Die Zeit um 1990 war nicht nur eine Zeitenwende. Sie war auch ein Moment, in dem noch einmal aller Frust herausgelassen wurde über den abgewickelten Staat und seine kommunikationsfaulen Funktionäre. Denn gescheitert war die DDR ja auch an der Unfähigkeit ihrer Funktionäre zum Dialog und zur Transparenz. Da gab’s dann auch manche Skandalgeschichte, die mehr aus Gerüchten bestand als aus Fakten. Über Arzneimitteltests in der DDR zum Beispiel.

Denn auch die Journalisten, die damals darüber schrieben, hatten wenig bis keine Fakten. Nur Vermutungen, einige Belege, kaum kompetente Ansprechpartner. Nicht einmal die alten Funktionäre aus dem medizinischen Apparat der DDR konnten helfen. Sie hatten es nie gelernt. Man kommt auf seltsame Gedanken, wenn man jetzt so eine eigentlich nüchterne Studie von vier jüngeren Autoren liest, die einfach mal herausbekommen wollten, ob etwas dran ist an all den seit 26 Jahren kolportierten Geschichten über Medikamententests an unwissenden DDR-Bürgern, regelrechten Menschenversuchen mit ungeprüften Medikamenten westlicher Pharmakonzerne. 2012 ritt auch der MDR diese Skandalwelle, als dort die Sendung „Tests und Tote – Pharmaversuche an DDR-Bürgern“ ausgestrahlt wurde. 1991 erzählte der „Spiegel“ gar von „Russisch Roulette“ und blieb auch 2013 am Thema mit der Geschichte „West-Pharmafirmen betrieben Menschenversuche in der DDR“.

Die DDR ist für manche finstere Geschichte gut. Zuweilen bekommt man das Gefühl, eine Menge Leute sind froh, dass sie mit diesem untergegangenen Staat einen Müllkübel gefunden haben, in den sie alle Schandtaten hineinvermuten können. Das Böse war immer im Osten.

Der „Spiegel“ spricht von 600 Medikamentenstudien in der DDR. Andere Autoren benennen eine Zahl von 220 bzw. 320 klinischen Tests zwischen 1983 und 1990, dem Zeitraum, den sich die vier Autoren herausgesucht haben, um einmal in den noch verfügbaren Aktenbeständen nachzuspüren, wie solche Tests in der DDR tatsächlich abliefen. Ob hier tatsächlich finstere Pharmakonzerne aus dem Westen die Gelegenheit nutzten, ihre gefährlichsten Medikamente an arglosen DDR-Bürgern auszuprobieren – und ein schrecklicher Überwachungsstaat seine Bürger für solche Experimente bereitwillig verkaufte.

Um wirklich alle klinischen Tests in dieser Zeit zu untersuchen, würde es einen ganzen Stab von Forschern brauchen. Vieles würden sie nicht (mehr) aufarbeiten können, weil es dazu keine Akten mehr gibt oder weil diese Akten wohlverwahrt in den Archiven der großen Konzerne liegen.

Die vier Autoren konnten sich nur beispielhaft vier Testreihen heraussuchen, aus insgesamt 163 Arzneimitteltests, die nachweislich tatsächlich stattfanden in der Zeit. 77 weitere waren geplant – aber es lässt sich nicht nachweisen, ob sie tatsächlich zur Ausführung kamen. Weitere 44 Testreihen bezogen sich auf „Arzneimitteln gleichgestellte Stoffe“, 26 auf medizinische Erzeugnisse.

Und danach gibt’s trockenen Stoff. Richtig trockenen Stoff, auch wenn die Medikamente, die dabei getestet wurden, zu ihrer Zeit auch in den Medien Furore machten. Nicht unbedingt Skandal. Das beginnt mit dem Wachstumshormonpräparat Saizen, das in den 1980er Jahren ein Präparat ablöste, das zuvor aus der Hypophyse Verstorbener gewonnen wurde. Damals war man auch in der DDR alarmiert, als man erste Meldungen hörte von Übertragungen der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Man hatte folglich hohes Interesse daran, die neuen, synthetisch erzeugten Wachstumshormonpräparate aus westlicher Produktion zu testen. Schon in diesem Kapitel wird deutlich, wie die Strukturen in der DDR eigentlich waren. Noch 15 Jahre vorher konnten Kliniken und Ärzte in der DDR solche Testreihen mit westlichen Pharmaunternehmen praktisch in Eigenregie organisieren. Das hatte sich im Lauf der 1970er Jahre deutlich geändert. Die Prüfung und Zulassung solcher Testreihen war nun direkt einer Abteilung im Gesundheitsministerium zugeordnet. Man hatte die Sache also im üblichen Muster zentralisiert und damit direkt staatlicher Kontrolle unterworfen.

