So ins Detail ist auch der Mitteldeutsche Verlag mit seinen Wanderführern noch nicht gegangen. Bisher wurden in dieser Reihe eher größere Landschaften wie das Mansfelder Land, Halle oder Leipzig und Halle gleich im Doppelpack porträtiert. Sozusagen Kraftpakete für Leute, die auf einer Tour ganz viel auf einmal sehen wollen. Aber auch hier gilt: Wer zu Fuß geht, erlebt mehr.
Und vielleicht wandeln sich ja tatsächlich die Zeiten und die touristische Allesfresserei hat so langsam ihren Höhepunkt überschritten. Und es kehrt eine Art des Welterkundens zurück, wie sie vor 100 Jahren mal das Normale war – bevor der Massentourismus erfunden wurde und Menschen begannen, sich nur noch in silbernen Bussen durchs Land transportieren zu lassen. Als wäre draußen alles Serengeti.
Das hat auch zum Niedergang einstiger beliebter Wanderregionen geführt. Die Ströme wurden umgelenkt – bei den Hotspots sind riesige Abstellflächen für die Touristenbusse entstanden, die Massen drängen sich durch schmale Altstadtgassen. Dafür herrscht in Tälern, Wäldern, auf Wanderwegen einsame Stille. Herrliche Ruhe, sagt sich der einsame Wandersmann. Auch in Thale, auf den ersten Blick einer der Hotspots im organisierten Harztourismus. Aber wer hinkommt, sieht das Gedränge nur an den Seilbahnstationen, Verkaufsbuden und Essensausreichen. Und wer nicht mit der Seilbahn auf den Hexentanzplatz kommt, wird mit Bussen raufgeschafft. Und erlebt nur den lauten Lärm. Und sieht nichts. Was tun?
Abnabeln. Selber laufen. Das kostet zwar ein bisschen Schweiß, dauert auch etwas länger. Aber es lohnt sich. Man sieht nicht nur mehr von einer sagenhaften Landschaft, hat vielfältigere Ausblicke, man ist auch viel dichter dran an den Sagen, die nun einmal in Thale besonders dicht beieinander raunen. Und das Besondere an diesem Wanderführer ist: Ute Fuhrmann und Rainer Vogt lassen die Mitwandernden sehen und erkunden, wie diese Sagen entstanden sein könnten. Beide sind auch ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger, haben auch schon ähnliche Bücher zum Thema vorgelegt, kennen sich also aus. Mit den Bodenfunden und den vielen Grübeleien der Altertumskundler genauso wie mit den Sagen und ihren zumindest schriftlich sicheren Überlieferungen.
In der Schule wird einem ja oft beigebracht, dass Märchen und Sagen etwas Uraltes sind, Geschichten quasi aus der Vorzeit der schriftlichen Gesellschaft. Das stimmt aber nur zum Teil. Denn mündlich überlebt haben die originalen Volkssagen und Volksmärchen nur bis in die frühe Neuzeit, nur so lange, wie sie tatsächlich in Familien und Heimwerkerstuben immer weiter erzählt wurden. So lange mündliche Überlieferung eben überlebte. Die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm sind ja vor 200 Jahren nicht ohne Grund losgezogen und haben gesammelt (oder sammeln lassen), was noch greifbar war an diesen alten, zumeist stark regional gebundenen Überlieferungen. Sie wussten, dass das alles gerade verloren ging – auch unter dem Druck der zunehmend schriftlich fixierten Sagen und Märchen.
Und wenn Fuhrmann und Vogt die frühesten schriftlichen Funde erkunden, dann landen sie bei Autoren des 16., 17. Jahrhunderts – und stoßen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Versionen ein und derselben Geschichte. Etwa von der berühmten – aber ursprünglich namenlosen- Prinzessin, die dereinst in grauer Vorzeit auf der Flucht vor einem gewissen Riesen/Ritter Bodo auf der Rosstrappe ihrem Pferd die Sporen gab und einfach mal übers Bodetal setzte. Oder andersherum, vom Tanzplatz aus rüber zur Rosstrappe.
