Es ist nicht das erste Buch, das der Lehrer Arne Ulbricht übers Lehrersein veröffentlicht. Aber es ist sein erster Roman zum Thema. Ein Roman, in dem sich bestimmt viele Lehrer wiedererkennen, die am deutschen Schulsystem, wie es in den letzten Jahren geworden ist, verzweifeln. Nicht alle verzweifeln so wie dieser Heinz Gödel. Manche brennen einfach nur aus. Oder kapitulieren.
Woran das liegt, haben schon viele Bücher untersucht. In der Regel benennen sie die rigide Sparpolitik, mit denen die Bundesländer den Schulbetrieb aller Reserven beraubt haben. Andere benannten die extreme Verschulung und die Verstopfung der Lehrpläne mit einem riesigen Lernballast. Für geistige Bildung, Kreativität, Problemlösen oder Kommunikation blieb kaum mehr Zeit. Immer rigider haben Kultusminister auch direkt in die pädagogische Arbeit hineinregiert, haben ein engmaschiges Kontroll- und Sanktionssystem eingeführt.
Aber was passiert, wenn Lehrer zu reinen Ergebnislieferanten degradiert werden? Das, was auch dieser Heinz Gödel erlebt, den Arne Ulbricht zum Helden seiner Geschichte gemacht hat: Sie werden einsam. Einsam wie Fließbandarbeiter, denen drei verschiedene Chefs im Nacken sitzen, denen aber niemand beisteht, wenn sie persönlich Probleme bekommen.
Wobei die “Geschichte eines Scheiterns” in diesem Fall keine Geschichte des Scheiterns hätte werden müsen. Denn Heinz bekommt zwar spät eine Chance zum Einstieg in den Schuldienst, aber sein pädagogisches Handwerkszeug scheint er zu beherrschen. Mit seinen Klassen hat er kein Problem. Bis auf die neunte Klasse, die schon eine Vorgeschichte mit zwei strengen Lehrerinnen hinter sich hat, die vor allem mit Härte und Strafe versucht haben, die Disziplin in der Klasse durchzusetzen. Also dem, was eigentlich in der Logik des heutigen, rein betriebswirtschaftlichen Denkens in Sachen Schule folgerichtig ist: Schüler werden zum Objekt einer Bildungspolitik, die keinen Wert darauf legt, ihre Talente und Fähigkeiten zu stärken und selberdenkende Menschen zu formen, sondern die Schüler als Produkte betrachtet (man sehe nur die diversen Bildungsmonitore der INSM), die einen Auswahlprozess durchlaufen, an dessen Ende nur die Besten (also die Angepasstesten) die Schule mit Erfolg (also guten Noten) verlassen, der Rest wird wie Ausschuss behandelt. Mittlerweile kann man davon auch in Sachsen ein Lied singen. Aber erfunden wurde dieses gefühllose System im Westen.
“Null Bock”? Das ist die eigentlich verständliche Reaktion von Schülern, denen Negativerlebnisse über den Kopf wachsen, die vor allem Frustration, Sanktion und ganz persönliche Ignoranz im Schulalltag erfahren. Und die gleichzeitig in einer Welt aufwachsen, die das Leistungsdenken zum obersten Primat gemacht hat. Deswegen kommen in diesem Buch auch eine Reihe rabiater Eltern vor, die nichts anderes mehr kennen, als Schulleitung und Lehrer zu tyrannisieren, wenn das Kind in der Schule schlechte Noten bekommt.
Den entscheidenden Fehler macht Heinz schon früh, als er nicht auf sein eigenes Gewissen hört und stattdessen den Rat genau jener Lehrerin annimmt, die bei den Schülern schon lange als Ursache immer neuer Schikanen und Bestrafungen bekannt ist. Denn damit zerstört er das gerade erst aufgebaute Vertrauen der Schüler und setzt einen Prozess in Gang, den er schon bald nicht mehr beherrscht. Dabei schildert Ulbricht auch recht nüchtern, was für Prozesse da in einer Klasse ablaufen, wenn es gerade die Wortführer in der Gruppe darauf anlegen, ein Exempel zu statuieren und einen Lehrer so richtig fertig zu machen. Eine Situation, auf die Heinz, nachdem er sich Jahre lang als Übersetzer durchgeschlagen hat, nicht vorbereitet ist. Und in der er auch keine Hilfe bekommt, von den schüchternen Versuchen zweier Kollegen abgesehen, die sich noch nicht ganz angepasst haben.
