Es kommt immer näher, dieses Reformations-Jubiläums-Jahr 2017, in dem mehr steckt als nur so ein 500. Jahrestag des Thesenanschlags vom 31. Oktober 1517. Die in Leipzig heimische Evangelische Verlagsbuchhandlung hat dazu ja in letzter Zeit schon einige erstaunlich facettenreiche Titel vorgelegt. Hier hat sie sich jetzt mal in eine Koproduktion mit dem Berliner Aufbau Verlag gestürzt.
In Berlin sind die fünf großen Gespräche entstanden, zu denen sich Margot Käßmann, die Botschafterin des Reformationsjubiläums, und Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der EKD, wirklich hochkarätige Gesprächspartner eingeladen haben. Und es geht – ja – irgendwie auch um Glauben, aber eher um Luther, um seine Bibel-Übersetzung, um die politischen und historischen Folgen. Denn deutlicher war noch nie, dass die von Luther angestoßene Reformation ein Prozess ist, der bis heute anhält und die Welt tatsächlich verändert hat. Auch die katholische, die jüdische oder die des Islam.
Neben den Journalisten Jakob Augstein und Dunja Hayali und dem Star der Linken, Gegor Gysi, haben sich die beiden mit Mouhanab Khorchie auch einen Experten für den Islam dazu geladen und mit Walter Homolka einen Experten des modernen Judentums. Denn eine Frage, die seit 2001 in allen europäischen Debatten gärt, ist ja die Frage: Ist Religion schuld an den Zerrüttungen der Gegenwart? Ist gar das „christliche Abendland“ bedroht, dieser Scheinelefant, der von Leuten beschworen wird, die weder gläubig sind noch mit der abendländischen Kultur das Geringste am Hut haben?
Was auffällt ist, dass vor allem Käßmann und Bedford-Strohm die Antwortenden sind, dass ihre Gesprächspartner eher die Fragenden sind und dabei sehr ausführliche Selbsterkundungen bei den beiden auslösen, die sehr wohl wissen, dass Glaube heutzutage nichts Selbstverständliches mehr ist und dass vor allem die Kirche als Institution infrage steht: Ist sie noch zeitgemäß? Kann sie den Menschen noch Antworten geben? Ist sie noch ein stärkendes Element in einer Welt, in der sich alles fragmentiert?
Manchmal wundert man sich schon, etwa wenn Gregor Gysi meint, dass es nur deshalb noch allgemeinverbindliche Moralnormen gibt, weil es die Kirche und Religionsgemeinschaften gibt. Da staunt man schon. An der Stelle hätte man den Mann eigentlich nicht vermutet. Da muss sogar Margot Käßmann bremsen. Irgendwie scheint da wohl auch im Diskurs der Linken etwas nicht zu stimmen: Sind die seit dem Scheitern des Stalinismus tatsächlich derart aus der Bahn geraten, dass sie die Religion über die Moral wieder zurückholen müssen in die Politik? Oder fehlt es einfach an diesem linken Diskurs über moralische Maßstäbe, fehlt die eigene Kompetenz und man geht dem Schwadronieren der medialen Scharfmacher auf den Leim, die Religion, Fundamentalismus und Extremismus heute in einen Topf schmeißen?
Da freut man sich regelrecht, wenn Käßmann und Bedford-Strom „Halt!“ rufen und daran erinnern, dass auch der nachluthersche Protestantismus von Fundamentalismus nicht frei war, dass selbst der gealterte Luther seine rabiaten Ausfälle hatte – erst gegen die „mordenden Horden der Bauern“, dann gegen die Juden. Wer sich heute mit Luther beschäftigt, der sieht nicht nur einen Mann am Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit, sondern auch einen, der vor den Fehltritten dieser Moderne selbst nicht gefeit war.
Mit Mouhanad Khorchide lernt man dann, wie sehr Religionen davon leben, dass sie sich selbst immer wieder reformieren und dass es oft genug falsche Lesarten sind, die erst die Fundamentalismen hervorbringen. Da berufen sich Leute auf Gott, suchen sich aber nur das zusammen, was in ihr eigenes fanatisches Weltbild passt. Oder zur Machtausübung missbrauchbar ist. „Terrorismus ist Gotteslästerung“, sagt Khorchide. Nicht die Religion macht Terroristen, sondern Terroristen nutzen Religion als Mäntelchen für ihr Tun. Davor war ja auch die allerchristliche Kirche nicht gefeit, als sie mit Feuer und Schwert loszog – gegen Muslime, Ketzer, Andersgläubige.
Das Wörtchen Frame fällt nicht, obwohl gerade Bedford-Strohm dicht dran ist, als er erzählt, wie Kirche sich im Lauf der Zeit ihre eigenen Schreckens- und Glücksbilder schuf, Himmel und Hölle. Obwohl davon so nichts in der Bibel steht. Aber es waren starke Frames, mit denen jahrhundertlang Menschen in Angst, Schrecken und gläubige Untertänigkeit gebracht wurden. Und er benennt etwas, was leider in den fünf Gesprächen kaum diskutiert wird: Das tiefe Unverständnis des Glaubensmannes für – na ja – die Ungläubigen da draußen, die „atheistischen Humanisten“, wie er sagt, die irgendwie doch die ganze Zeit handeln, wie Christen handeln sollten, aber einfach nicht an Gott glauben.