Dass in den Sagen ein uralter Kern steckt, der wohl auch auf reale Geschichte verweist, da sind sich die Forscher recht einig. Aber was genau dieser Kern ist, das ist kaum mehr fassbar. Haben die Menschen, die Jahrhunderte hier lebten, Erinnerungen bewahrt an tatsächliche historische Ereignisse? Haben sie diese nur immer weiter abgewandelt und ihrer eigenen erlebten Gegenwart angepasst? Möglich. Möglich ist auch, dass sie die vorgefundenen Spuren in der Landschaft auf ihre Weise neu interpretierten: uralte, bemooste Steinwälle etwa, aufgetürmt aus gewaltigen Steinen. Die Mauern können nur Riesen gebaut haben. Oder der Teufel.
Wobei gerade diese Stelle sehr hübsch ist, an der Fuhrmann und Vogt auf das eigentliche Alter von Teufel und Hexen zu sprechen kommen: Sie sind absolut modernes Inventar und kamen erst mit der Christianisierung und dem aufkommenden Teufels- und Hexenwahn der frühen Neuzeit in die deutsche Sagenwelt. Möglicherweise als Ersatz für frühere Helden, die noch direkt zur germanischen Sagenwelt gehörten. Da und dort sind die Spuren ja auch im deutschen Märchen noch sichtbar. Nur: Den Zeitpunkt, als die alten Mythen umgeschrieben und umgedeutet wurden, den haben auch die Grimms verpasst. Die eifrig sammelnden Pfarrer des 17. und 18. Jahrhunderts ebenfalls.
Wie kompliziert es ist, den Ursprüngen der heute weithin bekannten Sagen von Rosstrappe, (Hexen)Tanzplatz und Teufelsmauer auf die Spur zu kommen, machen die beiden Autoren im zweiten Teil des Büchleins deutlich, wo sie sich mit drei der erzählten Sagen etwas eingehender beschäftigen – nicht nur was die mögliche Quellenlage betrifft, sondern auch die landschaftliche Kulisse. Denn einiges hat sich verändert – auf sagenhafte Weise. Und das oft nur (man kennt es ja aus dem heutigen Journalismus), weil die Autoren einfach fröhlich bei anderen abgeschrieben haben, manches falsch abschrieben oder falsch zuordneten, sich den Weg an den Ort des Geschehens aber sparten. Was zum Beispiel zur Folge hatte, dass der Name der ursprünglichen Teufelsmauer auf der Homburg irgendwann im 18. Jahrhundert wanderte und heute auf die natürlich ebenfalls sehr eindrucksvolle Sandsteinrippe vor den Ausläufern des Ostharzes angewendet wird. Was natürlich dazu führte, dass zu dieser neueren Teufelsmauer auch neuere Teufelssagen erfunden wurden.
Ein gut Teil dessen, was einem in Schule und anderswo als uralter Sagenschatz verkauft wird, ist nur der Phantasie eines fabulierfreudigen Pfarrers oder sonstigen Ortschronisten entsprungen. Während ursprüngliche Sagen ihren Ort und ihren Kern verloren haben.
Die Homburg mit ihrem Wallsystem und der einstigen Teufelsmauer (die irgendein in Geschichte völlig verdrehter Narr dann in Sachsenwall umbenannt hat), kann man heute noch in der Nähe von (Hexen-)Tanzplatz und Bergtheater besichtigen. Mit Sachsen hat das Ganze natürlich nichts zu tun. Die Anlage entstand einige Jahrtausende vor Beginn der Zeitrechnung. Und bis ins 19. Jahrhundert hatte sich hier auch noch ein alter Steinkreis erhalten, der aber genauso verschwunden ist wie die 1.000-stufige „Hexen“-Treppe, die aus dem Tal hinauf zum Tanzplatz führte. Das 19. Jahrhundert war in Bezug auf den Umgang mit diesen alten Relikten ein einziges Jahrhundert der Vandalen.
Was übrigens auf der anderen Seite des Tales, an der Rosstrappe, genauso geschah. Hier scheint man mit von Altertum besoffener Gründlichkeit einen alten Siedlungs- oder Begräbnisplatz systematisch geplündert zu haben. Das Ergebnis ist, dass selbst diese Funde heute sagenhaften Charakter haben. Bis hin zum Skelettfund nahe der heutigen Gaststätte „Königsruh“ im Bodetal. Da hatten die zunehmend neugierigen Besucher des 19. Jahrhunderts wohl eine der reichsten Fundstätten zu uralten Wohn-, Kult- und Begräbnisplätzen vor sich – und sie haben alles geplündert, verstreut und damit unauffindbar gemacht.
