Es gibt zwei Genf. Die kann man auch besichtigen, wenn man sich mal das Wochenende nimmt und die alte - für Leipziger Verhältnisse sogar uralte - Stadt am Genfer See besichtigen möchte. Mit allen Mythen, Legenden. Und natürlich den Spuren in die römische und die vorrömische Vergangenheit. Das ist zumindest das alte Genf. Das neue ist ja bekanntlich UNO, Völkerbund und Rotes Kreuz. Eine Welt für sich.

Wobei es dem alten Genf, das Ilona Stölken im ersten Rundgang besichtigt, ganz ähnlich geht wie Leipzig: Die Spuren der ganz alten Geschichte sind nur noch an wenigen Stellen sichtbar. Selbst nach dem Genf des unerbittlichen Calvin, der hier einst mit puritanischer Strenge waltete, muss man suchen. Am besten mit Stefan Zweigs „Castellio gegen Calvin“ in der Tasche. Hat die Autorin auch getan. Gerade weil es in Genf so schön widerspruchsvoll ist, denn das moderne Genf hat nicht mehr viel zu tun mit diesem unerbittlichen Calvin-Genf – außer dem geschäftstüchtigen Protestantismus, der die Stadt so erfolgreich gemacht hat als Bankenmetropole und (da Schmuck und Tand ja verboten waren) als Hochburg der Uhrenkunst. Denn pünktlich zum Gottesdienst sollten die fleißigen Bürger ja sein.

Kämpferisch waren sie ja schon vorher. Jahrhundertelang konnten sie ihre Selbstständigkeit behaupten – vor allem gegen das Herzogtum Savoyen. Der beliebteste Feiertag der Genfer geht auf den Tag zurück, an dem ein Versuch der Savoyer, die Stadtmauern mit Leitern zu erklettern, glorreich abgewehrt werden konnte. Heute redet kein Mensch mehr von Savoyen. Es ist zu einer eher abgelegenen französischen Verwaltungseinheit geworden. Die Genfer haben ihre Festungswälle geschliffen. Aber wie wehrhaft die Stadt mal war, ist heute noch zu sehen. Prächtige Häuserzüge stehen hoch auf den einstigen Bollwerken. Hier regiert nicht mehr der bewaffnete Bürger, sondern – ganz still und zurückhaltend – das große Geld. Es ist also ganz ratsam, die Reisekasse gut zu bestücken, erst recht, wenn man in einem der noblen Hotels absteigen will, die seit über 100 Jahren Geschichte machen, weil die noblen Reisenden aus aller Welt hier absteigen – mal auf der Durchreise zum Wintersport, mal – wie Sissy – auf der Flucht vor einem bedrückenden Hofstaat oder vor widerspenstigen Untertanen, wie Karl II. von Braunschweig, öfter noch, um an einer großen Konferenz teilzunehmen. Nicht zu vergessen, dass Genf auch immer Zufluchts- und Durchreiseort für die namhaftesten Emigranten des Kontinents war, die dann freilich nicht ganz so nobel wohnten – so wie der Russe Wladimir Uljanow, der österreichische Schriftsteller Robert Musil und der deutsche Pazifist Ludwig Quidde.

Das ist eins der Markenzeichen in den handlichen Stadtführern aus dem Lehmstedt Verlag: In kleinen Randglossen werden stets einige der berühmten Persönlichkeiten gewürdigt, die für den besuchten Ort wichtig waren. Manchmal sind das auch nur lokale Berühmtheiten – und in Genf werden viele davon gewürdigt, deutlich mehr und deutlich präsenter als z.B. in Leipzig  (man wird einfach zum Vergleichen gezwungen, es geht gar nicht anders). Das zeigt zumindest, wie stolz die Genfer auf ihre eigene Geschichte sind. Obwohl auch das eine Geschichte mit Ecken und Kanten ist. Man denke nur an Calvins Wüten gegen all jene, die sich seinem Regime nicht beugen wollten. Oder die Schwierigkeiten der Genfer mit ihrem berühmtesten Sohn: Jean Jacques Rousseau. Sie haben lange gebraucht, sich mit dem Philosophen und Autor des „Contrat social“ zu versöhnen. Und das als Bürgerrepublik. Heute darf  Rousseau (als Denkmal) nachdenklich über den See auf die Stadt blicken. Ein Denkmal von Voltaire fehlt. Den wollten die Genfer erst gar nicht so recht auf ihren Fluren wissen, denn der wollte auch in Genf seiner Liebe zum Theater frönen – was noch im 18. Jahrhundert schlicht unduldbar schien. Deswegen gibt es in der Nähe von Genf auch gleich zwei Voltaire-Stätten zu besuchen – seinen einstigen Landsitz, wo sich der Immerfortvertriebene bei Genf in Sicherheit brachte – und gleich hinter der französischen Grenze sein Besitz Ferney, wo er dann Theater spielen ließ, unbehelligt von den strengen Genfer Sittenwächtern.

