Ein großes Stadtjubiläum hat immer Folgen. Gerade wenn es so ein Klopper ist wie die 1.000-jährige Ersterwähnung Leipzigs. Da begann nicht nur die emsige Arbeit an einer großen neuen vierbändigen Stadtgeschichte, da sorgten die Geschichtsinteressierten auch dafür, dass einige Themen endlich einmal intensiv erforscht wurden. So wie die Leipziger Religionsgeschichte.
Auch wenn die meisten Leipziger ja wussten, dass Luther hier 1519 disputierte und 20 Jahre später die Reformation eingeführt wurde – tatsächlich war es ein Feld mit vielen Unbekannten. 2012 machten es die engagierten Historiker zum Thema beim „Tag der Stadtgeschichte“. Ein Jahr später erschien der Band mit den Tagungsbeiträgen: „Das religiöse Leipzig“. Ergänzung fand das 2014 mit der großen Ausstellung „Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland“ im Stadtgeschichtlichen Museum. Das war so eine Art Aha- und Wunder-Ausstellung: Auf einmal sah das Jahrhundert vor Luther gar nicht mehr so finster aus, wie man sich das Mittelalter sonst vorstellte. Und eigentlich waren die großen Fragen, die dann Luther stellte, alle schon irgendwie sichtbar.
Auch in Leipzig. Die ganze Stadt schien bemüht, den richtigen Weg zur Frömmigkeit zu finden. Der Weg zu Luther war bereitet.
Rüdiger Ottos Spezialthema ist eher das 18. Jahrhundert, ein Jahrhundert, das wir heute eher mit dem Megathema Aufklärung in Verbindung bringen. 2009 hatte sich dem eine andere Ausstellung im Alten Rathaus gewidmet: „Erleuchtung der Welt“.
Was hat da also noch Religion zu suchen? War das überhaupt noch ein Thema?
Natürlich war es eins. Da muss man nur die Musik von Johann Sebastian Bach hören und ist mittendrin in diesem Jahrhundert, das augenscheinlich genauso wie das 15. ein Jahrhundert des Umbruchs war und der Suche nach einer neuen Frömmigkeit. Die Kirchen waren voll. Die Kirchen platzten aus den Nähten. Und das religiöse Leben in Sachsen hatte schon dadurch neue Brisanz bekommen, dass Friedrich August I. von Sachsen, genannt August der Starke, 1697 den katholischen Glauben angenommen hatte, um sich damit den Weg auf den Königsthron im katholischen Polen zu sichern. Eine Schrecksekunde für das Stammland des Protestantismus: Ein Katholik als König!
Deswegen hätte Rüdiger Otto auch die Jahreszahl 1697 als Ausgangspunkt nehmen können für diese Arbeit, die nun als Nr. 2 in einer neu gegründeten Schriftenreihe des Leipziger Geschichtsvereins erscheint. Der erste Band war Helfried Baus’ „Zwischen Reklamekunst und Gebrauchsgrafik“. Man sieht: Leipzig hat so viele Facetten, da wird den Forschern schlicht der Stoff nicht ausgehen.
Otto hat sich nun sehr akribisch der ganzen Kirchenorganisation in Leipzig angenommen. Immerhin war es eine prosperierende Stadt. Teilnahme an Gottesdiensten war selbstverständlich – selbst Leute wie Bach und Gottsched gingen regelmäßig zum Abendmahl. Mit Gottsched kennt sich Otto aus. Er war an der Edition des Briefwechsels von Gottsched beteiligt. Und mit diesem Hintergrundwissen wird natürlich auch deutlicher, wie sehr zumindest die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts auch eine der Suche nach dem richtigen Umgang mit Religion war. In Leipzig ein gar nicht leichtes Unterfangen, denn die Stadt pflegte ein gestrenges Luthertum und die Obrigkeit, die auch für die Besetzung der Pfarrstellen verantwortlich war, hatte ein strenges Auge auf alle Abweichungen.