Und so bleibt auch das geschichtlich Belegbare im Nebel, ungreifbar. Aber da die beiden ihre Literatur kennen, haben sie ihre Wanderung auch mit vielen Querverweisen auf ähnliche Sagen in anderen deutschen Regionen verbunden, so dass da und dort durchaus eine Ahnung aufkommt, in welchem „heidnischen“ Kontext die Ursprungserzählungen zu Tanzplatz, Crysol und Jungfernsprung mal gestanden haben könnten, als die alten vorchristlichen Bräuche, Götter, Kultplätze und Erzählungen noch im Volksmund präsent waren. Es waren ja nicht unbedingt die eigentlichen Erzähler, die die alten Geschichten christianisiert und immer mehr romantisiert haben. Es waren oft die Aufschreiber, die sich beim Umdeuten befleißigten.
Inszenierte Geschichte, könnte man sagen. Und die gibt es ja am Hexentanzplatz mit der Walpurgishalle auch zu besichtigen, wo sich die gemalten Interpretationen des Goethischen Faust direkt mit der nationalen Rückbesinnung auf eine Art wagnerisches Germanentum verbinden. Eindrucksvoll. Keine Frage. Aber auch in dieser Mischung eher so verwirrend wie der Leipziger Historismus. Und eigentlich am falschen Ort: Ursprünglich sollte das Blockhaus ja sogar auf dem Brocken stehen. Nun steht es hier – mitten in einem Ort, der kulturell 3.000, 4.000 Jahre älter ist.
Dass die wuchtige Landschaft selbst auch damals schon die Phantasie der Menschen angeregt haben muss, wird jedem klar, der mit den beiden Autoren auf die vier Wanderrouten geht, die sie detailliert schildern. Zu 90 Prozent ist man dabei auf Pfaden und Steigen unterwegs, auf denen einen kein lärmendes Ausflugvolk stört. Es geht steil bergauf zu atemberaubenden Aussichten. Es geht auch steinig bergab in den Talkessel, wo die Bode mal romantisch daliegt, weiter oben aber tost und gurgelt und rauscht. Es gibt auch einen Rundweg durch Thale mit dem ehemaligen Kloster Wendhausen, dem Hessi-Denkmal, dem Weiberborn und dem Lügenstein. Da ist man dann auf der frühmittelalterlichen Route unterwegs, begegnet einer möglichen berühmten Nonne, aber auch dem mittelalterlichen Gerichtswesen.
Wer die Geschichten zu den Orten kennt, sieht einfach mehr und seine Phantasie wird angeregt. Und dasselbe gilt auf der Route zur Teufelsmauer zwischen Thale und Weddersleben, jener eindrucksvollen Sandsteinrippe, die auch schon längst verschwunden wäre, hätte die etwas wissenschaftlicher denkende Obrigkeit im 19. Jahrhundert den Bürgern vor Ort das Abtragen der Sandsteine nicht rigoros untersagt. Heute stehen sie als wohl ältestes Naturschutzdenkmal noch da und bieten einer Flora Zuflucht, die einzigartig ist. Wer hier wandert, kommt immer auf seine Kosten. Da und dort begegnet er dem teils hintersinnigen Versuch – etwa auf dem Mythenweg – mit dem ganzen Kuddelmudel aus Sagen, Legenden und Mummenschanz künstlerisch umzugehen.
Und auch die notwendigen Warnhinweise fehlen nicht, denn die geröllige Gegend setzt sich gern auch mal in Bewegung, so dass der eine oder andere Steig und Weg zeitweise gesperrt ist. Man vergisst ja so leicht, dass diese Gegend erst im 19. Jahrhundert mit einigen technischen Eingriffen überhaupt erst für unbegleitete Wanderer erschlossen wurde. Oder inszeniert – auch das gehört dazu. Wer’s weiß, zuckt die Schultern und lässt den bunten Schnickschnack hinter sich zurück, verlässt die überlaufenen Abladeplätze und schlägt sich auf den abenteuerlichen und überhaupt nicht langweilen Wege auf und ab. Belohnung garantiert. Diese Gegend hat eine Inszenierung eigentlich nicht nötig. Aber das erfährt man nur, wenn man selber losläuft.
Ute Fuhrmann, Rainer Vogt Rosstrappe, Teufelsmauer und der Stein der Weisen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 9,95 Euro.
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