Fünf, fast sechs Jahre im eisigen Workuta - die war prägend für Horst Hennig, der im Mansfelder Land aufgewachsen ist und nach dem Krieg in Halle sein Medizinstudium begann. Ein Studium, das abrupt mit der Verhaftung der Hallenser Studentengruppe endete, die es so in der Realität nicht gab. Aber mit konstruierten Anklagen sahen sich in den frühen 1950er Jahren tausende junger Menschen in Ostdeutschland konfrontiert.

Für Hennig bedeutete das Urteil des sowjetischen Militärtribunals 25 Jahre Verschickung in den legendären Gulag, in eines der unwirtlichsten Lager – Workuta, nahe am Polarmeer. Dass es am Ende nur etwas mehr als fünf Jahre unter härtesten Bedingungen wurden, hatte mit dem Verhandlungsgeschick von Bundeskanzler Konrad Adenauer zu tun, dem es gelang, ein Abkommen über die Freilassung von zehntausenden Kriegsgefangenen und politisch Verhafteten zu erwirken – und es hatte natürlich auch mit dem Tod von Diktator Stalin zu tun, der die Einrichtung des Systems der Arbeitslager angeordnet hatte. Sie waren schon in den 1930er Jahren Teil seines Repressionssystems geworden und wurden auch während und nach dem Krieg massiv ausgebaut. Nach dem Krieg dienten die Lager zusätzlich zur Bereithaltung von Billigarbeitskräften. Und die ließ man sich augenscheinlich auch aus den von der Sowjetarmee besetzen Ländern liefern.

Dass dabei die oft auf Denunziation und Mutmaßungen begründeten Verhaftungen und Verurteilungen gleich noch zur Abschreckung dienten, gehörte zum System. Denn was da ab 1945 in den osteuropäischen Ländern installiert wurde, war nichts anderes als das mehr oder weniger hübsch angemalte stalinistische System. Das auch nach Stalins Tod noch weiterfunktionierte, auch wenn die Absetzung Berijas 1953 und Chrustschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 der Beginn des Versuchs waren, das Riesenreich zu entstalinisieren.

Doch auf eine Rückkehr in die DDR ließ sich Horst Hennig gar nicht erst ein, er ließ sich in den Westen ausliefern, beendete sein Medizinstudium und machte als Armeearzt bei der Bundeswehr Karriere. Zumindest so lange, bis die gesundheitlichen Folgen seiner Haft in Workuta ihn zwangen, den Abschied zu nehmen. Die Folgejahre freilich nutzte der anerkannte Mediziner, um all das aufzuarbeiten, was sein Leben geprägt hat.

Das war nicht nur Workuta, obwohl das Thema in seiner Arbeit fortan eine zentrale Rolle spielte. Denn im Netzwerk der einstigen Sträflinge war er eine zentrale Figur und konnte nach 1989 seine Möglichkeiten als hochrangiger Militär a.D. nutzen, die Geschichte von Verurteilung und Haft in Moskauer Archiven zu recherchieren. Gerade die frühe Jelzin-Zeit war von einer für Russland ungewöhnlichen Offenheit geprägt. Selbst die Akten im Sitz des russischen Geheimdienstes in der Lubjanka in Moskau konnte er einsehen. Und mehrmals war er mit einstigen Leidensgefährten wieder in Workuta, suchte und fand die Spuren der einstigen Straflager, die Friedhöfe und damit auch die Gräber jener Häftlinge, die im Sommer 1953 beim großen Streik erschossen worden waren.

Aber dieses Buch geht jetzt deutlich über eine Aufarbeitung des Themas Stalinismus und Workuta hinaus. Hennig erzählt diesmal seine ganze Lebensgeschichte, denn eigentlich ist es ein Geburtstagsbuch zum 90. Und da wird natürlich die Kindheit im Mansfeldischen Land wichtig, der frühe Tod der Mutter, die Ausbildung an der Heeresunteroffiziersschule Marienberg und der Einsatz – noch als 17-Jähriger – bei der letzten Offensive der Wehrmacht an der Westfront, der sogenannten Ardennen-Offensive, bei der Hennig in amerikanische und dann britische Kriegsgefangenschaft geriet. Schon bei diesen frühen Kapiteln fällt auf, was für ein enormes Personen- und Namensgedächtnis der Mann haben muss, mal ganz zu schweigen von seinem im Buch erwähnten umfassenden Archiv.

Er kann die Namen seiner Vorgesetzten, Lehrer, Kameraden nennen, weiß, wo deren Gräber liegen, wo sie verwundet wurden. Und wenn er über sein Studium erzählt, die Zeit in Workuta und die Rückkehr nach (West-)Deutschland ist es genauso, da hat er die Namen von Menschen parat, die man im Lexikon oder anderen Nachschlagewerken vergeblich sucht, erzählt von Ärzten und Schwestern, mit denen er zusammengearbeitet hat und hat augenscheinlich auch später keinen Vorgesetzten vergessen, der in seiner Laufbahn eine Rolle spielte. Und dabei erlebte er einige der großen Affären der Bundesrepublik direkt mit, kann über die Starfighter-Affäre erzählen, die zu den vielen Rüstungskrisen gehört, die die Bundeswehr im Lauf ihrer Existenz erlebt hat. Aber auch die Kießling-Affäre hat ihn direkt berührt.