Deswegen tat sich die Stadtelite auch schwer, als der spenersche Pietismus in der Bevölkerung Fuß fasste – und zwar vor allem bei den gebildeten Bürgern. Aber auch bei diesem Kapitel merkt man, dass sich die eigentlichen Schwerpunkte dessen, was die Leipziger an Kirche und Religion interessierte, längst verschoben hatten. Was auch mit der großen Ausbildungsstätte für Theologen, der Universität Leipzig zu tun hatte, aber auch mit der zunehmenden Zahl von Kirchen, in denen gepredigt wurde. Noch zu Gottscheds Zeiten etablierte sich ein regelrechter Kirchen-Tourismus, weiß Otto zu berichten, bei dem sich selbst Reisende einen Sport daraus machten, an einem Tag möglichst viele Prediger in verschiedenen Kirchen zu hören. Und das augenscheinlich auf einem hohen Niveau. Otto erwähnt eine regelrechte „Leipziger Predigerschule“, auch wenn sich im überlieferten Schriftgut nicht wirklich nachweisen lässt, worin sie sich von den „Schulen“ in anderen Städten unterschied. Aber diverse Berufungsverfahren neuer Pfarrer deuten darauf hin, dass auch der Rat großen Wert auf die Redegewandtheit der Kandidaten legte, ihr Auftreten und ihre Fähigkeit, die Bibel vor Publikum in lebendiger Weise darzulegen. Natürlich wurde auch der anständige Lebenswandel nicht vergessen.
Gerade das Jahrhundert der Aufklärung zeigt an vielen Stellen sehr strenge, fast asketische Vorstellungen von Moral und Lebensgestaltung. Es war kein einhellig in der Wolle gefärbtes Jahrhundert, sondern eins auch der heftigen geistigen Kämpfe in Sachen Moral und Religion. Und selbst der Rat veränderte immer wieder seine Berufungspolitik, schwenkte mal mehr zu strengster Orthodoxie, mal mehr zu modernerem Geist. Ganz mutig natürlich zum Ende des Jahrhunderts hin, als der beliebte Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (Denkmal in der Grünanlage vorm Hauptbahnhof) nicht nur inwendig die Nikolaikirche völlig umbauen ließ und das Bildungswesen auf Vordermann zu bringen versuchte, sondern mit Johann Georg Rosenmüller auch einen Mann nach Leipzig holte, der den Mut hatte, mit etlichen altertümlichen Regeln in Leipziger Kirchen zu brechen – und der sich damit wieder die Feindschaft streng orthodoxer Ratsmitglieder einhandelte.
Das erinnert wohl zu Recht an die Leipziger Gegenwart – auf jede mutige Neuerung, die schon ein, zwei Generationen später als völlig selbstverständlich gilt, erfolgt ein bissiger Rückschlag der Partei des Gewohnten, Althergebrachten. Man hört den erzürnten Ratsherren regelrecht wüten: „Wir lassen uns von so einem Dahergekommenen …“
Heute wird in solchen Fällen mit völlig falschen Wortungetümen wie „Gutmenschen“ und „Ewiggestrigen“ gearbeitet. Dass wir 200 Jahre später leben, heißt ja nicht, dass wir verständiger geworden sind.
Im Gegenteil.
Bach hatte je in seinen Streitzeiten mit dem Leipziger Rat ganz ähnliche Konflikte erlebt. Und selbst der eigentlich nur liebenswerte Dichter Gellert erlebte, wie seine innige Beziehung zu Gott den strengen Lutheranern in der Stadt ein heftiger Stein des Anstoßes war. Vielleicht gehört es zu den Trugschlüssen unserer Gegenwart, dass Leipzig immer eine hübsch homogene, neuerungsfreudige und fortschrittliche Stadt war. Dazu gab es einfach viel zu viele retardierende Momente, die den Gang der Entwicklung immer wieder aufhielten. Auch auf die Ankunft der Hugenotten reagierte die alte Leipziger Stadtgesellschaft anfangs sehr abweisend. Auch weil man durch ihren reformierten Glauben den eigenen strengen Protestantismus in Frage gestellt sah. Hier war es dann mal die Landesherrschaft, die vorsichtig und taktierend dafür sorgte, dass sich die Reformierten in Leipzig niederlassen und eine eigene Kirche aufbauen konnten.