Und wenn die Autorin schon lauter Bücher mitschleppt (natürlich auch einen Krimi von Glauser), dann muss auch das aktuellste Buch zur Zeit erwähnt werden: „Candide oder der Optimismus“, das Buch, in dem Voltaire die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz in der Luft zerfetzt: Das, was Candide erlebt in der Welt, kann einfach nicht „die beste aller Welten“ sein.

Es ist schon erstaunlich, wie man im Jahr 2016 dazu animiert wird, die alten, echten Aufklärer noch einmal zu lesen, weil überall die finsteren mittelalterlichen Dumpfnasen aus den Ritzen gekrochen kommen und den Horizont schon wieder mit imaginierten Scheiterhaufen umlodern lassen. Genau die Typen, denen Candide auf seiner Reise um die Welt begegnet und die die Welt mit ihrer ganzen unerbittlichen  Selbstgerechtigkeit in ein Schlachthaus verwandeln.

Gerade Genf steht ja in vielfacher Weise für den modernen Versuch, diesen Kräften Einhalt zu bieten – angefangen von den verschiedenen Genfer Konventionen, die wenigstens ein bisschen Humanismus in die moderne Kriegsführung gebracht haben, über die Gründung des Roten Kreuzes und die des Völkerbundes, der eigentlich die Fehler des Ersten Weltkrieges korrigieren wollte. Und die meisten Einschätzungen moderner Historiker gehen davon aus, dass diese erste organisierte Staatengemeinschaft auf einem guten Weg war, bevor sie von einem Herrn Hitler einfach vom Tisch gewischt wurde. Typen wie dieser Hitler haben internationale Staatengemeinschaften immer gehasst.

Genf lag als Ort der Wahl also auf der Hand, als es nach 1945 darum ging, einen Ort für wichtige UNO-Dependancen und auch die WHO zu finden. Die ganzen großen Bürogebäude und Museen, die diesen modernen Teil der Genfer Geschichte erlebbar machen, findet man natürlich auf der Rive droit, dort, wo einst die reichen Genfer ihre Gärten und Landsitze erbauten. Die meisten schenkten diese Parkanlagen dann der Stadt. Hier kann man ganze Tage im Grün verbringen – es sei denn, man eilt flotten Fußes, um unbedingt wenigstens noch einen Blick ins UNO-Viertel und ins Völkerbundpalais zu werfen.

Aber natürlich werden auch die zwei Tagestouren, die Ilona Stölken hier beschreibt, nicht wirklich reichen. Können sie gar nicht. Kann auch die Autorin nicht geschafft haben, die von so vielen herrlichen Cafés unterwegs schwärmt, dass sie mindestens eine Woche gebraucht haben wird für das alles, ganz zu schweigen von ihren zehn Tipps im Anhang, in denen solche Schwergewichte wie das Europäische Kernforschungszentrum CERN, das Musée Voltaire und das fast schon italienisch anmutende Städtchen Carouge auftauchen. Und selbst in der Altstadt von Genf hat sie ja die Gelegenheit zu Besuch und Besichtigung nicht ausgelassen. Man fährt am besten wirklich nicht ohne Plan nach Genf, richtet sich auf eine große Packung europäischer und Geistesgeschichte ein, nimmt sich Zeit für Cafés, Parks und ein Bad im See. Und die erwähnten Bücher sollte man einpacken. Es ist wohl wieder höchste Zeit, seinen Kopf mit guter Ware zu versorgen, denn augenscheinlich werden jetzt die Kämpfe des 18. Jahrhunderts noch einmal von vorn ausgefochten. Denn gegen das dumpfe Unheil hilft nur eins, wie Candide schon sagte: „Wir müssen unseren Garten bestellen“.

Ilona Stölken Genf. Ein Stadtführer, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 8,95 Euro.

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