Irgendwas ist da mit Katzen. In Internet-Videos feiern sie enorme Klickzahlen, in Kalendern und Büchern finden sie reißenden Absatz. Und auch Heike Wendlers Katzengeschichten im St. Benno Verlag finden ihre Leser und Liebhaber. Und dabei ist das pelzige Tier doch eigentlich ein Raubtier. Aber es löst Reflexe aus, die augenscheinlich selten geworden sind in unserer Welt.

Sieben „himmlische Geschichten“ hat Heike Wendler in diesem Buch versammelt. Alles typische Katzengeschichten. Das, was Menschen so erleben, wenn sie auf die Katze kommen. Oder wenn die Katze zu ihnen kommt, denn in den meisten dieser Geschichten wird der Erwerb dieses Raubtieres keineswegs planmäßig angegangen. Wie das so ist im Leben: Wirklich elektrisiert werden Menschen dann, wenn ihr Herz aufgeht und in ihnen längst vergessen geglaubte Gefühle erwachen. Denn auch hier haben die meisten Akteure eigentlich keine Zeit für sowas. Die einen haben einen stressigen Alltag und kommen deshalb nicht dazu, sich in ihrem Leben mal ein paar Inseln fürs Gefühl zu verschaffen. Die anderen haben ihr Arbeitsleben zwar hinter sich, so wie der Pfarrer, der ein ganzes Arbeitsleben für die Sorgen der Anderen da war. Doch er merkt ja als Erster, dass da auf einmal ein Loch ist, in das man unverhofft fällt, auch wenn man sich vorgenommen hat, mit dem Ruhestand nicht einfach zur Mauerblume zu werden.

Aber auch anderen Rentnern geht es so. Da kann man zwar ein schnuckliges Heim sein Eigen nennen, einen schönen Garten und eine sonnige Terrasse. Aber selbst beim Teetrinken im Sonnenschein tut sich da so etwas auf wie das Gefühl, dass man doch irgendwas zum Kümmern braucht. Vielleicht ist das tatsächlich menschlich und gut angelegt. Zumindest in den Menschen, die noch wachen Geistes und weiten Herzens sind. Und weil Kinder und Enkel meistens nicht verfügbar sind zum Knuddeln, nimmt das flauschige Tier den leeren Platz ein, dessen Leere der Mensch eigentlich nicht aushält.

Das war auch schon in den früheren Tiergeschichten von Heike Wendler spürbar. Mit diesem Mai-Kätzchen-Buch wird es noch dichter, wird auch noch deutlicher, warum das den wesentlichen christlichen Werten so nah ist, denn dieses seltsame Raubtier, das sich wie kein anderes an den Menschen angepasst hat, erweckt die volle Gefühlsbreite von Hilfsbereitschaft und Fürsorge bis zur blanken Freude an Leben und Nachwuchs. Da werden Menschen, die sonst niemals Zeit haben, sich auch nur um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern, auf einmal zu Rettungstrupps und Hilfsmannschaften, schließen Freundschaften mit dem Tierarzt, der auch mitten in der Nacht bereit ist, die Tierchen zu retten, die mit allen Gebrechen einer lieblosen Entsorgung in der Mülltonne zu ihnen gebracht werden.

Ganze Wohnungen werden umgeräumt, um den neuen Mittbewohnern ein neues Zuhause zu schaffen. Aber regelrecht symbolisch wird die menschliche Beziehung zum flauschigen Tier in der letzten Geschichte „Hilfe in der Not“, wo ein Junge mit Down-Syndrom nicht nur zeigt, wie sehr ihn die Hilflosigkeit einer Katze zu großen Taten anspornt – diese zutiefst menschliche Aktion entspannt auch eine völlig verfahrene Situation, in der ein paar üble Schlägertypen gerade dabei waren, ein Häuflein behinderter Menschen zu schikanieren.

Womit eigentlich der Spiegel in der Geschichte sichtbar wird: Wie sehr unsere Gesellschaft schon dominiert wird von Menschen, die auf Mitgefühl und Nächstenliebe herumtrampeln. Nicht immer nur mit Springerstiefeln. Denn die Verachtung der Mitmenschen beginnt nicht erst in grölenden Cliquen junger Männer. Die beginnt mit eingeschnappten alten Leuten, die ihre eigene Unfähigkeit zu Liebe und Verständnis in bösen Attacken gegen andere Menschen ausleben, die menschenverachtende Arroganz auch noch zum Wahlsieger machen und damit auch das gesellschaftliche Klima verändern. Denn wenn der Mitmensch nicht mehr zählt, weil er einfach da ist und Respekt verdient, dann entsteht nach und nach ein Klima, in dem Menschen nur noch nach ihrem Reichtum gewertet – oder besser: abgewertet werden.

Auch das steckt in diesen Geschichten: Dass es eigentlich nicht viel braucht in unserer Welt, um seinen tief vergrabenen Gefühlen wieder ein bisschen Raum zu geben. Denn genau das vergessen wir ja immer, weil uns die penetrante Werbung für eine rein vom Geld bestimmte Lebensart auch noch die letzten Freiräume zumüllt, in denen unser eigentliches Menschsein noch zu Hause sein durfte. Und das sind nun einmal unsere Emotionen.

Weswegen sich übrigens auch die Bücher aus dem St. Benno Verlag immer mehr verändert haben, auch visuell immer stärker unsere direkte Beziehung zum Leben, zu unserer Umwelt, zu unseren Nächsten thematisieren. Denn tatsächlich geht es immer um die Frage: Was macht unser Leben eigentlich lebenswert? Der Job, die Karriere, das Konto? Kann man vergessen. Das alles verhärtet nur das Herz und lässt unseren Alltag verarmen, höhlt ihn regelrecht aus. So sehr, dass viele Menschen nicht mal mehr ahnen, was ihnen da alles weggenommen wurde. Oder was sie selbst geopfert haben, um einem wahnsinnigen (Aber-)Glauben an Reichtum und Erfolg hinterher zu hetzen. Und dazu gehört auch die Aufmerksamkeit für uns selbst und die Wesen rund um uns. Und so wird jede einzelne dieser sieben Katzengeschichten zu einer Entdeckergeschichte, in denen zwar eine Menge Mai-Kätzchen geboren werden. Aber die eigentliche Botschaft ist jedes Mal, dass ein paar plüschige Stubentiger ohne viel Federlesens den leer gewordenen Alltag von Menschen verändern und füllen, die vorher oft nicht mal mehr gemerkt haben, dass da eine große Leere gewachsen war.

Womit das eigentlich – ganz unauffällig – ein paar Geschichten über den Zustand unserer Gesellschaft geworden sind. Der kein guter ist, sondern ein ziemlich leerer und heilloser, um mal so ein schönes Wort zu benutzen.

Heike Wendler: Mai-Kätzchen. Abenteuer auf vier Pfoten, St. Benno Verlag, Leipzig, 2016, 6,95 Euro.

 

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