Eine Generation später rannten die Leipziger selbst voller Neugier in die Gottesdienste der Reformierten – natürlich auch, weil der Prediger eine Wucht war. Wobei ein Aspekt deutlich wird, den Otto erst später im Buch aufgreift: Kirche spielte augenscheinlich auch für das gesellschaftliche Leben der Stadt selbst eine völlig andere Rolle, als es die bloße Glaubensfrage nahelegt. Das wird an der Wichtigkeit der richtigen Kleidung sichtbar, denn in der Kirche zeigte man sich ja, zeigte, was man hatte und zu was man es gebracht hat. Das Standesbewusstsein war streng ausgeprägt. Und selbst der Kirchenbesuch hing vom Geld ab, denn wer es sich leisten konnte, kaufte sich Sitzplätze oder ganze Familienlogen oder gar Begräbnisstätten. Etwas, was sich die Ärmeren und Bediensteten der Stadt nicht leisten konnten. Sie waren logischerweise die Ersten, die sich ganz offiziell beim Rat beschwerten, dass sie nicht mehr zu Gottesdiensten in die Kirchen eingelassen wurden.
Um es kurz zu machen – die Details der ganzen Geschichte muss sowieso jeder in Ottos Buch nachlesen: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert begann das Theater den Kirchen diese wichtige Rolle als Ort der gesellschaftlichen Repräsentanz abzulaufen. Und wahrscheinlich auch als Ort guter Unterhaltung. Denn gute Unterhaltung müssen die Prediger in den Leipziger Kirchen damals geboten haben. Selbst ihre im Druck gesammelten Predigten fanden in der Regel guten Absatz. Die Kirche war also nicht nur ein Ort, wo man sich über Moralvorstellungen und ihren Wandel immer wieder neu verständigte, sondern auch über Gesellschaft, Sitte und Stadtgespräche. Die „Aufklärung“ schaffte Kirche also nicht einfach ab, wie das einige Kombattanten heute gern suggerieren, machte auch nicht lauter Atheisten aus den Menschen, aber sie veränderte nachhaltig die Beziehungen der Menschen zum Glauben, zu Religion und Moral, ordnete sie in neue Diskussionsrahmen ein – denen sich dann auch die aufgeklärten Pfarrer und Theologen stellen mussten. Und auch stellten – manche zögernd, manche ablehnend, andere aber auch wieder mit revolutionärem Furor. Auch das kennt man ja: echte Feuerköpfe, die immer gleich Alles wollen und auch gleich mal Alle vor den Kopf stoßen.
Und was lernt man am Ende? Wer Reformen will – wie Rosenmüller – braucht starke Partner. Manchmal wird über Jahre über Themen gestritten, die die nächste Generation schon längst abgehakt hat. Und oft genug werden die eigentlichen Veränderungen von den Streithähnen gar nicht wahrgenommen. Da war das 18. Jahrhundert wohl gar nicht anders als das 21.. Und was hat es mit dem Jahr 1815 auf sich? Wurden die Leipziger Religions-Streitfragen vielleicht gar auf dem Kongress in Wien geklärt?
Gar nicht. Es ist nur das Todesjahr von Rosenmüller. Und als er starb, war die eigentliche Trennung in aller Stille eigentlich schon geschehen. Um dazu mal den letzten Satz von Rüdiger Otto zu zitieren: „Spätestens mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war auch in Leipzig die Zeit der Einheit von Christen- und Bürgergemeinde vorbei.“
Rüdiger Otto Religion und Stadt, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2016, 12,80 Euro.
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