Eigentlich ist Heinz schon längst in einer Spirale der sich steigernden Probleme, als ihn die Schulleitung endgültig ans Messer liefert. Wobei nicht recht klar ist: Tun es der Direktor und die Klassenlehrerin mit Absicht oder sind sie längst blind dafür, was in ihrer Schule passiert? Die “Betriebsblindheit” hat System. Und endet für den Helden in dieser Geschichte, der gern so tapfer wie Winnetou wäre, fatal. Aber er ist nicht so tapfer, das weiß er ja selbst. Was seine Gründe hat. Denn als Versager fühlte er sich schon seit seiner Kindheit, als er einem leistungsbesessenen Vater nie erfolgreich, nie durchsetzungsstark und karrierebewusst genug war. Und diesen Dämon in seinem Leben ist er nie losgeworden – jede Begegnung mit seinen Eltern und Geschwistern wird zur erlebten Niederlage. Auch wenn er nun so langsam für sich akzeptiert, dass sich seine Eltern nie die Mühe gemacht haben, ihn überhaupt jemals kennenzulernen.
In dieser Geschichte passt eine Menge zueinander. Denn was wird aus Kindern, wenn sie von solchen oberflächlichen Eltern ins Leben getrimmt werden?
Naja, an seinen Geschwistern sieht es Heinz ja: karrieregeile oberflächliche Menschen, die mit ihren Kindern auch nicht mehr umgehen können. Und sich Partner suchen, die ihrerseits mit der Arroganz des Erfolgsmenschen auf alle herunterschauen, die nicht ins Karrieeschema passen. Das kommt einem schon fast vertraut vor. Denn die Gegenwart ist voll mit diesen seelenlosen Menschen, die nicht einmal verstehen, dass die Niederlagen der Anderen nicht aus ihrer Unfähigkeit resultieren, sondern aus einer hochgezüchteten Ellenbogengesellschaft.
Am Ende agiert Heinz – auch unter dem Einfluss diverser Tabletten – völlig irrational, dreht regelrecht ab. Die Geschichte läuft in eine Tragik aus, bei der einem eigentlich das Herz blutet. Denn es leiden die, die sich nicht an das herzlose und aalglatte System angepasst haben, die ein wenig wie Heinz Gödel selber sind – offen noch für Träume, Phantasie, Kreativität. All das, was im auf Effizienz getrimmten System Schule in Deutschland keinen Platz mehr hat, im späteren Leben auch nicht.
Die Verlierer dieser Gesellschaft sind nicht, wie gern behauptet wird, die Leistungsschwachen, sondern die Nicht-Angepassten, die Menschen, die noch Persönlichkeit und Emotionen zeigen. Die gerade deshalb angreifbar sind. Und die so wirken, als seien sie “nicht von dieser Welt”. Aber um welche Welt geht es da eigentlich? Eine Welt, in der nur noch Karrieristen und emotionale Eisschränke aushalten und alles andere plattgetrampelt und zerstört wird? Niemand mehr Respekt vor anderen hat? Und am Ende nur noch negative Emotionen gepflegt werden: Hass, Verachtung, Neid, Arroganz? Wo immer wieder “Exempel statuiert” werden müssen, weil man nur so noch eine gewisse Stärke zeigen kann?
Logisch, dass sich Heinz Gödel da irgendwann nur noch allein gelassen fühlt, zwischen die Fronten geschickt, ohne das Zeug zum Trapper zu haben, der sich auch noch in der Wildnis tapfer durchschlägt. Das ist nicht sein Ding. Und in aller Stille ist in ihm etwas kaputtgegangen. Verstärkt auch durch eine Reihe von persönlichen Verlusten, die ihm erst so richtig deutlich machen, wie einsam er nun ist. Auch die Singles in dieser Gesellschaft fallen nicht vom Himmel, sondern werden durch Verhältnisse gemacht, die für Vertrauen, Verständnis und Nähe (und zwar in ihrer echten Funktion) keinen Raum mehr lassen. Wo Effizienz dominiert, gibt es kein Vertrauen mehr, werden Menschen zu Produkten. Wegwerfprodukten, Minderwertigen.
Und wenn dieses Denken die ganze Gesellschaft und auch unsere Schulen durchzieht, kommt genau das dabei heraus: ein rücksichtsloses System der Karrieristen, in dem für die Sensiblen und Kreativen kein Platz mehr ist. Alles drängt zu einer glatten Norm für alle. Eigentlich nicht auszuhalten. Aber wem sagt man das, wenn die Meisten damit beschäftigt sind, sich diesem eisigen System anzupassen bis zur kompletten Stromlinienförmigkeit?
Arne Ulbricht Nicht von dieser Welt, KLAK Verlag, Berlin 2016, 14,90 Euro.
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