Also funktioniert Moral ja wohl auch ohne Gott. Und Unmoral auch mit Kirche, was ja auch thematisiert wird, wenn die Deutschen Christen benannt werden, die nur zu bereit waren, dem neuen Heiligen Adolf Hitler in den Hintern zu kriechen.
Aber das ist auch nicht das Wichtige an diesen Dialogen, die eher ein Abtasten sind, ein Nachfragen, Nachdenken und Insichgehen – und gerade für Bedford-Strohm und Käßmann eine Art Bestandsaufnahme: Wo steht die protestantische Kirche heute, 499 Jahre nach dem Thesenanschlag? Hat sie aus all den Irrungen und Wirrungen was gelernt? Und wenn ja: Was? Was hat die Mutter in Rom, die Katholische Kirche draus gelernt? Und was kann man heute im Dialog mit anderen Religionen draus lernen? Den es ja gibt. Seit 50 Jahren wird die Ökumene ja aktiv betrieben, friedlich noch dazu. Auch wenn all die friedlichen Bemühungen sichtlich nicht verhindern, dass Fundamentalisten aller Schattierungen die Welt immer wieder in Asche und Hass stürzen. Am Atheismus – das können ja Atheisten mittlerweile sagen – liegt es nicht.
Liegt es an der Moral?
Oder liegt es an etwas, was Bedford-Strohm im Gespräch mit Gysi anreißt: Dass auch Bewohner der Moderne so ihre Schwierigkeiten haben mit der Lutherschen „Freiheit des Christenmenschen“? Die ja eine dialektische Freiheit ist: Eine Freiheit, die Welt zu beherrschen – und gleichzeitig ihr demütiger Knecht zu sein. Das erste ist leicht, und augenscheinlich bekommen Leute, die sich als „Könige der Welt“ aufspielen, auch jede Bühne eingeräumt, die sie wollen – und gleichzeitig wird das Knechtsein vergessen, verdrängt, verlacht, das, was dann – ganz christlich – „Botschaft des Friedens, der Versöhnung, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung für die Gesellschaft sein kann“, wie Bedford-Strohm aufzählt.
Das ist dieses berühmte „die andere Wange hinhalten“, nicht mit Gegengewalt reagieren, sondern sich selbst zurückzunehmen, den Feind zu lieben oder wenigstens zu verstehen und andere, gemeinsame Lösungen für Konflikte zu suchen. Und vor allem: seine Gier zu zähmen und auch im Verzicht Freiheit zu finden.
Aber wir leben ja sichtlich wieder in einem Schwarz-Weiß-Zeitalter, in einem Entweder-Oder-Zeitalter, in dem die Dummköpfe aller Nationen immerfort mit Ultimaten drohen und unfähig sind, sich zurückzunehmen. Ein Punkt, auf den dann auch Gysi kommt, ganz zum Schluss, wo er die Modernität Luthers für die heutige Zeit und seine Reaktion auf das „pervertierte System“ der Papstkirche auf das pervertierte System einer weltverschlingenden Wachstumsideologie ummünzt. „Dann muss es immer einen geben, der den Mut hat, zu sagen: So nicht!“
Gerade wenn man beginnt, in Luther den zu sehen, der nach einem ehrlicheren, menschlichen Verhältnis zu seinem Leben und zu Gott sucht, kommt man seiner Modernität nahe. Und vor allem einer Sache, die gern vergessen wird – auch und gerade in der Politik: der Frage nach der Verantwortung des (gläubigen) Menschen für sein Tun.
Allein die fünf Gespräche sind also schönes Futter für Leute, die gern auch mal über die ganzen ethischen Fragen am Wegrand nachdenken. Und als Zugabe gibt es dann 15 kleine Porträts von Protestanten, die die Mitherausgeber der Evangelischen Verlagsanstalt für wichtig und beispielgebend halten. Darunter der „Entdecker“ der Nachhaltigkeit Carl von Carlowitz, der Gründer des Roten Kreuzes Henry Dunant oder Martin Luther King, der seinen Traum von der Gleichberechtigung ganz im Lutherschen Sinn träumte.
Und für alle, die das im Geschichtsunterricht nie hatten, gibt es am Ende noch einen reich bebilderten Zeitstrahl von den Vor-Reformatoren John Wycliff und Jan Hus bis ins Jahr 2017, das mit der Feier natürlich auch drinsteht.
Heinrich Bedford-Strohm; Margot Käßmann Die Welt verändern, Aufbau Verlag, edition chrismon, Berlin und Leipzig 2016, 22,00 Euro.
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