Dieses Büchlein ist schon 19 Jahre alt, das Streitgespräch, dem es sich widmet, jährt sich zur diesjährigen Buchmesse zum 20. Mal. Doch das Thema, um das es kreist, ist so aktuell wie an jenem 23. März 1997, als der Verleger Joachim Jahns im academixer-Keller die beiden Schriftsteller Gerhard Zwerenz und Hermann Kant zum Zwiegespräch bringen konnte. Man wagt kaum noch Streitgespräch zu schreiben, weil selbst die deutsche Streitkultur sich in Luft aufgelöst hat.
Das klingt so lange her: 1997. 20 Jahre. Das ist eine komplette Generation. Die möglicherweise noch nie die Namen dieser beiden Autoren gehört hat, noch nie etwas von ihnen gelesen hat und der das deutsch-deutsche Schisma so fremd sein wird wie das Königreich Westfalen.
Aber worum ging es bei diesem Gespräch, das – nach heutigen Maßstäben – kein Streit war? Und da beginnt die Geschichte. Denn genau über das Thema unterhielten sich diese beiden bekennenden linken Intellektuellen. Der eine – Zwerenz – hatte einst Philosophie bei Ernst Bloch in Leipzig studiert, war aber 1956 in die Verfolgungsmaschinerie der SED geraten, so wie Erich Loest. Nur dass es Zwerenz gelang, die DDR zu verlassen. So blieb ihm Bautzen erspart. Hermann Kant hingegen machte Karriere – wurde Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und zuletzt sogar Mitglied des Zentralkomitees der SED – und öffentlich machte er Front gegen Zwerenz.
Was dann dazu führte, dass sich die beiden erfolgreichen Schriftsteller drei Jahrzehnte lang scheinbar unversöhnlich gegenüberstanden, scheinbar exemplarische Vertreter der deutsch-deutschen Teilung.
Aber gerade Gerhard Zwerenz steht für ein ganz anderes Schisma. Denn er verstand sich nie als Abtrünnigen, Überläufer oder gar Trompeter der westdeutschen Hardliner. Auch im Westen blieb er ein Linker, fand Anschluss an die linken Bewegungen der 1960er Jahre und wurde zu einem der wichtigsten Vertreter linker Debatten im Westen.
Das Thema streifen die Beiden nur kurz. Denn Kant hat lange gebraucht, zu begreifen, was die Funktionäre der SED eigentlich angerichtet hatten, als sie in den 1950er Jahren das Kesseltreiben auf alle kritischen Geister der ostdeutschen Intelligenz begannen und einige der besten Köpfe zur Flucht in den Westen trieben. Mit dem Ergebnis, dass Linksintellektuelle eine bis heute prägende Diskussion entfachten, die das geistige Leben im Westen mit 68 veränderte. Zeitweise, so Zwerenz, dominierte sogar die Diskussion dieser linken Denker. Sie veränderte die Bundesrepublik – und steht deshalb heute im Mittelpunkt der konservativen Angriffe, die meist unter der Klammer „die Altachtundsechziger“ geführt werden.
Diese alten Achtundsechziger können sich kaum noch wehren, sie sind ja zumeist schon tot. Zwerenz starb 2015. Hochbetagt mit 90. Und in dem Gespräch 1997 im academixer-Keller betonte er nicht umsonst, wie wichtig die Kriegserfahrung für seine Generation war. Er hatte vier Jahre Lagerhaft in der Sowjetunion hinter sich, Kant hatte ebenso lange in einem polnischen Lager gesessen. Als 1949 zwei neue Staaten entstanden, hatten viele linke Intellektuelle so eine Erfahrung hinter sich und mischten sich auch deshalb vehement in die öffentlichen Diskussionen ein, weil die alten Marschierer und Knobelbecherträger klammheimlich wieder die Leitungsfunktionen übernahmen. Es war dieser Nazismus im Tarnmantel, der in den 1960er Jahren tausende Studenten auf die Straße trieb.