Aber konnte das Ministerium schalten und walten, wie es wollte?

Nicht wirklich, auch wenn die DDR in den 1980er Jahren bestrebt war, auch mit klinischen Tests zusätzliche Valuta einzunehmen und sich daher als Partner für internationale Testreihen anzubieten. Und das in einer Zeit, in der klinische Tests im Westen zusehends in die öffentliche Kritik gerieten. Vor allem über ethische Standards wurde diskutiert. Und die Bedingungen für die Tests neuer Medikamente wurden immer weiter verschärft. Die schärfsten Regeln entwickelten übrigens die USA. Wer künftig ein Medikament auch in den USA verkaufen wollte, musste deren hohe Ansprüche an die Qualität der Tests erfüllen.

Und zumindest die vier Testreihen, die in diesem Buch untersucht werden, waren solche internationalen Tests, bei denen auch damals schon die Regel war, dass stets unterschiedliche Probandengruppen in mehreren Ländern einbezogen wurden, um auch unabhängige, aber auch vergleichbare Ergebnisse zu bekommen. Was auch das Tricksen und Schummeln erschwerte.

Wobei die DDR eben nicht nur in einer skandalträchtigen komfortablen Lage war, sondern auch unter Zwängen stand: Wollte sie dauerhaft ein ernst genommener Partner für solche Tests sein, konnte sie sich Mauschelei und Trickserei nicht erlauben. Sie musste sich an die geltenden Standards halten, auch wenn die Funktionäre versuchten, dabei die eigene Kontrolle – auch über Informationen – nicht zu verlieren. Bei den Saizen-Tests etwa kam ein Informationsbogen zum Einsatz, der um einige brisante Stellen gegenüber dem westdeutschen Original gekürzt war. Zum Beispiel um den Hinweis auf die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Verwendung der bisherigen Wachstumspräparate, die ja auch in der DDR zur Anwendung gekommen waren. Oder um den Hinweis, dass der Test gleichzeitig in mehreren Ländern stattfand.

Man sieht die Muster der üblichen Kontrolle und Bevormundung. Und man lernt auch etwas über die Rolle von Ärzten in der DDR, die – als Staatsangestellte – auch unhinterfragte Respektspersonen waren. Als solche hafteten sie nicht persönlich für mögliche negative Folgen ihrer Arbeit, sondern der Staat.

Aber haben sie das auch ausgenutzt? Bei den vier untersuchten Testreihen jedenfalls fanden die Autoren dafür keine Anhaltspunkte. Sie diskutieren das Thema mehrfach im Buch, aber viel deutlicher wird, dass vor allem wirtschaftliche Zwänge die Teilnahme der DDR an diesen Tests bedingten. Fieberhaft versuchte man, möglichst günstig an westliche Medikamente zu kommen. Mit den Testreihen konnten viele Patienten praktisch kostenlos mit den hochwertigen Medikamenten aus dem Westen behandelt werden.

Skandale wollte man gar nicht erst riskieren. Auch darauf gehen die Autoren ein. Deswegen bewarb sich die DDR vor allem um Studien bei Medikamenten, die in ihrer ersten Stufe im Westen schon getestet waren und über deren Wirkung man sich über Fachmedien schon informieren konnte. Beiläufig erfährt der Leser also auch, wie tief gestaffelt auch in den 1980er Jahren schon die Anforderungen an Medikamententests im Westen waren. Dazu kam dann auch die Normsetzung im ethischen Bereich durch den Weltärztekongress 1976 in Helsinki, die Deklaration von Helsinki, die die DDR versuchte, auch per Gesetz auf ihre Arzneimittelforschung zu übertragen und zur Norm zu machen.

Das sei, so attestieren die vier Autoren, wohl auch weitgehend so umgesetzt worden.

Erst recht bei der Testreihe zu Mifepriston, dem Medikament, dem Abtreibungsgegner im Westen schon früh den skandalträchtigen Namen „Abtreibungspille“ gegeben hatten. Doch in diesem Fall wollte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) selbst verlässliche Tests über dieses Medikament, das vor allem eine möglichst ungefährliche Abtreibung in den frühen Schwangerschaftswochen ermöglicht. Es gibt zwar aus gutem Grund keine verlässlichen Zahlen. Aber damals ging die WHO jährlich von 70.000 bis 130.000 Todesfällen allein durch missglückte Abtreibungsversuche aus. Die Abtreibungsgegner versuchten, die Pille zwar trotz erfolgreicher Testreihen doch noch zu verhindern. Aber seit 1999 ist das Mittel auch in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen.