Und er kann es nicht verhehlen, dass er von ganzem Herzen Soldat ist – gerade dann, wenn er bewundernd von jenen Offizieren erzählt, die ihre Meriten als Jagdflieger im 2. Weltkrieg erworben haben und dann als Offiziere in der Bundeswehr Karriere machten. Als leitender Arzt führten ihn seine Dienstreisen logischerweise auch in die USA, nach Frankreich, nach Israel. Später gibt er einem russischen Gesprächspartner kontra, als es um die Frage von Krieg und Frieden geht. Immerhin hatte die NATO bis dahin tatsächlich noch keinen Krieg geführt.

Aber das sind solche Stellen, an denen man stutzt, denn irgendwie scheinen die nachfolgenden Politikergenerationen vergessen zu haben, dass es bei diesem Militärbündnis eher um eines zum Friedenserhalt geht und nicht um ein Instrument, mit dem man alle Nase lang drohen kann. Vergessen nachfolgende Generationen so leicht? Oder haben sie das – völlig falsche – Gefühl, dass es nur einen Bösewicht in der Geschichte gibt, und der säße im Osten und hätte sich für alle Zeiten desavouiert?

Ist natürlich die Frage: Welche Diktaturen meint Gerald Wiemers, der dieses Geburtstagsbuch herausgegeben hat: Nur die beiden stalinistischen in der UdSSR und der DDR? Oder auch die Hitlerdiktatur? Letztere irgendwie auch – da trennt er zwischen der Armee und ihren Offizieren, die er bewundert, und Hitlers Anmaßungen und Verbrechen. Da kann man durchaus streiten, wenn Hennig schreibt: „Der Diktator Adolf Hitler missbrauchte die Wehrmacht für seine kriegerischen Ziele. Der Zusammenhalt der Soldaten beruhte auf Befehl, Gehorsam und der Pflicht zur Kameradschaft.“

Gerade die „hohe Kampfmoral“, die er erwähnt, ermöglichte Hitler seine erfolgreichen Überfälle auf andere Länder. Und das mit einer Armee, die auch und gerade auf Wunsch der Generäle erst wieder so groß und schlagkräftig gemacht wurde, dass der „GröFaZ“ damit seine Kriege führen konnte, die nicht erst seit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 ins Maßlose zielten. Das hat schon William Shirer alles sehr schön analysiert in seinem „The Rise and Fall of the Third Reich: A History of Nazi Germany“ von 1960. Dahinter muss man nicht wirklich mehr zurückfallen.

Was Hennigs Erinnerungen natürlich nicht entwertet. Gerade weil er so genau versucht, sein ganzes Leben zu rekapitulieren, wird sichtbar, wie sehr das Leben der Menschen in Deutschland gerade in den 1940er und 1950er Jahren unterm Stern zweier Diktaturen stand, denen das einzelne Menschenleben nichts wert war, die Menschen in Millionenzahlen vertrieben, einsperrten, töteten. Und die auch den Zugriff auf die Köpfe und Herzen der (jungen) Menschen haben wollten. Zumeist auf die brutale Tour, wie es die Militärgerichte Stalins ja in „bürokratischer Härte“ durchexerzierten, um mal einen gnadenlosen FAZ-Kommentator der Gegenwart zu zitieren, der in seiner Sprachwahl deutlich macht, wo Stalinismus und Faschismus eigentlich ihre gemeinsamen Wurzeln haben: in der bürokratischen Arroganz der Macht-Haber. Deshalb sind Apparate so leicht missbrauchbar von Diktaturen – Abschiebeapparate genauso wie Militärapparate.

Eigentlich ist das Fazit aus Hennigs Erinnerungen, dass seine Glorifizierung der Wehrmacht falsch ist, dass auch eine Armee zwingend Menschen und Offiziere mit Charakter, Gewissen und menschlichem Anstand braucht, keinen blinden Gehorsam. Werte nennt man das ja wohl – bei Hennig tauchen dafür Worte wie Demokratie, Völkerverständigung und Frieden immer wieder auf. Und er lebt das auch, nimmt Einladungen in alle Himmelsrichtungen gern an, tauscht sich mit jenen aus, die einst auf der anderen Seite standen und mit denen ihn heute feste Freundschaften verbinden. Viele freilich sind selbst schon in die Geschichtsbücher eingegangen. Mit 90 Jahren schaut man tatsächlich auf mehr als ein gewöhnliches Menschenalter zurück. Und solange man etwas zu erzählen hat, muss man sich ja auch nicht zur Ruhe setzen.

Gerald Wiemers Erinnern statt Verdrängen, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016, 33 Euro.

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