Das haben die Hardliner den Achtundsechzigern bis heute nicht vergessen. Und die Sorge von Zwerenz und Kant wird überdeutlich, dass die Jahre 1989/1990 ein Bruch waren, der vor allem dem unabhängigen linken Denken massiv geschadet hat. Nicht nur, weil sich die Regierung eines Landes komplett desavouiert hatte, das immer verheißen hatte, es wäre ein anderes, menschliches Deutschland. 1997 steckte Kant augenscheinlich noch mittendrin in der Aufarbeitung seiner eigenen Rolle in der DDR, dem Zwiespalt, den er gelebt hatte mit seiner Anpassung als Funktionsträger einerseits und andererseits doch eigentlich streitbarer Intellektueller.
Nur wurde diese Mitläuferschaft ab 1990 auch dazu instrumentalisiert, die ostdeutschen Intellektuellen vom gesamtdeutschen Diskurs auszuschließen. Schon 1997 war auch für Zwerenz spürbar, dass mit diesem Knockout von 1989 auch die linken Intellektuellen im Westen aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden waren. Auf einmal (das sagt freilich keiner von beiden) wurden sie nicht mehr gebraucht als bissige Streiter gegen das Funktionärsregime im Osten. Das Ergebnis war aber schon damals deutlich: Die öffentlicheren Debatten verflachten, wurden – so schätzte es Zwerenz ein – nur noch von konservativen Teilnehmern dominiert, die damit eben auch bestimmten, welche Themen die gesellschaftliche Debatte bestimmten. Und welche nicht.
Zwerenz benutzt ein Wort, das seither regelrecht aus der Mode gekommen zu sein scheint: Pluralismus.
Und jetzt mal ein ungekürztes Zitat aus diesem Dialog: „Das, was wir haben, was verteidigenswert ist, ist dieses Grundgesetz, und vor allen Dingen darin der als unabdingbar bezeichnete Pluralismus. Wenn wir diesen Pluralismus nicht mehr haben, wenn sich also aufs Neue irgendetwas in Richtung autoritär – von diktatorisch will ich noch gar nicht sprechen – entwickelt, dann sind wir endgültig wieder dort, daß es ein Deutschland gibt wie gehabt, nämlich ohne Linke. Und dies möchten wir nicht noch einmal erleben; darum lohnt es sich, politisch etwas zu tun.“
Wie berechtigt die Angst von Zwerenz war, sehen wir heute. Damals für Zwerenz auch spürbar, denn er saß – über die offene Liste gewählt – vier Jahre lang für die PDS im Bundestag und erlebte, wie diese kleine Gruppe regelrecht geschnitten wurde. Es war im Grunde genauso wie 30 Jahre vorher in den Liedern des Josef Degenhardt: Man spielt nicht mit den Schmuddelkindern.
Aber was passiert mit einer Gesellschaft, die quasi ihre ganze linke Hälfte einfach ignoriert, ausgrenzt, behandelt, als sei sie unzumutbar? Von den Extremismus-Ausfällen in Sachsen müssen wir gar nicht reden. Politik verwandelt sich zusehends in etwas, mit dem immer mehr Menschen nichts mehr zu tun haben. Sie finden sich darin nicht mehr wieder, weil über Probleme debattiert wird, die nicht die ihren sind, und Interessengruppen das komplette Debattenfeld bestimmen, denen sie sichtlich egal sind.
Wobei dieses Gespräch im academixer-Keller auch zeigte, was eigentlich ein Streitgespräch sein kann, wenn beide Gesprächspartner versuchen, auf die Einwürfe und Argumente des Anderen einzugehen, versuchen, ihre Position zu beschreiben und eben nicht Recht zu behalten, wie es in den heutigen Kloppereien in deutschen Talkshows üblich ist. Zwerenz und Kant fanden sogar Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten, die sie vorher gar nicht erwartet hatten. Aber sie hatten auch das Format, gegenzuhalten, wenn ihnen die Thesen des Anderen doch etwas zu überzogen waren. Wie die – auch damals medial gern behauptete – These, „die Intellektuellen haben jeweils versagt“, wie es Zwerenz formuliert.