Was einen daran erinnert, dass die DDR ja nicht nur als „Testplatz“ in Konkurrenz zu westlichen Ländern und ihren deutlich besser ausgerüsteten Kliniken stand, sondern selbst versuchte, bei der Entwicklung moderner Medikamente Schritt zu halten mit dem Westen. Da bewarb man sich dann beim Wirkstoff Timolol in der Augenheilkunde auch schon mal um mehrere Testreihen verschiedener westlicher Anbieter, nur um dann selbst das Medikament nachzuentwickeln. Natürlich, um auch hier Geld zu sparen. Immer wieder wird deutlich, wie stark wirtschaftliche Motive bei diesen Bewerbungen eine Rolle spielten, aber auch das Drängen der DDR-Ärzte wird deutlich, auf diese Weise an Medikamente zu kommen, die es im Land einfach nicht gab. So entsteht natürlich eine diffizile Gemengelage, erst recht, wenn sie auf die speziellen Interessen der großen Pharma-Unternehmen trifft, die ihre Medikamente natürlich so schnell wie möglich zur Erlaubnisreife auf westlichen Märkten bringen wollten und wollen. Es hat sich ja am Verfahren nichts geändert. Nur die DDR ist weg. Dieses kleine Land, in dessen Gesundheitswesen sich in den 1980er Jahren schon alle wirtschaftlichen Probleme spiegelten. Es wurde improvisiert und nach Lösungen gesucht, die irgendwie bezahlbar waren. Oder auch gar nichts kosteten – wie die Medikamententests für westliche Unternehmen.

Die bei der Entwicklung neuer Medikamente oft ganze Generationen voraus waren. Wie im Fall von Zaditen und Cromolyn in der Asthmatherapie. Auch hier hatte ja die DDR bekanntlich durch die zunehmende Umweltverschmutzung ein Problem. Und die Regierung bekam durch wütende Eltern regelrecht Druck, eine Lösung für die Kinder zu finden, die unter Asthma litten. Wobei man den Nebensatz nicht überlesen darf, dass die Zahl der Asthmafälle in der DDR prozentual deutlich niedriger war als im Westen. Aber das Gesundheitsministerium der DDR musste reagieren und auch für diese Wirkstoffe starteten entsprechende Testreihen – in diesem Fall mit Kindern. Aber eben auch mit Medikamenten, die vorher schon die grundlegenden Tests durchlaufen hatten. Wenn die DDR einstieg in die Tests, dann ging es letztlich schon um die Marktreife der Medikamente.

Ob dabei Regeln missachtet wurden, lässt sich aus den großen Aktenbeständen (wenn sie überhaupt noch vorhanden sind) nicht herauslesen, konstatieren die vier Buchsautoren am Schluss. Dazu müsste man die einzelnen Patientenakten durchforsten, was erst recht eine wissenschaftliche Mammutaufgabe wäre. Und auch das unter der Bedingung, dass diese überhaupt noch existieren.

Was sichtbar wird, ist eher kein Gesundheitssystem, das seine Patienten als Versuchskaninchen an westliche Pharmakonzerne verkaufte, sondern vor allem seine eigenen medizinischen und wirtschaftlichen Engpässe zu beheben versuchte, indem es sich als verlässlicher Partner für solche Arzneimittelstudien anbot.

Aber auch die vier untersuchten Testreihen sind ja nur ein Streiflicht in das ganze Thema. Um mehr zu erfahren, müssen sich noch viel mehr emsige Forscher in die Berge vergilbter Papiere wühlen. Sofern die überhaupt noch irgendwo zugänglich sind.

Wie vergilbt sie sind, kann man im Anhang des Buches sehen. Auf einer CD-ROM sind die Materialen dann auch noch einmal digital beigelegt – samt Gesetzen, Durchführungsbestimmungen, Anweisungen, Anordnungen und Empfehlungen der staatlichen Institutionen, die das Ganze überwachten und koordinierten. Nur die begleitenden  ostdeutschen Medien fehlen. Es gab sie einfach nicht. Die Bürger des Landes sollten, aus unterschiedlichsten Grünen, ja möglichst wenig erfahren. Zum Beispiel über den Zustand der Umwelt und dessen gesundheitliche Folgen – oder über den zunehmend prekärer werdenden Zustand des Gesundheitswesens.

Anja Werner, Christian König, Jan Jeskow und Florian Steger Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR, 1983-1990, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016, 24,90 Euro.

In eigener Sache: Für freien Journalismus aus und in Leipzig suchen wir Freikäufer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/11/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar