joby Warrick sprach mit den Offizieren vor Ort, die am Ende die volle logistische Unterstützung einer hochgerüsteten Militärmacht brauchten, um den Terror, mit dem Zarqawi weite Teile des Iraks überzog, kleinzukriegen, sein Netzwerk zu zerstören und den mittlerweile auch durch einen Auftritt von Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat berühmt gewordenen Abu Mus’ab az-Zarqawi zu töten.

Wer – nachdem er auf dem Titel das Kürzel IS gelesen hat – mit den Füßen scharrt, weil er hofft, Warrick kommt ganz schnell zu den Bildern und Ereignissen, die die Welt seit 2013/2014 in Atem halten, der staunt. Denn die ersten beiden Teile des Buches widmet Joby Warrick ganz und gar Abu Mus’ab az-Zarqawi, seiner Genese vom Kriminellen zum Terroristen und der Entstehung und den zeitweise erschreckenden Erfolgen seines Terrornetzwerkes im Irak. Da probierte der Terrorstratege schon alles aus, womit später der IS seine Propaganda bestreiten würde. Und als Zarqawi dann von den Amerikanern erledigt wurde, schien diese Geschichte eigentlich vorbei. 2006 war das.

Da ahnte niemand, dass es eine Fortsetzung geben würde. Und auch nicht, dass ausgerechnet der syrische Machthaber Bascher al-Assad dafür sorgen würde, dass der IS zu einer Stärke auftrumpfen könnte, die er zuvor nie gehabt hatte. 2011 war das, als sich der syrische Präsident entschloss, den Demonstrationen auf den Straßen des Landes nicht mit Reformen zu begegnen, wie es im Nachbarstaat der jordanische König tat, sondern mit Gewalt gegen die Bürger vorzugehen. Eine Gewalt, die aus den Protesten einen Aufstand machten und die mit Assads Militäreinsatz zum Bürgerkrieg wurden. Warrick widmet viele Passagen dem jungen jordanischen König Abdullah II., der augenscheinlich einer der klügsten und verantwortungsvollsten Herrscher in der Region ist und der nicht nur Assad warnte vor dem, was der mit seiner Haltung anrichten würde. Was im Irak passiert war, hatte Abdullah ja selbst quasi aus nächster Nähe sehen können. Und er wusste auch, dass die Terroristen mit ihrer extremen Auslegung des Islam vor allem alle säkularen Staaten in Nahost im Visier hatten. Sie träumten von der Errichtung eine Gottesstaates. Und sie gingen dafür über Leichen. Und die Schaffung eines riesigen, von niemandem kontrollierbaren Raumes im Bürgerkrieg war wie eine Einladung, die der IS dankend annahm. Auf einmal war er wieder da, mittlerweile angeführt von einem Mann namens Abu Bakr al-Bagdhadi, der die Rezepte Zakawis noch viel radikaler anwendete als sein Vorbild. Bis hin zur mediengestützten Marketingoffensive, die den IS zur neuen Schlachttruppe des Dschihad erklärte und mit blutigen Videos Freiwillige aus über 50 Staaten der Welt nach Syrien lockte.

Logisch, dass dem vor allem junge Männer folgten, die sich in ihren Heimatländern verachtet, ungebunden, nicht respektiert fühlten, die oft schon kriminelle Karrieren hinter sich hatten und als Kämpfer im IS endlich so etwas fanden wie eine anerkannte Rolle in ihrem Leben. Da deutete sich schon die dritte Etappe in der Geschichte des IS an, auf die Joby Warrick im Nachwort zu seinem Buch ausführlich zu sprechen kommt. Denn dass viele dieser Kämpfer aus Europas Großstädten kamen, sollte ja blutige Folgen haben – bis hin zum Terroranschlag im Herbst 2015 in Paris.

Man lernt mit Warrick eine Menge darüber, warum nicht nur die Gesellschaften der arabischen Welt so aus dem Lot geraten sind und warum Warlords wie Zarkawi und Baghdadi derart viel Zulauf bekommen, warum ihre blutigen Videoinszenierungen funktionieren und warum Präsidenten gut tun, ihre Geheimdienste professionell auszustatten und ihnen auch gut zuzuhören.

Wenn dann einer wie Joby Warrick losgeht und die einsehbaren Aktenbestände liest und mit über 200 Leuten spricht, die mit seiner Geschichte zu tun hatten und oft genug mitten im Brennpunkt der Ereignisse agierten, stellt sich dann oft heraus, dass die wichtigsten Teile der Geschichte zumindest auf Ebene der Regierungen und Geheimdienste immer bekannt waren. Zum Verzweifeln bekannt, wie all die Regierungsmitarbeiter erfuhren, als die Bush-Administration alles dafür tat, sich eine Kriegsbegründung gegen den Irak zusammenzuschustern.

Was da in Nahost geschah, war absehbar. Und auch die Hauptakteure waren bekannt. Nur für den täglichen Zuschauer von Nachrichtensendungen und Leser von Zeitungen erschien dieser ewige Krieg im Norden Iraks und im Osten von Syrien wie eine Abfolge von völlig ungeordneten grausamen Vorfällen, der IS erschien wie ein finsterer Geist aus der Wüste, von dem keiner wirklich sagen konnte, woher der eigentlich kam. Wer das Buch gelesen hat, weiß es dann. Mit sicherer Hand gelingt es Warrick, der ganzen scheinbar so zerstückelten Geschichte eine Struktur zu geben und damit auch den Terror des IS aus seinem mythischen Nebel zur holen.

Man erfährt, in welcher Zwickmühle die Amerikaner steckten und warum sie bei Bagdhadi nicht einfach eingreifen konnten wie im Fall Zarkawi. Und man erfährt so Einiges über das Innenbild der arabischen Welt und des Islam. Die ganze Geschichte wird nicht einfacher, aber sie wird begreifbar. Gerade der letzte Teil, in dem Syrien zum Schlachtfeld der schwarzgekleideten Armeen wurde, auch wenn einem irgendetwas fehlt. Die Auflösung natürlich. Die es ja noch nicht gibt. Noch tobt der Bürgerkrieg – in Syrien genauso wie im Irak. Noch ist auch der IS mit seinem Versuch, ein neues Kalifat zu begründen, nicht verschwunden.

Aber auf einmal hat man eine Geschichte mit Hand und Fuß. Das, was auch Journalisten eher selten gelingt, weil sie selten die Chance bekommen, so wie Joby Warrick ein Thema gründlich aufzuarbeiten und die Verbindungsfäden zwischen lauter scheinbar chaotischen Ereignissen zu suchen und dazu eine unabhängige, rationale Erzähl-Position zu finden. Das ist Warrick gelungen. Auch wenn das Buch schon zu einer Zeit erscheint, in der Vieles noch offen ist. Aber reagieren kann eine Gesellschaft nur, wenn sie die Ursachen kennt für das, was da über ihre Bildschirme flimmert. Erst dann kann man die blanken Emotionen überwinden und die richtige Gegenwehr ergreifen.

Ein Buch, das seinen Pulitzer-Preis verdient hat. Jetzt wissen wir besser, warum das alles geschah. Jetzt könnten wir an Lösungen arbeiten. Ein gut erzähltes Angebot für Leute, die gern Lösungen suchen, statt vor Angst unter den Tisch zu kriechen.

Joby Warrick Schwarze Flaggen, Theiss Verlag/WBG, Darmstadt 2017, 22,95 Euro.

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Ich bin mal gespannt, was der aktuelle First-Schwachkopf für Folgen hinterlässt. Das Buch dürfte etwas dicker ausfallen. Oder extrem dünn, wer weiß.

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