Was Kant nicht so stehen lassen mag. Denn auch vor 1933 gab es genug Beispiele – gern als links verschrieener – Intellektueller, die durchaus ihr Teil taten, die absehbare Katastrophe zu verhindern. Und selbst Kant muss zugeben, dass kritische Intellektuelle in der DDR es sehr schnell mit den staatlichen Aufpassern zu tun bekamen. Sie waren hübsche Feigenblättchen für eine Politik, die von einem tiefen Misstrauen gegen Intellektuelle regelrecht durchwachsen war. Einen Diskurs auf Augenhöhe gab es nie. Auch der allmächtige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes spürte immer den Atem der Wächter in seinem Nacken.
Und nun? 1997? Sieben Jahre nach der großen Wende? Die Freiheit zum freien, unabhängigen Denken, so Kant, haben wenige. Denn dazu gehöre nun einmal (er formuliert es nur anders) finanzielle Unabhängigkeit. Der „drin sitzt in der Tunke“, der würde sich hüten, die Klappe aufzumachen.
Womit dann Zwerenz eigentlich animiert wird, seine These abzumildern. Das Misstrauen gegen (linke) Intellektuelle sei augenscheinlich gesamtdeutsch. Und es hätte wieder die Hoheit über die gesellschaftlichen Debatten übernommen. Zwerenz: „Und hier sehe ich die eigentlichen Gefahren, und ich sehe sie nicht nur im Versagen bei den Autoren, sondern ich sehe eine Mediengesellschaft heranwachsen, in der die wirkliche Opposition – von radikaler Opposition will ich schon gar nicht mehr sprechen – in der die wirkliche Opposition nur noch wahrgenommen wird von einzelnen Hampelmännern, die als Opposition vorgeführt werden, und in Wirklichkeit findet dort immer weniger Opposition statt. Und das ist ein Abbau von literarischer, politischer, moralischer Freiheit.“
Die beiden haben sich am Ende ganz gut vertragen. Aber wie das so ist – auch dieses Gespräch, bei dem aus dem geistigen Streit vor allem ein Nachdenken und Abwägen wurde, hatte kaum Resonanz. Nur das Leipziger Studentenradio habe überhaupt von der Geschichte berichtet, stellt Jahns fest. Was ist dann aus den Aufzeichnungen des MDR geworden, der zumindest im ersten Teil der Veranstaltung mitgedreht hat? Wurde das einfach nicht verarbeitet, weil andere Berühmtheiten auf der Buchmesse wieder wichtiger und lukrativer waren und dieses Streitgespräch nicht deftig genug?
Das ist gut möglich. Man ahnt zumindest, wie sehr die deutschen Debatten seit 1990 verarmt sind, weil das irgendwie Linkssein oder Intellektuellsein geradezu verpönt wurde. Was auch dazu führte, dass die Leute, die Debatten und Talkshows dominieren, durch geistige Unbeweglichkeit geradezu auffallen. Lauter Holzhammertypen, die nie gelernt haben, dass Streit-Gespräche auch dazu da sein könnten, etwas zu lernen voneinander. Oder miteinander. Man mag gar nicht daran erinnern, wie fruchtbar Streitgespräche sein können, wenn zwei wirklich rührige Geister aufeinandertreffen und die Gelegenheit nutzen, miteinander ein bisschen schlauer zu werden über Dinge, die meistens nicht in 30-Sekunden-Nachrichten-Schnipsel passen.
Hermann Kant, Gerhard Zwerenz „Unendliche Wende. Ein Streitgespräch“, Dingsda Verlag, Querfurt 1998, 12,90 Euro, als Doppel-CD 19,95 Euro
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